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Dies alles gab es also (2)

Fast niemand weiß mehr, was in zurückliegenden Jahrzehnten in der Kunst los war – auch nicht (oder vor allem nicht?) in der sogenannten Provinz. Oft braucht es den Anstoß von außen, auf dass die Geschichten wieder erzählt werden, an die künstlerisches Schaffen der Gegenwart und Zukunft anknüpfen könnte. Hier also aus gutem Grund die Fortsetzung der kulturellen Inventur eines Zugereisten: Florian Waldvogel über ungeliebte Röhrenplastiken, eine tierische Modeschau, eine Neujahrsproklamation, den vergessenen Maler Werner Scholz, ein couragiertes Mädchen mit blauer Mütze, einen gekreuzigten Frosch – nebst einer persönlichen Erinnerung an den Bauingenieur Christian Aste.

In meiner ersten Sammlungspräsentation als verantwortlicher Leiter der mir anvertrauten Modernen Sammlung am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum zeigte ich Peter Kogler und Oswald Oberhuber. Die Gestaltung der Sammlungspräsentationen der Modernen Sammlungen ist darauf ausgerichtet, Entwicklungen in der kulturellen Produktion und des kulturellen Austauschs quer durch alle Disziplinen aufzunehmen, neue Ideen und Entwicklungen der zeitgenössischen künstlerischen Praxis zu erkennen, Neuankäufe auszustellen und Raum zu schaffen für die sich ständig ändernden Ideen unserer Gesellschaft. Eine Sammlungspräsentation ist nicht zu trennen von ihrer Entstehungsgeschichte, auch der des Museums. Sie ist ein Dialog mit ihrer Zeit in der Gegenwart. Eine Sammlung muss überprüfbar sein, sowohl regional als auch überregional und vor allem international.
Die Präsentation #1 widmet sich wie gesagt einer semantischen Gegenüberstellung der Werke von Peter Kogler (*1959) und Oswald Oberhuber (*1931). Peter Koglers Ameisentapete „Documenta IX“ (1992) steht synonym sowohl für eine metaphernreiche Anspielung auf die museale Sammlung des Ferdinandeums als auch für die zunehmende Komplexität unserer Lebensrealität. Dass so eine Sammlungsgeschichte nicht frei von Konfliktlinien und Widersprüchen ist, davon zeugt die Arbeit „Röhrenplastik“ (1969–1971) von Oswald Oberhuber. Im Auftrag der Tiroler Landesregierung schuf er für die Innsbrucker Chirurgische Klinik diese Skulptur, die 1971 angekauft wurde, bei der Tiroler Bevölkerung allerdings auf breite Ablehnung stieß und deshalb wieder abgebaut werden musste.
Leider verstarb Oswald Oberhuber während der Laufzeit dieser Sammlungspräsentation und er hat die längst überfällige Installation seiner „Röhrenplastik“ auch nicht mehr gesehen, da sein Gesundheitszustand eine Reise nach Innsbruck nicht zuließ. Immerhin durfte ich ihn noch kurz kennenlernen, gemeinsam mit Peter Kogler besuchte ich ihn an einem heißen Sommertag 2019. Oberhuber war eine facettenreiche Persönlichkeit, deren künstlerische Offenheit mit einer Großzügigkeit einherging, von der ich als Sammlungsleiter für die Modernen Sammlungen profitiere. Seiner findigen Vermittlungstätigkeit verdanken die Tiroler Landesmuseen Kunstankäufe und Zuwendungen mehrerer Spitzenwerke der klassischen Moderne – von Giovanni Segantini, Herbert Boeckl, Richard Gerstl, Walter Pichler, Koloman Moser, Erika Giovanna Klien, Broncia Koller-Pinell u. a. –, die zum Grundstock der mir anvertrauten Sammlungen zählen. Abschließend möchte ich den von mir hochgeschätzten, leider auch schon verstorbenen Kollegen Jan Hoet aus seinem Text „Oswald Oberhuber, Vernichtung der Identität, und trotzdem …“ zitieren (Locker Verlag, Wien 1998, S. 7): „Oswald Oberhuber hat ständig gegen seine eigenen Möglichkeiten angekämpft, um die Dimension des Faszinierenden erreichen zu können, eine Dimension, in der die Dinge Fragen aufwerfen, Unordnung schaffen, unsere Sicherheiten stören. Er hat sich für Unberechenbarkeit und Widerspenstigkeit, kritischen Ekel und Ärger, Ohnmacht und inneren Zweifel entschieden, um der Sterilität der Wiederholung und Variationen aus dem Weg zu gehen.“ Ein wahrer Kompass.

