zurück zur Startseite

Heiterkeit und Wehmut

Volksmusik entsteht aus der „Mitte“ oder der „Tiefe“ eines Volkes, heißt es bis heute vielerorts. Was für ein Unsinn! Berthold Seliger erzählt eine kleine Geschichte der erfundenen Volksmusik, auch „imaginäre“ Folklore genannt – von Johann Gottfried Herder über Béla Bartók bis Werner Pirchner.

Es war der 28. Februar 1993. Die französische Band Bratsch spielte das allererste Mal überhaupt in Deutschland, nämlich eine der legendären, vom WDR veranstalteten und live übertragenen „Matineen der Liedersänger“ in einem Bochumer Museum. Das war eine Reihe von anspruchsvollen und geradezu legendären Sonntagmorgen-Konzerten, die seit 1974 von der Redaktion Volksmusik (die in den 90er Jahren sinnvollerweise in Redaktion Musikkulturen umbenannt wurde) des WDR veranstaltet und längst eingestellt wurde – so „scheißig“ (Goethe!) sind sie, die Zeiten … Bratsch hoben mit Nane Tsora an, dem traditionellen Lied der Roma, und es war ein magischer Moment von ungeheurer Intensität und Schönheit, den diejenigen vermutlich nicht vergessen werden, die damals dabei waren, ob live in Bochum oder am „Weltempfänger“ zuhause. Sie nannten ihre Alben damals Notes de voyages (1988), Sans domicile fixe (1990), Transports en commun (1991) oder Correspondances (1994) – ein deutlicher Hinweis also auf prinzipielle Heimatlosigkeit, auf Reisetätigkeiten und auf traditionelle Wandermusikanten wie die Klezmorim, Ròm oder Sinte, die musikalische Inspirationen auf ihren Reisen oder bei Begegnungen mit anderen Musikern gewonnen haben. Ausdrücklich bezogen sich Bratsch seinerzeit auf die Musik der „Zigeuner“ Zentraleuropas sowie auf jiddische Traditionen, die sie etwa aus der Beschäftigung mit dem amerikanischen Crooner und Radiostar österreichischer Herkunft Theodore Bikel herausfilterten. Bikel musste 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland vierzehnjährig nach Palästina fliehen, arbeitete in einem Kibbuz und an Theatern in Tel Aviv, studierte an der Londoner Royal Academy of Dramatic Art, wurde von Laurence Olivier für eine Produktion von Endstation Sehnsucht entdeckt und ging 1955 nach New York, wo er einen Plattenvertrag von Elektra Records erhielt, für die er jiddische, hebräische und russische Volkslieder aufnahm. Er wurde mit Pete Seeger zum Mitbegründer des Newport Folk Festivals, wo er 1960 auch selbst auftrat. Bikel spielte in etlichen Filmen, unter anderem Flucht in Ketten (1958), wofür er eine Oscar-Nominierung erhielt, oder 1971 in Frank Zappas 200 Motels, war Präsident einer Schauspielergewerkschaft und Vizepräsident des American Jewish Congress und nahm eine Vielzahl von Schallplatten auf. Das Besondere war, dass er seine Produktionen bevorzugt von Musikern aus der jeweiligen Region einspielen ließ. Es ging ihm um eine Mischung von Musikkulturen, wie sie für Zentraleuropa und speziell den Balkan selbstverständlich war.
