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Das Hirn ist ein Gewohnheitstier

Der Wahrnehmungspsychologe Ivo Kohler schrieb mit seinen „Innsbrucker Brillenversuchen“ Wissenschaftsgeschichte. Wenn wir seine Experimente weiterdenken, kommen wir zu einem interessanten Ergebnis: Manchmal lernen wir, indem wir etwas Neues erfahren. Und manchmal lernen wir, indem wir uns an etwas gewöhnen. Beides ist wichtig. Von Florian Aigner

Normalerweise setzt man Brillen auf, um besser zu sehen, doch Ivo Kohler hatte andere Pläne. Seine Brillen waren nicht dazu da, die Wahrnehmung zu schärfen. Im Gegenteil: Sie sollten verzerren, verdrehen und verwirren.
Angetrieben wurde Ivo Kohler von einer der allergrößten Fragen überhaupt: Wie hängt die Wirklichkeit mit unserer Wahrnehmung zusammen? Was passiert eigentlich, wenn wir uns mit Hilfe unserer Sinne ein Bild von der Welt machen?
Wenn ein rotgetigerter Kater auf dem Schreibtisch sitzt und Licht vom Fell des Katers in unser Auge gelangt, dann nehmen wir einen rotgetigerten Kater wahr. Und wenn ein Klavierdreiklang erklingt und die Schallwellen in unser Ohr gelangen, dann nehmen wir einen Klavierdreiklang wahr. Es gibt eine bestimmte Zuordnung zwischen der Umwelt und unseren inneren Wahrnehmungen – aber wie starr sind diese Zuordnungen? Können sie sich im Lauf der Zeit verändern – und wenn ja, wie?

Die Innsbrucker Brillenversuche
Um das zu erforschen, führte Ivo Kohler in den 1940er und 1950er Jahren an der Universität Innsbruck Experimente durch, die als „Innsbrucker Brillenversuche“ oder „Innsbruck Studies“ berühmt wurden: Aus unterschiedlichen Prismen, Spiegeln und anderen optischen Elementen stellte er sonderbare Spezialbrillen her, mit denen man die Wirklichkeit verzerrt wahrnehmen konnte: Die sogenannte „Umkehrbrille“ vertauschte Oben und Unten oder Rechts und Links, andere Brillen ließen gerade Linien gekrümmt oder schräg gekippt aussehen.
Die Versuchspersonen – auch Ivo Kohler selbst zählte dazu – hatten nun die Aufgabe, mit diesen seltsamen Verzerrungsbrillen ihrem ganz normalen Alltag nachzugehen. Das war zweifellos nicht einfach: „Die sonst so wohlbekannteste Form scheinen [sic!] in Auflösung begriffen und setzen sich in neuen, noch nie gesehenen Proportionen wieder zusammen“, schrieb Kohler am ersten Tag seines Experiments. Er war ständig überrascht, wie „irgendeine Hauswand überhängend schräg zur Gasse abfiel, ein gesehener und mit dem Blick verfolgter Kraftwagen sich verbog, die Straße wie eine Wasserwoge abwärts glitt, Häuser und Bäume umzufallen begannen“.
Doch dieses Gefühl wandelte sich im Lauf der Zeit. Kohler und die anderen Versuchspersonen lernten, mit dem verzerrten Bild umzugehen. Irgendwann waren die anfangs so verwirrenden Störungen kaum noch zu bemerken. Und nach etwa vier Monaten schließlich schrieb Kohler: „Die Welt ist trotz Brille und Prisma zu meiner alten geworden.“
Unser Gehirn ist offenbar in der Lage, selbst radikale Eingriffe in unsere Wahrnehmungen, wie das Verzerren oder Spiegeln unseres Blickfelds, nach einer gewissen Gewöhnungsphase selbstständig auszugleichen. Das ist allerdings keine Fähigkeit, die wir nur dann benötigen, wenn uns von kreativen Wahrnehmungspsychologen wie Ivo Kohler ausgeklügelte Spezialbrillen aufgesetzt werden. Diese Fähigkeit nutzen wir ununterbrochen, unser ganzes Leben lang.