Innsbruck besuchte ich das erste Mal 2007 für die Ausstellung „Buggelpiste“ von John Bock im Kunstraum. Am Eröffnungsabend präsentierten ein Lama, ein Pony und eine Ziege von John designte Kleidungsstücke. Die Performance bzw. tierische Modenschau wurde dokumentiert und neben den verwendeten Materialien und Requisiten im Ausstellungsraum präsentiert. Ein wunderbarer Abend in einer Oase der Kunst. Der Kunstraum geht auf die Initiative von Elisabeth und Klaus Thoman und deren Freunde zurück und wurde damals von Stefan Bidner geleitet. In den fünf Jahren, in denen Bidner für das Programm des Kunstraums verantwortlich zeichnete, zeigte er Positionen wie Gelatin, Dan Perjovsci, Christoph Schlingensief, Amelie von Wulffen, Tobias Rehberger u. v. a. Betrachtet man das Ausstellungsprogramm dieser Zeit etwas näher, dann hat man das Gefühl: Bidner kuratierte Ausstellungen aus der Sicht des Passanten, mit einem Blick, der uns eigen ist. Es ist der alltägliche Blick, der aus seinen Kurationen zu uns sprach und sich deshalb bei uns einprägte.
Bidner hatte verstanden, dass ein Ausstellungsmacher nicht einfach jemand ist, der die Vergangenheit aufnimmt, sondern er ist jemand, der sie erfindet; dass Kulturprojekte darauf hinweisen, wie vergeblich es ist, die Welt verstehen zu wollen. Mit seiner Auswahl an künstlerischen Positionen beschrieb er die komplexen Lebenswelten der Kultur. Als der Filmemacher Luis Buñuel einmal gefragt wurde, warum er Filme mache, antwortete er: „Um zu zeigen, dass dies nicht die beste aller Welten ist.“ Bidner zeigte uns etwas viel Einfacheres: nämlich, dass es eine andere Welt gibt. Stefan Bidner stellte sich als Kurator nicht über die Künstlerinnen und Künstler. Mehr kann man nicht verlangen. Außer: Er möge nach Innsbruck zurückkommen!

Unter dem Einfluss der kulturtheoretischen Diskussionen in den 1960er Jahren, in deren Zentrum die handlungskonstitutiven Bedeutungen kultureller Sinnmuster und symbolischer Ordnungen standen, lösten sich die Künstlerinnen und Künstler aus der institutionellen Umklammerung. In den meisten Kunstinstitutionen der damaligen Zeit kam die Kunst ganz selbstverständlich ohne Realitätsbezug aus. Sie waren (und sind es wieder) Tempel, in denen man in stiller und schweigender Demut und in herzergreifender Einsamkeit die Kunstwerke als die Erzeugnisse höchst zivilisierter Wesen bewundern soll.
Theodor W. Adorno lieferte mit seiner Museumskritik die diskursive Folie für die künstlerische Auseinandersetzung um den Ort der Präsentation und seiner gesellschaftlichen Rezeption – etwa für Initiativen wie die Galerie Junge Generation in Innsbruck. Aus der Analyse der historischen und gesellschaftspolitischen Funktionen der Kunstinstitutionen und deren Wirkung auf die künstlerische Produktion und besonders auf deren Rezeption entwickelte sich eine gesellschaftliche und materialistische Praxis außerhalb der Museen.
In der Neujahrsproklamation der Galerie Junge Generation aus dem Jahr 1968 wird kulturelle Produktion als ein Werkzeug der Kritik beschrieben und die Bestrebung formuliert, Kunst direkt ins Leben hineinzuversetzen:

Neujahrsproklamation der Galerie Junge Generation in Innsbruck

I
Die Kunst ist ihrer Substanz nach an und für sich unpolitisch und erschließt sich dem Beschauer weder in politischen Kriterien noch durch sonstige Ideen, die er in sie legt: Sie liegt rein im Erschaubaren. Aber der Künstler ist tief in einen politischen Zusammenhang gebettet; er lebt nicht in einer Kunstwelt und erschafft sich keine Welt aus Kunst gemäß der Fiktion von der zeitlosen Asozialität der Künstler; um produktiv zu werden, muss er sich zumindest eine gewisse Einstellung zum Politischen klarmachen. Es gibt keine Kunst außerhalb der Zeit, der produktive Typ prägt sich im hautnahen Kontakt aus der Epoche, und es prägt ihn die Gesellschaft mit. Diese politische Stellung des Künstlers scheint uns einmal nicht darin zu liegen, dass einer Kunstpolitik betreibt und öffentliche Ämter anstrebt, seinen Ehrgeiz darauf vergeudet, vom Staat zur Repräsentation missbraucht zu werden, indes seine Kunst unverbindlich und Spekulation auf die Ewigkeit ist. Dass einer Farbflecken noch etwas lucider setzt als ein anderer, schafft zwar kein höheres Bewusstsein, aber die Kunstmenschen geraten aus dem Häuschen. Und gerade die Vertreter der gegenstandslosen Richtung spielen kunstpolitisch bei uns eine dominierende Rolle. Wir ziehen die Artisten den Virtuosen der Malerei und Intrige vor und glauben, eine rechte Haltung in folgendem Satz von Karl Kraus präzisiert zu finden: „Mir scheint alle Kunst nur Kunst für heute zu sein, wenn sie nicht Kunst gegen heute ist.“

II
Der Unverbindlichkeit, die sich heute gemein macht, entspricht eine Unsachlichkeit des kulturellen Stils, von der totalen Phrasenhaftigkeit der Offiziellen bis zum Vorurteil des Künstlers gegen das Leben: „Das, was denkt, ist etwas anderes als das, was lebt.“ (Benn) Wir halten Unverbindlichkeit in Kunstdingen für das größte Übel, das einer Kultur widerfahren kann. Mit dieser Proklamation geht es uns zum Beispiel darum, unsere eigene Tätigkeit verbindlicher zu machen, einen Maßstab für die Kritik an unserem Tun zu setzen;
genauso geht es uns um eine Kunst, die gefährlich, das heißt, gesellschaftlich wirksam ist und im weiteren Sinne selbstverantwortliche Kunst ist; ist sie auch in ihren Ergebnissen wertfrei, so existiert sie dann dennoch nicht im wertfreien Raum, ist primär moralisch.

III
Wenn Sie wollen, sind wir nun eine Österreichische Galerie für engagierte Kunst.