Um auf das Bratsch-Konzert im Jahr 1993 zurückzukommen: Der Moderator der WDR-Sendung, ein freier Mitarbeiter, war nach einem Hintergrundgespräch mit der Gruppe einigermaßen perplex und sprach von einer Art Fake – das seien ja gar keine „Zigeuner“! Der gleiche Vorwurf wurde Bratsch wenig später im, nomen est omen!, „Folkmichel“ gemacht. Es sind immer noch die Deutschen, die entscheiden, wer ein „echter“ Ròm oder Sinto ist … Die Journalisten hatten ungewollt etwas von der Idee, der die Bratsch-Musiker nachhingen, verstanden und gleichzeitig eben überhaupt nichts davon: Nie wollten Bratsch als „Zigeuner“-Musiker gelten oder einfach Musik der Ròm und Sinte nachspielen – im Gegenteil, vermeintliche Authentizität war ihnen ein Graus, ihnen war es vielmehr darum zu tun, eine gewissermaßen „prätraditionelle“ Musik zu entwickeln. Sie glaubten, „dass die Musik, die sie spielen, eines Tages von Musikologen für eine Spielart traditioneller Musik gehalten wird“ (Trouillet 1993). Es ging ihnen keineswegs um originalgetreue Reproduktionen alter Stücke, sie gehörten nie zu den vielen Bands, die vorhandene alte Musik im vermeintlich „traditionellen“ Stil nachspielen – vielmehr schufen sie vor allem eigene Kompositionen, die dem ursprünglichen, emotionalen Gehalt der Musik des Balkans, der osteuropäischen Shtetels, armenischer oder neapolitanischer Gesänge verbunden sind – entlang der Herkunft und der langjährigen Interessen der fünf Bandmitglieder also.

Einige Jahre später gelangte aus Frankreich ein neuer Begriff für derartige Musik in Umlauf: die „imaginäre Folklore“. Die Musikerinitiative ARFI (Association à la Recherche d’un Folklore Imaginaire) in Lyon bediente sich dieses schönen Begriffs für eine „erfundene“ neue Volksmusik und übertrug ihn vor allem auf eine bestimmte Version des Jazz – eine Musik, in der Alpenländisches auf Duke Ellington oder Ornette Coleman und afrikanische Musik auf die des Balkans, auf Kurt Weill, auf osteuropäischen Klezmer oder auf etwas völlig Neues, Ungehörtes treffen kann, alles verbunden in den Köpfen, Herzen und, ja, in den Tanzbeinen der Musikerinnen und Musiker und der Zuhörerschaft und so weit weg von dumpfer Volkstümelei wie der Mars vom Zillertal. Der Begriff der imaginären Folklore geht auf den ungarischen Komponisten Béla Bartók zurück; so steht es jedenfalls bei Wikipedia, und so schreiben es alle von allen ab. Verifizierbar ist der Begriff in Bartóks umfangreichen Schriften meines Wissens jedoch nicht. Er findet sich lediglich in einem Buch von Serge Moreux über den Komponisten aus dem Jahr 1949. Moreux hatte Bartók 1938 persönlich getroffen und interviewt und bezeichnete die „idealisierte Bauernmusik“, von der Bartók schon 1925 in seiner umfangreichen Studie „Das ungarische Volkslied“ sprach, als „folklore imaginaire“, eben als „imaginäre Folklore“. Es bleibt allerdings unklar, ob Bartók in dem Gespräch mit Moreux diesen Begriff selbst gebraucht hat oder ob es sich um eine Zuschreibung durch Moreux handelt – falls Letzteres, dann wohl durchaus um eine Zuschreibung im Sinne des Komponisten. Bartók bezeichnete als „Bauernmusik die Gesamtheit derjenigen Melodien, welche in der Bauernklasse irgendeines Volkes in mehr oder minder großer zeitlicher und räumlicher Ausdehnung als ein spontaner Ausdruck des musikalischen Gefühls fort-
leben oder irgendwann fortgelebt haben“ (Bartók 1925: 17 f.). Interessanterweise geht Bartók davon aus, „daß fast jede heute bekannte neuere europäische Bauernmusik durch den Einfluß irgendwelcher, namentlich ‚volkstümlicher‘ Kunstmusik entstanden ist“. Diese Einschätzung löste Anfang des 20. Jahrhunderts die im 19. Jahrhundert vorherrschende Ansicht ab, Volksmusik und Volkslieder seien ohne bekannte Verfasser sozusagen aus der Mitte des Volkes entstanden. Johann Gottfried Herder, der das nach englischem Vorbild geprägte deutsche Schlagwort vom „Volkslied“ prägte, wies in den Vorreden und begleitenden Aufsätzen zu seinen Mustersammlungen bewahrenswerter Liedtexte aus oraler und poetischer Überlieferung immer wieder auf die „Doppelgesichtigkeit“ der Volkspoesie hin, die Freude, Jubel, Begeisterung, Heiterkeit, Ausgelassenheit, Scherz und Gelächter auf der einen, aber eben auch Trauer, Verzweiflung und Bitterkeit, Klage und Anklage auf der anderen Seite beinhaltete. Diese sozusagen soziale Funktion der Folklore haben „die nachfolgenden Sammlergenerationen für immerhin rund eineinhalb Jahrhunderte stillschweigend unter den Tisch fallen gelassen“ (Stockmann 1992 I: 3 f.).