Ich seh’ etwas, was ich nicht seh’
Das menschliche Sehen funktioniert ganz anders als eine Kamera. Bei einer Kamera fällt das Licht durch optische Linsen auf einen Sensor, dort werden die Beleuchtungswerte gemessen und schließlich als Zahlen abgespeichert. So entsteht eine Datensammlung – aber noch keine Wahrnehmung.
Auch in unserem Auge fällt Licht durch eine Linse und wird dann an einem Sensor gemessen – nämlich an unserer Netzhaut. Aber all das, was unsere Wahrnehmung wirklich ausmacht, entsteht erst danach, in unserem Gehirn. Würde eine Kamera ein Bild liefern, wie es auf unserer Netzhaut ankommt, würden wir sie wohl dringend umtauschen wollen: Das Bild ist fehlerhaft und großteils unscharf. Der Glaskörper im Auge hat Trübungen, Blutgefäße im Auge stören die Sicht. An einer bestimmten Stelle der Netzhaut können wir überhaupt kein Licht wahrnehmen – dort, wo der Sehnerv ansetzt, haben wir nämlich keine Lichtrezeptor-Zellen. Das ist der sogenannte „blinde Fleck“.
Richtig scharf sehen wir nur in einer erstaunlich kleinen Region unseres Gesichtsfelds: Jedes Auge deckt einen Sehwinkel von gut 100 Grad ab, doch nur aus einem kleinen Winkel von ungefähr zwei Grad fällt Licht auf die sogenannte Fovea, jene Region auf unserer Netzhaut, auf der die Sehzellen besonders eng aneinandersitzen. Nur dort erreicht unser Auge die höchste Auflösung. Wenn wir den Arm ausstrecken und den Daumen fixieren, dann füllt der Daumen ungefähr die Fovea aus. Er wird dann optimal abgebildet, überall sonst ist das Bild vergleichsweise unscharf.
Doch nichts davon nehmen wir wahr. Es gibt kein störendes Loch in unserer Sehwahrnehmung, das durch den blinden Fleck auf unserer Netzhaut entsteht. Niemand von uns hat das Gefühl, außerhalb des gerade fokussierten Punktes unscharf zu sehen. Trübungen, Schatten und Imperfektionen in unserem Auge sind uns zum Glück meistens nicht bewusst. In den Daten, die unser Gehirn von unserem Auge geliefert bekommt, sind all diese Fehler zwar enthalten, aber unsere Wahrnehmung, das Bild in unserem Kopf, ist frei von diesen Fehlern. Mit bemerkenswerter Qualität und hohem Rechenaufwand erzeugen wir im Gehirn ein Bild von der Welt – und Fehler, die offenbar nichts mit der wahren Welt zu tun haben, werden in dieses Bild in unserem Bewusstsein einfach nicht eingebaut.

Korrektur durch Gewöhnung
Ähnlich verhält es sich mit den künstlichen Wahrnehmungsfehlern, die von Ivo Kohlers Verzerrungsbrillen verursacht werden: Die Versuchsperson interagiert ununterbrochen mit der Welt. Sie lernt daher durch Erfahrung, dass gekrümmt aussehende Linien in Wahrheit gerade sind. Sie weiß, dass der Himmel oben ist und nicht unten, auch wenn die Umkehrbrille das Gegenteil vorgaukelt. Und irgendwann, wenn sich die Versuchsperson an diesen Widerspruch gewöhnt hat, dann ist der Widerspruch verschwunden.
Daher ist es vielleicht auch nicht ganz korrekt zu sagen: „Wenn man eine Umkehrbrille trägt, ist alles verkehrt – aber das Gehirn dreht das Bild wieder zurück, sodass es wieder richtig wahrgenommen wird.“ Besser ist vielleicht die Sichtweise: Das Gehirn lernt, mit den gespiegelten Bildern umzugehen, und irgendwann wird die Tatsache, dass die Bilder gespiegelt sind, so gewöhnlich und banal, dass sie nicht mehr ins Bewusstsein weitergeleitet wird. Und wenn wir uns der Spiegelung nicht bewusst sind, dann ist sie nicht da – genauso wenig, wie unser blinder Fleck „da“ ist, solange wir ihn nicht bewusst erleben. Die Welt fühlt sich wieder normal an, genau wie Kohler das selbst beschrieben hat.
Dasselbe lässt sich natürlich auch bei anderen Sinneseindrücken beobachten: Ununterbrochen spüren wir eigentlich die Kleidung an unserer Haut, aber in unsere bewusste Wahrnehmung gelangt dieses Gefühl nur in Ausnahmesituationen, etwa wenn der neue Rollkragenpullover schrecklich am Hals kratzt. Unser Ohr sendet ein gewisses Rauschen ans Gehirn, das als bedeutungslos verworfen wird. Jede Wohnung hat einen charakteristischen Geruch – doch wir nehmen ihn nach kurzer Zeit nicht mehr bewusst wahr.