Die Galerie Junge Generation zeigte in der Salurner Straße 2 u. a. vom 16. Februar 1968 an für vier Wochen „Jüdische Kinderzeichnungen aus dem KZ Theresienstadt“. Unter Anleitung der ebenfalls im „Vorzimmer von Auschwitz“ internierten Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis lernten die Kinder in den „Pflichtzeichnen“-Kursen der Nazis einen freien Umgang bei der Ausführung ihrer Erinnerungen, der Lager-Realität, ihrer Wunschvorstellungen und Träume, anstatt wie vorgesehen technisches Zeichnen zu erlernen, um später Pläne für die Nazis anzufertigen. So entstanden ca. 4.000 Zeugnisse des Schicksals der in den Jahren 1941–1945 in diesem Lager internierten ca. 15.000 Kinder, von denen nur 100 die Vernichtungslager überlebten.
Ein weiterer in Tirol lebender unbeugsamer Zeitgenosse war Werner Scholz. Ich entdeckte seine erbarmungslose Arbeit „Reliquien“ in der Ausstellung „Tiroler Moderne? Tiroler Kunst 1900 bis 1960“. Auf der quadratischen Tafel aus dem Jahre 1948 sind zwei Figuren von eindringlicher Intensität zu sehen. Die Reliquien werden von einer Palette aus Rot, Grün, Weiß dominiert, der Duktus ist nervös und expressiv, die Tonwerte sind dunkel. Es sind Figuren aus dem Schattenreich, „die Blut getrunken haben“, so Hans-Georg Gadamer. Scholz malte keine liebliche Konzession, sondern eine auf Moll gestimmte Ikone. Seine Erfahrungen und der Verlust des linken Unterarms im 1. Weltkrieg sowie die zerstörerische Brutalität und Massenvernichtung im 2. Weltkrieg schlagen sich in dieser metaphorisch verdichteten Vorstellung des Todes nieder.
Scholz wird 1898 in Berlin geboren und verpflichtet sich als Freiwilliger für den 1. Weltkrieg. An seinem 19. Geburtstag verliert er seinen linken Unterarm. Nach dem Krieg nimmt er sein Kunststudium an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin wieder auf und die Kriegserlebnisse schlagen sich in Schwarz-Weiß-Bildern nieder. Einzelausstellungen am Bauhaus in Dessau, am Museum Folkwang in Essen und in den Kunstvereinen in Köln und Kassel folgen. Die Berliner Nationalgalerie und das Wallraf-Richartz-Museum in Köln erwerben seine Bilder für ihre Sammlungen. Ab 1937 wird Scholz mit einem Ausstellungsverbot durch die Nazis belegt und seine Gemälde „Das tote Kind“ und „Stilleben mit Amaryllis“ werden bei der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München ausgestellt. Am Tag des Ausbruchs des 2. Weltkriegs erwirbt er das Haus „Büchsenhausen“ in Alpbach, Tirol, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1982 lebt und arbeitet. Nach 1945 zeigt Scholz im Rahmen großer Einzelausstellungen u. a. im Ferdinandeum (1947), im Haus am Waldsee Berlin (1948), der Kestner-Gesellschaft Hannover (1950), der Kunsthalle Mannheim (1952), in der Staatlichen Graphischen Sammlung München (1958) seine Pastelle zum Alten Testament. Mittlerweile hat die Gegenwart diesen großartigen Maler vergessen.

Am 31. Januar 2021 wurde ich Zeuge einer ganz anderen Art von Zivilcourage durch ein kleines Mädchen mit blauer Mütze. An diesem Tag rief die Sozialistische Jugend Tirol unter dem Motto „Grenzen töten“ zu einer Kundgebung gegen die Abschiebepraxis der europäischen Grenzpolitik auf. Begleitet wurde der Protestzug von einem massiven Polizeiaufgebot. Im Full-Combat-Outfit flankierten sie den friedlichen Marsch und es kam, wie es immer kommt, zu einem nicht verhältnismäßigen Einsatz von Chemie und Gummi. Allen höflichen Aufforderungen der demokratischen Gäste zum Trotz weigerte sich die rechtsextreme Szene, vom Gewalt-Exzess abzulassen.
Und dann geschah etwas, was man nur aus dem Fernsehen bzw. aus Quentin-Tarantino-Filmen kennt: Ein kleines Mädchen mit blauer Wollmütze und Brille stürmt auf einen Beamten los, schlägt ihm den Stock aus der Hand und tritt ihm unerschrocken noch eine rein. Im Tumult konnte ich die Begriffe Unabhängigkeit, Vertrauen, Entschlossenheit, Widerstand, Hoffnung, Reiselust, Demut, Sichtbarkeit, Organisation, Licht, Wachsamkeit und Gemeinschaft auf ihrem Sweatshirt lesen. „Die Welt ist scheiße“, rief sie dem Beamten zu. „Es geht nicht um Zerstörung, sondern um Bewegung, den Fortschritt“, gab sie den verwunderten Beteiligten zu Protokoll. Das Outfit des Mädchens strahlte Eigensinn aus. Eine Mischung, die durch die blaue, selbstgestrickte und mit einem kleinen Irokesen (früher hätte man Bommel dazu gesagt) versehene Mütze abgerundet und zum Ausdruck gebracht wurde. Waren nicht die Irokesen die fortschrittlichste gesellschaftliche Indianer-Organisation, die sich in fünf Stämme teilte: Senekas, Cayugas, Onondagas, Oneidas und Mohawks? Frauen und Männer hatten eine Stimme und die Stämme waren nach Mutterrecht organisiert. Kriegerische Auszüge wurden meist von einzelnen Spezialisten organisiert. Es gab einen Kriegstanz, und wer mittanzte, erklärte seine Beteiligung an der Aktion. Das Aktionsteam wurde rekrutiert und sofort in Bewegung gesetzt. Das erklärt vielleicht auch das Verhalten des übrigen Pfefferspray-Orgien-Publikums, welches sich –
nachdem das kleine Mädchen mit der blauen Mütze ihr Recht auf Widerstand à la Hannah Arendt zum Ausdruck gebracht hatte – auch den Rechtsextremen widersetzte. Nach einem kurzen Scharmützel wurden jene Menschen des Spaziergangs für Menschenrechte, die aus Mangel an Erfahrungsdifferenzierung und Identitätsbildung ihrer erziehungsbedingten Wut vom Erlernen und Verstehen demokratischer Prozesse ausgeschlossen bleiben, von ihren Kolleginnen und Kollegen und somit unter Polizeischutz auf die Wache begleitet.
Bleibt mir noch, mich bei diesem kleinen Mädchen mit der blauen Wollmütze für ihre Courage zu bedanken. Ich habe meine nächste Assistentin gefunden. Ok, dann bin ich wahrscheinlich zu alt. Wie wär’s mit Paten-
onkel? Bereit, wenn du es bist!