Dabei beschreiben viele Liedersammler, dass sogar beim Singen von Einschlafliedern für Kleinkinder nicht nur Wiegenlieder im engeren Sinne genutzt werden: „Für nicht wenige junge Frauen war die Mußesituation an der Wiege eine Gelegenheit, um sich irgendeinen Kummer von der Seele zu singen, sei es mit einem zu ihrer momentanen Stimmungslage passenden Lied aus dem regionalen Repertoire oder auch in halbimprovisierter Form, einer Klage ähnlich, wobei fließend-amorphe Passagen, wie sie auch zum Repertoire für das Kleinkind gehören und für seine eigenen Äußerungsweisen charakteristisch sind, Verwendung finden konnten, da sie in bestimmten Klageformen gleicherweise vorkommen“ (Stockmann 1992 II: 166). In gewisser Hinsicht entstand hier bereits eine Art improvisierte, die Sorgen und Nöte des Daseins reflektierende „imaginäre“, jedenfalls über die gewöhnlichen tradierten Vorgaben hinausgehende Volksmusik.
Im 19. Jahrhundert allerdings wurde diese Doppelgesichtigkeit der Volksmusik aus vornehmlich ideologischen Gründen weitgehend ignoriert. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein existierte eine Narration, die, geboren aus der Ideologie des Nationalismus, zum Ziel hatte, die Folklore eines Landes beziehungsweise einer Nation und deren angebliche Charakteristika gegenüber anderen Nationen abzugrenzen (siehe Müller 2020: 218 f.) und Volkslieder zu einem identitätsstiftenden Kulturgut auszubauen. Allzu bereitwillig wurden während der Romantik die „nationalen Schulen“ propagiert, also eigenständige nationale Komponisten-Schulen insbesondere in Ländern, die sich von der vorherrschenden deutsch-französisch-italienischen Musiktradition abzugrenzen suchten. „Nationalkomponisten“ verarbeiteten in ihren Werken die jeweilige Volksmusik ihres Landes: die russische Schule (von Tschaikowski bis Mussorgski), Komponisten aus der Tschechoslowakei (Suk, Smetana, Dvorˇák, Janácˇek), Finnland (Sibelius) und Skandinavien (von Gade und Grieg bis Nielsen), Ungarn oder Spanien.
Allerdings zeigt gerade die Geschichte der russischen Schule und vor allem des „Mächtigen Häufleins“ um Mili Balakirew und seine Schüler Mussorgski, Rimski-Korsakow und Borodin, dass eine derartige Bewegung eher in eine Sackgasse führte. Nach wenigen Jahren sagten sich Komponisten wie Rimski-Korsakow von der ideologischen Engführung Balakirews und seinen panslawistischen Glücksverheißungen los (Behrendt 2020: 136 f.). Mussorgski ging sowieso einen anderen Weg: In seiner Oper Boris Godunow entwickelt er das gesamte erste Bild aus einer schlichten, viereinhalbtaktigen russischen Volksweise sowie dem berühmten Unterdrückungs- bzw. Gewaltmotiv. Mussorgski verwendet die Volksmusik hier als eine Art „Aufstandsmusik“ gegen die zaristische Unterdrückung und verstärkt diesen Eindruck noch durch den Einsatz von Chromatik und die Verwendung von Kirchentonarten – was von Bartók auch für die von ihm gesammelten ungarischen Volkslieder konstatiert wird, bei denen er neben einem grundsätzlichen Hang zur Pentatonik auch die häufige Verwendung besonders von dorischen und phrygischen Tonleitern nachweist.