Zellen, Terzen und Dreiklänge
Kein Zweifel: Unser Gehirn ist ein Gewohnheitstier – und zwar auf mehreren unterschiedlichen Ebenen: Das beginnt bereits beim Verarbeiten elektrochemischer Signale, die Nervenzellen untereinander austauschen. Wenn eine Zelle einen elektrischen Puls aussendet, kann sie dadurch eine Nachbarzelle aktivieren. Und wenn beide Zellen häufig zusammen aktiv sind, kann sich dadurch die Verbindung zwischen ihnen verstärken. Je häufiger das elektrische Feuern der einen Zelle zum elektrischen Feuern der anderen Zelle führt, umso effizienter wird die Übertragung des Pulses, und umso leichter erregt die eine Zelle die andere. Man könnte sagen: Die Zellen gewöhnen sich aneinander. So laufen in unserem Gehirn Lernprozesse ab.
Aber auch unser Denken im Ganzen, unsere Vorlieben und Gefühle passen sich an – und zwar an die täglich erlebte Umwelt. So teilen wir etwa in der Musik seit Jahrhunderten die Intervalle in unterschiedliche Kategorien ein: auf der einen Seite die konsonanten, wohlklingenden Intervalle, auf der anderen Seite die dissonanten Intervalle, die eher unangenehm klingen oder für Unruhe und Unausgeglichenheit stehen.
Das lässt sich in Zahlen fassen: Schwingungen, die in einem einfachen Zahlenverhältnis stehen, klingen konsonant – etwa die Oktave, zwei Töne mit einem Schwingungsverhältnis von eins zu zwei. Oder die Quinte – mit zwei zu drei. Die kleine Sekunde hingegen, mit einem Schwingungsverhältnis von 256 zu 243, klingt ziemlich dissonant und eher schräg.
Aber gibt es eine eindeutige Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz? Offensichtlich nicht: Die Terz (große Terz: vier zu fünf, kleine Terz: fünf zu sechs) galt vor Jahrhunderten noch als dissonantes Intervall. Heute empfinden wir den Dreiklang – zwei aufeinandergestapelte Terzen – fast als Inbegriff des Wohlklangs. Wie konnte das passieren? Die Schwingungen sind die gleichen geblieben, auch die Biologie des menschlichen Gehirns hat sich in dieser historisch gesehen kurzen Zeit nicht geändert. Aber die Musikgeschichte hat sich weiterentwickelt, und wir haben uns daran gewöhnt.

Fähigkeit, Ungewöhnliches normal zu finden
Es ist wie mit Ivo Kohlers Umkehrbrille: Das Bild, das seinen Augen präsentiert wurde, war am ersten und letzten Tag seines Experiments das gleiche. Doch während ihm dieses Bild am ersten Tag mit unübersehbarer Heftigkeit die Zusatzinformation „verkehrt herum!“ ins Bewusstsein schrie, verstummte diese Meldung im Lauf der Zeit. Die Verkehrtheit des Bildes wurde irgendwann nicht mehr mitkommuniziert – und somit war nichts mehr verkehrt.
Bei der Terz war es wohl genauso: Im Bewusstsein eines Musikers aus dem Mittelalter hätte sich wohl die Zusatzinformation „Dissonanz“ ins Bewusstsein geschoben. Exakt dieselben Schallwellen lösen diese Assoziation in unseren Köpfen aber nicht mehr aus. Wir sind mit der Terz aufgewachsen, wir finden daran nichts Ungewöhnliches.
Und vielleicht ist genau das die Fähigkeit, die uns Menschen ausmacht: die Fähigkeit, ungewöhnliche Dinge normal zu finden. Unsere Spezies stammt aus Afrika, aber wir haben die ganze Welt besiedelt. Sogar Regionen am Polarkreis, wo wir nur überleben können, weil wir Kleidung entwickelt haben, schützende Behausungen und wärmende Energiequellen. Das ist für uns normal. Wer in Grönland aufwächst, hat nicht das Gefühl, in einen Ausnahmezustand hineingeboren worden zu sein.
Wir finden es normal, in verwirrend großen Gemeinschaften zusammenzuleben, in Städten, umgeben von Menschen, die wir noch nie gesehen haben. Wir finden es normal, auf andere Leute Rücksicht zu nehmen, auch wenn wir sie nie mehr wiedersehen und sie sich niemals revanchieren können. Wir essen Dinge, die unsere Vorfahren nicht kannten, wir leben länger, als man sich das vor Jahrhunderten vorstellen konnte, wir betrachten Elektrizität, Telefone und Computer als völlig selbstverständlichen Teil unseres Lebens – oder fast schon als Erweiterung unseres Körpers.