Ganz andere Proteste gab es im Juli 2008 kurz nach der Eröffnung des Neubaus des Museion in Bozen. Nach jahrelanger Diskussion über Sinn und Zweck einer solchen Einrichtung und ebenso langer Standortsuche feierte man schließlich dieses kulturelle Ereignis mit der Gruppenausstellung „Peripherer Blick und kollektiver Körper“. Arbeiten von über 200 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern wurden gezeigt, unter anderem auch eine von Martin Kippenberger. Letzterer, zu diesem Zeitpunkt schon über zehn Jahre tot, hätte bestimmt seine Freude darüber gehabt, dass seine Arbeit „Zuerst die Füße“ solch einen Amoklauf unter Katholiken, eine Flut an Leserbriefen mit dem Vorwurf der Gotteslästerung und sogar einen einwöchigen Hungerstreik auslöste. Der Zorn der Gottes-Vertreter auf Erden richtete sich gegen einen ans Kreuz genagelten grünen Frosch aus Holz, der in der einen Hand einen Bierkrug und in der anderen ein Ei hält. Kippenbergers ironisches Selbstporträt – von der Innsbrucker Galerie Johann Widauer produziert – beschäftigte sogar Papst Benedikt XVI. und erst die Diskussion über künstlerische Freiheit im internationalen Feuilleton beendete die unsäglichen Blasphemie-Vorwürfe.
Aber hat nicht das Christentum, als älteste Werbeagentur der Welt, uns schon vor langer Zeit gezeigt, dass unsere Erfahrungswirklichkeit aus der Produktion von Zeichen besteht und ihre Aufladung mit Bedeutungen zu der zentralen Wertschöpfungspraktik geworden ist? Erfahrungswirklichkeit im christlichen Sinne ist jene Realität, mit der sich das Individuum auseinandersetzt und in der es handelt. Mit der brutalen Bildmarke des Christentums, ein sterbender Jesus am Kreuz, lassen sich perfekt Projektionen, Ängste und Erwartungen ableiten, anhand derer sich die Subjekte spiegeln, selbst erkennen, ent- oder verwerfen. Damit wird die Zeichenproduktion über Bild- und Wortmarken sowie die symbolische Politik zum wichtigsten Motor der wirtschaftlichen Wertschöpfung und der politischen Machtakkumulation. Sie findet ihren Niederschlag in einer symbolischen Kolonialisierung der Lebenswelt, einer Okkupation des symbolischen Feldes durch die Freisetzung normierender politischer und ökonomischer Ideologien im Prozess der kulturellen Kommunikation. Der in der christlichen Logik geschaffene Zeichenkosmos und seine Herrschaftsausübung über das Symbolische stehen somit kausal nicht mehr mit der konkreten Realität in Verbindung, das zeigte uns der Frosch von Kippenberger.
Der Stiftungsrat des Museums entließ wenige Wochen nach dem Ende der Ausstellung die verantwortliche Direktorin des Museion, Corinne Diserens, fristlos. Zwar wurden budgetäre Gründe als ausschlaggebend dafür angegeben, doch bleibt der Verdacht, jemand musste als Folge des Ärgers um den Frosch unter den Bus geworfen werden.