All dies zeigt, wie unsinnig es ist, der „Volksmusik“ eine Entstehung aus der „Mitte“ oder der „Tiefe“ eines Volkes zuzuschreiben. Die Bauernmusik, die Bartók und sein Kollege Kodály so umfassend gesammelt und wissenschaftlich untersucht haben, ist eben „das Resultat einer Umgestaltungsarbeit“ von vorgefundener Kunstmusik, also komponierter Musik – und diese Arbeit der Umgestaltung und Umformung hat wesentlich nicht nur mit „der Fähigkeit“, sondern auch mit der „starken Neigung“ der Bauern zu tun, „ihnen zur Verfügung stehende gegebene musikalische Elemente umzuformen“ (Bartók 1925: 19). Bartók spricht von einem „Umformungs- (Variierungs-)trieb im Individuum“, vor allem aber auch von „viel Improvisationsartigem“, das die Bauern „ganz ähnlich wie bei großen Vortragskünstlern“ einsetzen. Und hier sind wir mitten in der imaginären Folklore der Jetztzeit: Sie verhilft der Kunst der Improvisation zu neuer Bedeutung, eine Kunst, die heute ja praktisch nur noch im Jazz und eben in der osteuropäischen Volksmusik überlebt hat, während die Tradition der Improvisation in Westeuropa seit der Renaissance praktisch tot ist. So nimmt es nicht wunder, dass viele der Musiker und Bands, deren Musik (auch) als imaginäre Folklore bezeichnet werden kann, eine starke Affinität zum Jazz haben, ob die französischen Bratsch und Louis Sclavis, ob in Österreich Broadlahn und Werner Pirchner.

Es ist keine Überraschung, dass gerade im alpenländischen Raum die imaginäre Folklore derart reüssieren konnte. Die Voraussetzungen waren in mehrfacher Hinsicht besonders günstig: Der Alpenraum war von jeher eine wichtige europäische Verkehrsverbindung, also ein im doppelten Wortsinn Transitraum – eben auch ein Raum, in dem sich unterschiedliche Kulturen begegneten und zum Teil vermischten. Wien war als Zentrum der Donaumonarchie auch ein Schmelztiegel verschiedenster Ethnien, Sprachen und Kulturen, die mehr oder minder friedlich neben- und miteinander lebten. Dazu gehörten auch Juden und Roma, und Letztere fügten sich „mit dem für sie charakteristischen Anpassungsvermögen“ (Bartók spricht davon, dass sich das Programm der „Zigeunermusikanten“ im Allgemeinen „nach den Wünschen der Volksklasse richtet, die sie eben bedienen: der Herrenklasse spielen sie volkstümliche Kunstmusik oder westeuropäische leichte Kunstmusik, der Bauernklasse eventuell auch für sie näher zugängliche Bauernmusik“, weswegen er vorschlägt, statt von „Zigeunermusik“ von „Zigeuner-Vortragsart“ oder von „von Zigeunern vorgetragener ungarischer Musik verschiedener Herkunft“ zu sprechen; Bartók 1925: 452 f.) in die jeweilige „musikalische Unterwelt“ ein: „Ohne ihre eigene Musik aufzugeben, wurden sie zu Schöpfern regionalspezifischer ‚zigeunerischer‘ Instrumentalstile, ohne die sich Volks- und Kunstmusik, städtische wie ländliche Musikpraxis der letzten beiden Jahrhunderte, nicht nur im Donauraum, schwer vorstellen lässt“ (Stockmann 2020 III: 172).