Wissenschaft: Auf zu neuen Gewohnheiten!
Was für uns gewöhnlich geworden ist, können wir manipulieren, verwenden und in unseren Alltag einbauen. So können wir Probleme lösen und in Gedankenwelten vordringen, für die uns die Evolution eigentlich gar nicht ausgerüstet hat. Erst dadurch wurden Wissenschaft und Technologie überhaupt möglich.
Ein Extrembeispiel dafür ist die merkwürdige Welt der Quantenphysik: Vor etwa hundert Jahren untersuchte man die Naturgesetze, die für winzige Teilchen gelten. Und einige der klügsten Menschen unseres Planeten waren völlig verblüfft: Diese neu entdeckten Gesetze erschienen ungewohnt, verwirrend, verrückt.
Wohlbekannte Selbstverständlichkeiten wurden von den neuen Teilchen-Regeln plötzlich in Frage gestellt: Ein Stein, den wir in hohem Bogen in den Teich werfen, hat in jedem Augenblick einen ganz bestimmten Aufenthaltsort. Wir können seine Bahn mit einer Hochgeschwindigkeitskamera exakt bestimmen. Ein Quantenteilchen hingegen benimmt sich völlig anders: Es hat keinen bestimmten Aufenthaltsort. Es kann sich zur selben Zeit in gleichem Ausmaß an unterschiedlichen Orten aufhalten. Es muss sich auch nicht wie der Stein in eine ganz bestimmte Richtung bewegen. Es benimmt sich manchmal eher wie die kreisrunde Welle, die der Stein im Teich erzeugt: Sie kann sich in alle Richtungen gleichzeitig ausbreiten.
Es war eine schwere Verzerrung des damaligen Weltbildes, eine schmerzhafte Dissonanz in den Köpfen der Physiker. Doch heute werden die merkwürdigen Gesetze der Quantenteilchen in den Physikinstituten der Welt nicht mehr als Problem gesehen. Was den größten Genies vor hundert Jahren schlaflose Nächte bereitete, ist für die jungen Studenten von heute völlig normal. Nicht weil sie klüger sind. Auch nicht, weil sie ein umwälzendes Erleuchtungserlebnis hatten, in dem ihnen der wahre Sinn der Quantenphysik offenbart wurde. Der Grund ist einfach, dass sie mit den neuen Ideen aufgewachsen sind. Sie haben sich daran gewöhnt. Vielleicht sollte man sogar sagen: Wir alle gemeinsam, als Menschheit, haben uns daran gewöhnt. Die verrückte Seltsamkeit der Quantenphysik wurde nicht entschlüsselt oder wegerklärt, wir nehmen sie bloß nicht mehr als derart seltsam wahr.
Manche Dinge lernt man, indem man neue Fakten verkündet bekommt: Welche Masse ein Kohlenstoffatom hat, kann man in einer Tabelle nachsehen und auswendig lernen. Aber andere Dinge lernt man wie eine Fremdsprache oder wie das Fahrradfahren: Man probiert einen Gedanken aus, verwendet ihn und kombiniert ihn mit anderen Ideen. Und irgendwann ist er normal. Unserem Bewusstsein wird keine Verzerrung, keine Verdrehung, keine Dissonanz mehr gemeldet. Wenn
heute eine Physikerin mit einer Quantenchemikerin über das Verhalten von Molekülen plaudert, dann sind die merkwürdigen Gesetze der kleinen Teilchen für beide etwas völlig Selbstverständliches. Sie haben sogar ein intuitives Verständnis für diese Gesetze – ähnlich wie ein geübter Umkehrbrillenträger den Kopf intuitiv in die richtige Richtung wendet, auch wenn seine Brille ihm die Welt spiegelverkehrt präsentiert.
Jeder von uns hat diese Fähigkeit, sich an Neues zu gewöhnen und konstruktiv damit umzugehen. Diese Fähigkeit ist es, was unsere Spezies so besonders macht. Genau dadurch haben wir es geschafft, Orchestermusik hervorzubringen, Städte zu bauen oder Roboter auf fremden Planeten landen zu lassen. Und darauf können wir auch einmal stolz sein.

 

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