Während ich über diesem Text sitze, beschäftigt mich aber eine ganz andere theologische Herausforderung: Ein schwerer Schlaganfall zerstörte das Leben meines väterlichen Freundes Christian Aste. Ich bin zornig und Trauer hat auch immer etwas mit Wut zu tun. Wut darüber, dass unser Gespräch, lieber Christian, so abrupt abgebrochen wurde. Ein Gespräch, das ich am liebsten endlos weitergeführt hätte. Du liebtest Ernst Bloch und sein „Prinzip Hoffnung“, aber lass dir mit einer Paraphrase von Jean-Paul Sartres Theaterstück „Huis Clos“ sagen: „Ich sage, die Abwesenheit der andern, das ist die Hölle.“
Christian Aste war ein Braveheart unter den Tragwerksplanern und ein häufiger Gast in Blochs Utopia. Die Anlauframpe der Bergisel-Sprungschanze war ursprünglich als Durchlaufträger über drei Stützen geplant. Für Christian forderte der seillinienartige Längenschnitt aber eine freie Stützweite. In seinem ästhetischen Empfinden waren die konstruktiven Pfeiler im Seilfeld falsch und hässlich, weshalb er die 68,5 m lange Brücke, welche die Skispringer bis zum Absprung überwinden müssen, neu berechnete. Für die Tragwerksplanung der Bergiselschanze erhielt er mehrere nationale und internationale Preise und Ehrungen.
Titi, wie ihn seine Segel-, Stocksport- und Fußballfreunde nennen durften, wusste, was er wollte, und brachte dies begeisternd zum Ausdruck. Er ließ die Ereignisse kontrolliert ihren Lauf nehmen, das eine Projekt zog ein anderes nach sich und warf ihn atemlos vorwärts, wie jene Aussichtsplattform am Stubaier Gletscher, ein auf einem schmalen Grat sitzender Trägerrost, dessen Stahlschwerter neun Meter über die Felskante auskragen, oder das vom Himmel gefallene Oval, das höchstgelegene Café Österreichs am Pitztaler Gletscher, auf 3440 m. Dass diese auf Felskuppen sitzenden Objekte nicht ins Tal stürzen, ist der Bauingenieurskunst Astes zu verdanken.
Jetzt plant er stützenfreie Wolkenheime in der Nacht der Zukunft. Er war die fleischgewordene Empörung gegen alles Mittelmäßige. „Denn jeder Mensch ist für alles und vor allen verantwortlich“, so Christian Aste zum Autor, kurz nachdem entschieden wurde, welches Büro den Architekturwettbewerb für die Platzgestaltung des Bozener Platzes in Innsbruck gewonnen hatte. Tragwerksplanung ohne Risiko, das ist ein Versicherungsabschluss mit einer Architektur, die sich nicht auszahlt.
Er war ein Dolmetscher der Ingenieurskunst. Ein Wizard der Elemente und der Klothoidenschablonen. Ein Sichtbarmacher von Primär-Tugenden für ein richtiges Leben im falschen. Als Dynamiker kämpfte er gegen die Tugendoptimierung der Angestelltenmentalität und deren Ästhetikverzicht. Die Gemeinsamkeit aller großen Persönlichkeiten liegt im Kampf gegen Autoritäten und Normen, in der Bereitschaft, Risiken einzugehen, und in der Hingabe, Momente der Wahrheit freizusetzen. Der Ziviltechniker Aste war ein Widerstandskämpfer.
Er unterrichtete 38 Jahre die Kunst des Bauingenieurs. Als Pädagoge wusste er, dass es im Unterricht nicht darum geht, zu gewinnen oder am Ende besser als die Schülerinnen und Schüler dazustehen, sondern auf einer höheren geistigen Ebene eine Balance zu halten. In jedem besseren Dialog erinnern sich Anrufer und Adressat gegenseitig an ihre intelligenten Mittel. Eins zu null für dich, Christian, ich danke dir, du großzügiger Freund.
Dies alles gab es also – und noch viel mehr.

 

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