Seit 1811 wurden durch eine Initiative Erzherzog Johanns im Rahmen einer monarchieweiten Sammlung und Befragung Volkslieder aufgezeichnet, seit 1819 noch gezielter in Verantwortung der Gesellschaft für Musikfreunde. In den österreichischen Volksliedarchiven finden sich auch etliche Belege dafür, dass der seit Herder immer wieder bemühte Gegensatz zwischen „Stadt“ und „Land“ und die idealisierte Vorstellung, „auf dem Land seien die kulturellen Ausdrucksformen vergleichsweise unverfälscht vorzufinden“, wohl kaum zu halten ist, wie es mehr als hundert Jahre später auch Bartók belegt hat. Vielmehr können gerade in Volksliedsammlungen kontinuierliche Wechselwirkungen zwischen bürgerlich-städtischer Musikkultur und ländlichem Raum nachgewiesen werden (siehe Schwinger 2020: 83). Seit den 1830er Jahren finden sich in den Volksliedarchiven zum Beispiel etliche von Franz Schubert komponierte Lieder – Der Lindenbaum ist ein berühmtes Beispiel dafür, dass das Interesse der Landbevölkerung an romantischem Liedgut enorm war, während die Wiener Klassiker sich wiederum regelmäßig von Volksmusik und Volksliedern inspirieren ließen: Denken wir an Beethovens Dritte Sinfonie, die Eroica, in deren Finalsatz der Komponist Ländler aus dem Alpenraum, vor allem aber ungarische Musik, die er während seiner Ungarn-Aufenthalte kennengelernt hatte, sozusagen „sampelt“. Der „Tschardas“, den Beethoven ab Takt 210 im Finalsatz der Eroica verwendet und mit einem französischen Revolutionsmarsch übereinanderstapelt, dürfte, wie Peter Schleuning schreibt, eine Art „Preislied auf die ungarische republikanische Bewegung der 1790er Jahre“ darstellen, ja sogar als eine ausdrückliche „Ermunterung“ dieser Bewegung gemeint sein.

Die enorme Vielfalt und die Möglichkeiten der alpenländischen imaginären Folklore lassen sich beispielhaft an drei Musikgruppen zeigen. Nehmen wir die Appenzeller Space Schöttl, das Duo von Töbi Tobler (Hackbrett, Gesang) und Ficht Tanner (Kontrabass, Gesang), das wohl eine der vergnüglichsten Volksmusiken gespielt hat, die man sich überhaupt vorstellen kann. Von 1980 bis 1998 spielten die beiden Appenzeller ihre spezielle Mischung aus traditioneller Appenzellermusik und freien Improvisationen. Angeblich spielte das Duo nichts, was sie vorher schon einmal gespielt hätten. Ob man das glauben will oder nicht, klar ist, dass den beiden Musikern der Moment des Konzerts, das Improvisieren im Hier und Jetzt ganz besonders am Herzen lag. Wie man schon am Namen erkennen kann, wollten sie nicht bloße Tanzmusik spielen, sondern fügten Elemente des Jazz (Tobler hat eine Ausbildung an der Berner Swiss Jazz School), ein wenig Rock, eine Prise Komik sowie milde Verfremdungseffekte zur traditionellen Musik des Appenzeller Landes hinzu, die zur ältesten des Alpengebiets gehört: Die älteste Aufzeichnung eines Kuhreihens, einer Gattung der Hirtenlieder, findet sich aus dem Jahr 1545 bei Georg Rhaw, dem Buchdrucker, Leipziger Thomaskantor und Herausgeber von Musiklehrbüchern und Kompositionssammlungen aus dem Umfeld von Martin Luther. In einer Handschrift aus dem Jahr 1563 findet sich die schöne Tanzlied-Zeile: „Appenzeller tantz, ich staig uff einem fygen baum, wolt.“ Seit 1570 werden in Appenzell Saiteninstrumente genannt, mit denen zum Tanz aufgespielt wurde, und es kann davon ausgegangen werden, dass damals auch schon das Hackbrett zum Einsatz kam. Was für eine Tradition, auf die sich die Appenzeller Space Schöttl stützen konnten bei ihren musikalischen Reisen in eine fantasievolle neue, imaginäre Volksmusik!
Während die Space Schöttl eine feine, akustische, geradezu Schubertsche Musik spielten, kann der 2001 viel zu früh verstorbene Tiroler Komponist und Musiker Werner Pirchner mit Fug und Recht als schillernder Paradiesvogel bezeichnet werden, der die alpenländische Musik in alle Himmelsrichtungen erweitert und bereichert hat. Signifikant ist die Selbstbeschreibung seines Musikstils aus den Jahren 1982 /1997: Fußend auf der „jeweils neuesten Jazzmusik“, hat Pirchner, der Komposition und Vibraphon autodidaktisch erlernt hat, neue Wege des Ausdrucks durch die Auseinandersetzung mit den Theorien Schönbergs und vor allem mit Bachs Violinsonaten gewonnen, nennt als seine Lehrer aber auch unter anderem Thelonious Monk, Gil Evans, Bartók, Schubert, John Cage, Kafka, Karl Valentin, Kurt Schwitters „und vor allem den unvergleichlichen Ernst Ullrich Zufall.“
Sein Opus Magnum ist das Doppelalbum EU aus dem Jahr 1986, der Entwurf einer zeitgenössischen Musik, die Bestehendes aufgreift, verfremdet und erweitert und seinem Land und seiner Region einen Spiegel vorhält, ganz im Sinne des Universalkünstlers Herbert Achternbusch, der 1978 in seinem Film Servus Bayern postuliert hat: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe, bis man ihr das anmerkt.“ Pirchner war originell, bizarr, schelmisch und anarchistisch wie sein bairischer Bruder im Geiste. „Werner Pirchner ist die lustigere, kreativere Variante von Thomas Bernhard“, stellte sein Musikerkollege Mathias Rüegg einmal fest – aber Pirchner war beileibe nicht nur „lustig“, sondern er war sich der oben erwähnten Doppelgesichtigkeit der Volkspoesie wie der großen komponierten Musik bewusst: eine naive und mitunter anarchistische Heiterkeit auf der einen Seite, aber eben auch eine schmerzliche und tiefe Wehmut, Trauer und Melancholie, wie wir sie auch von Schubert oder Mahler kennen. „Selbst in vorgeblicher Fröhlichkeit schwingt noch ein Rest subversiver Wehmut“, formulierte Harry Lachner. Die Werke auf dem Album EU heißen zum Beispiel „Sonate vom rauhen Leben“ oder „Do You Know Emperor Joe“ (mit Satzbezeichnungen wie „Wer hat dir – du schöner Wald – eine vor den Latz geknallt?“ oder „Idylle und Krawalle“). Werner Pirchner war auch ein explizit politischer Komponist, der das falsche Pathos von Haydns Kaisermelodie, die später bekanntlich zur deutschen Nationalhymne mutierte, ebenso entlarvte wie das der heimlichen Hymne Österreichs, des Donauwalzers: „Die Donau ist blau – wer nicht?“
Dabei erwuchs Pirchners Engagement für eine andere Welt und ein anderes Dasein aus der Liebe zur Gegend und zu den Menschen, die dort wohnen, und daraus entwickelte er seine kammermusikalisch brillante, subversive Musik, die sich allen Kategorien entzieht und weit in die Welt hineinhorcht und tönt.
Mir ist bewusst, dass der Begriff „Folklore“ uns im deutschen Sprachraum fast ebenso schwer über die Lippen kommt wie alle Wortverbindungen, in denen „Volk“ vorkommt. Die Unbefangenheit, mit der Menschen in Frankreich „folklore“ sagen können, fehlt uns aus Gründen. Ich weiß nicht, ob sich Werner Pirchner mit dem Kunst(be)griff „imaginäre Folklore“ hätte anfreunden können – ich bin mir aber fast sicher, dass die Musiker Markus Binder und Hans-Peter Falkner, die als Attwenger seit Jahrzehnten weltweit Furore machen, angesichts einer derartigen Einordnung ebenso verwundert sein dürften wie ihre Fans. Attwenger spielen eine radikale und wilde Musik, eine Art Bastard aus althergebrachter Volksmusik, Mundartgesängen, Hip-Hop, Punk, Drum and Bass, Ernst Jandl, Breakcore und Dadaismus und so doch nur höchst unvollständig beschrieben. „Drum“ lassen wir sie selber erklären in einem Text zu ihrem im Mai 2021 erschienenen Album drum:
„trap-slang und country-fiction,
kraut- und rübenmusik,
dialektgroove und mentalitätskritik,
electronica und polkapunk.“
Und: „drum auch deshalb, weil umstände zur sprache gebracht werden wollten, die nerven. würden sie nicht nerven, wozu dann die musik?“ Attwenger verweigern einer Welt die Zustimmung, in der „Happiness zum Business wurde“ und „die Leute zwar weit sind, aber leider nicht weiter“, und stellen den Zuständen ihre Musik, also drum, als ein „Trumm“ in den Weg. Und sie betonen: Hier sei „nichts authentisch, aber alles täuschend echt“. Insofern spielen Attwenger durchaus auch eine „folklore imaginaire“, wie eine utopische Musik bezeichnet werden kann, die sich eine andere Musik vorstellt, ja, erträumt und die gleichzeitig daran interessiert ist, andere Verhältnisse herzustellen. Solch eine imaginäre Musik stellt Verbindungen zwischen ihren Traditionen und etlichen anderen Musikstilen her, ohne in einen billigen Exotismus abzugleiten, wie er heute in einer kulturkosmopolitischen „Hyperkultur“ als „singularistischer Lebensstil der neuen Mittelklasse“ gepflegt wird, die „die gesamte Welt-Kultur aller Orte, Zeiten und sozialen Herkünfte als verfügbare Ressource für die eigenen Selbstverwirklichungswünsche behandelt“ (Reckwitz 2017: 263 f.).
Béla Bartók schrieb 1942 in der US-amerikanischen Emigration, dass es auch für den kleinsten Staat unmöglich sei, originales, also von anderen Völkern unbeeinflusstes folkloristisches Material zu besitzen. „Kontakt zwischen fremden Völkern bewirkt nicht nur einen Austausch von Melodien, sondern – und das ist noch wichtiger – regt auch zur Ausbildung neuer Stilarten an. (…) Als das Resultat einer ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung zwischen der Volksmusik der verschiedenen Völker ergeben sich eine gewagte Mannigfaltigkeit und ein riesiger Reichtum an Melodien und Melodietypen“ (Bartók 1942). Und wie ungeheuer sind erst die Möglichkeiten der „ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung“ in der digitalisierten Welt unserer Tage, da noch die für uns fremdeste Musik in aller Regel nur einen Fingertipp entfernt ist.
„Authentizität“ mag ein postmoderner Mittelklasse-Lifestyle sein, musikalisch aber ist sie ein Fake und unmöglich. Alle Musik hängt mit aller Musik zusammen, alle Musik vermischt sich mit anderer, und gerade diese Vermischung birgt Potential zur Weiterentwicklung, zur Kreation eines ungekannten musikalischen Bastards. „Folklore imaginaire“ kann die Utopie einer Musik sein, die „die große Kraft der Negation“ ebenso kennt wie „freudige Rebellion (und) Ausgelassenheit ob der abgeschüttelten Hemmungen“ (Marcuse 2000: 89 & 93) – und wir fühlen endlich Luft von anderen Planeten …

Literatur und Musik:
Appenzeller Space Schöttl u. a., The Alps. Network 1994 (CD).
Attwenger, drum. Trikont 2021 (CD).
Bartók, Béla 1925: Das ungarische Volkslied. Berlin und Leipzig
   (Nachdruck Mainz 1965).
Bartók, Béla 1942: Rassenreinheit in der Musik.
    In: Weg und Werk, 1957. Bonn.
Bratsch, Gypsy Music From The Heart of Europe.
    Network 1993 (CD; im Booklet: Trouillet, Jean 1993:
    Das Phänomen „Bratsch“).
Marcuse, Herbert 2000: Musik von anderen Planeten.
    In: Nachgelassene Schriften, Band 2. Lüneburg.
Werner Pirchner, EU. ECM New Series 1986 (CD).
Reckwitz, Andreas 2017: Die Gesellschaft der Singularitäten.
    Berlin.
Reininghaus, F. / Kemp, J. / Ziane, A. (Hrsg.): Musik und
    Gesellschaft, Band 2. Würzburg. Darin:
    Behrendt, Maria 2020: Russische Volkslieder und das
    „Mächtige Häuflein“
    Müller, Julian 2020: Volkslied-Sammlungen auf dem Balkan
    und ihre Folgen
    Schwinger, Fabian 2020: Musik an den Rändern industrieller
    Zentren
Stockmann, Doris 1992 (Hrsg.): Volks- und Popularmusik
    in Europa. Neues Handbuch der Musikwissenschaft,
    Band 12. Laaber. Darin:
    I: Volksmusiksammlung und -forschung seit Herder
    II: Übernationale musikstrukturelle Gemeinsamkeiten
    in Vokalgattungen und ihre Ursachen
    III: Gesellige, lyrische und erzählende Singformen

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.