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Marginaltext (10): „Zwölf Stunden von der Heimat“

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, denen trotz ihrer herausragenden Qualität zu wenig Aufmerksamkeit beschieden ist. Sei es, dass sie schlicht zu wenig bekannt, längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, sei es, dass sie an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden sind. Folge 10: Ein Ausschnitt aus Franz Michael Felders Autobiografie „Aus meinem Leben“. Felder – Sozialreformer, Schriftsteller und Bauer im Bregenzerwald – starb 1869 mit nur 29 Jahren in Schoppernau. In seinem letzten Lebensjahr hatte ihn der in Leipzig ansässige Germanist Rudolf Hildebrand aufgefordert, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben.

Im Monat Mai hatte ich jetzt nur mit meinen 10 Kühen zu tun. Ihren Weideplatz hinter dem Dorf umgab ich mit einem Hag und machte mir das Hüten leicht. Stundenlang konnte ich in dem kleinen Hüttchen sitzen, welches ich mir aus Zaunstecken gebaut und mit Tannzweigen aus dem nahen Wald gedeckt hatte. Da las ich Klopstock, Zimmermann und Wieland, während die weidenden Kühe um mich herum läuteten. Da war mir einmal wohl. Die Tiere nährten sich hier auf meiner Heuwiese und zehrten von dem Vorrate für den künftigen Winter; dennoch sehnte ich mich nicht besonders nach der Zeit, wo der Schnee auch im Vorsäß weg und so viel Gras die Heuwiese schonen konnte.
Mein Etz- oder Weideplatz lag hart am Weg, der ins innerste Achtal – nach Hopfreben und Schröcken führte. Manch einer der Vorübergehenden schaute mitleidig zu mir herauf, und wenn er gerade Zeit hatte, kam er für eine Viertelstunde ins grüne Hüttchen. Ich suchte dann mein Buch zu verbergen, aber die meisten trieb gerade nur die Neugierde herauf, einmal zu sehen, was ich denn immer lese. Unwillig zog ich dann nach vielen Versuchen, ein anderes Gespräch anzufangen, mein Heft wieder aus der Tasche und las etwas recht Frommes vor. Das gefiel manchem wohl außerordentlich, so daß er ein Vertrauen zu mir faßte und mir auch aus seiner Welt des Herzens zu erzählen begann, ja, auch diese Bauern, denen ich nur noch Sinn für Erwerb und rohen Genuß zutraute, hatten so eine Welt und viele noch dazu eine recht reiche. Manche Sorge, die ein reiches, edles Gemüt verriet, religiöse und andere Fragen, wurden bald in meinem Hüttchen durchgesprochen. Es plauderte sich recht angenehm, während die Ach draußen die letzten Reste des Winters laut scheltend aus dem Tale trug, und hier wie ein Siegeslied des Frühlings der Gesang der Vögel und das Geläute der weidenden Tiere erklang. War ich wieder allein, so eilte ich nicht mehr besonders ans Lesen, sondern blickte ins Dorf, welches mir jetzt ganz anders vorkam, seit ich mir fast jedes Haus als einen Tempel dachte. Aber um so weher tat es mir dann, Leute, die ich nicht mehr zum großen Haufen zählte, nachher wieder so gewöhnlich zu sehen, als ob sie sich schämten, auch ihre bessere Seite zu zeigen. Besonders gegen mich benahmen sie sich so kühl, als ob wir nie beisammen in der grünen Hütte gewesen wären oder sie sich jener Stunden schämten. Ich sann jetzt oft darüber nach, da ich aber billig sein wollte, fiel mir bald ein, daß ich selbst ja meine innere Welt auch sorgfältig vor dem großen Haufen verschließe und meine besten Freunde schon oft dadurch an mir irre gemacht habe. Nun begann ich zu untersuchen, warum denn das von mir geschehe. Ich kam darauf, daß alles, was man in der Gesellschaft tut, etwas Amtliches habe und daß die öffentliche Meinung nicht Ausdruck aller Einzelmeinungen oder auch nur ihrer Mehrzahl sei. In einer Hinsicht fand ich auch hier, was Zimmermann über die vornehme Gesellschaft und ihre Urteile sagte. Man urteilt strenger, als man ist, und sucht sich dabei vor allem ungemein fromm zu geben. Nun, das fand ich begreiflich, aber daß man sich dabei auch absichtlich recht herzlos, eigennützig und keinem menschlichen Gefühle zugänglich zu zeigen bemühe, wußte ich nicht mehr günstig auszulegen. Ein Liebespaar zum Beispiel, das mehr dem Zuge des Herzens als kalter Berechnung zu folgen scheint, hat nirgends eine freundliche Beurteilung zu erwarten, obwohl fast jeder unter vier Augen zugibt, daß das schon recht wäre, wenn sich damit durch die Welt kommen ließe. Mir wollte es zuweilen scheinen, als ob die öffentliche Meinung nur so eine Respektsperson, etwa einen gestrengen Schulmeister, spielen wolle. Schon in der Schule hatte ich etwas von dieser Unnatur empfunden. Im Aufgabenheft eines Mitschülers fand ich hundert und zwanzig Briefe, unter denen nicht einer war, der nicht mit dem Versprechen schloß: „Ich will alle Tage zu Gott beten, daß er Dich in bester Gesundheit erhalte.“ Vielleicht sah der Pfarrer einmal ins Briefbuch, und dann mußte der seine Freude haben an dem frommen Schluß. Das war sicher der einzige Grund, etwa eine Mitteilung, daß man noch eine Kuh feil habe, so zu enden. Andere hatten es ähnlich gemacht und machten es auch jetzt noch nicht besser. Hinterm Ofen hatten sie ihre Gedanken und ihren Grimm über die böse Welt so gut als ich, aber es wagte keiner gegen herrschende Unnatur und Heuchelei aufzutreten, sondern streckte und wand und krümmte sich, bis er auch auf den großen Leisten paßte, den einige Dorfgrößen vielleicht schon vor Jahrhunderten für sich selbst geschnitzt haben mochten. Mein Stolz begann sich zu regen. Was war ich mit meinen besonderen Gedanken? Nichts weiter als ein besonderer Narr, der sich einbildete, es vermöge hier herum niemand menschlich zu empfinden als er. Wie sollte es besser werden, wenn jeder sich vor dem Hergebrachten beugte und sich durch heuchlerische Verstellung in Gunst zu erhalten suchte?
Auch Wieland, Klopstock und Zimmermann waren mit ihren Ansichten offen aufgetreten und hatten dafür die volle Kraft ihres reichen Geistes eingesetzt. Die Furcht, lächerlich zu werden, hielt sie nicht zurück. Sie waren so glücklich, ihre Gedanken gleich niederschreiben und veröffentlichen zu können. Wie herrlich war’s doch, zu Tausenden, die man nie sah und denen man doch geistig verwandt ist, ja noch zu kommenden Geschlechtern, reden, ihnen sein Bestes, Heiligstes mitteilen zu können! Mir war das nicht vergönnt. Schwerlich las jemals ein Mensch meine Tagebücher und Verse, die ich in schlaflosen Nächten schrieb, weil es mir an Gelegenheit, mich auszusprechen, fehlte. Aber warum fehlte es mir daran? Hatte ich je einen Versuch gewagt? Was nutzte mein Klagen im Tagebuch und mein stiller Spott über dies oder das? So fragte ich mich und zankte mit mir selbst und verschloß meine Schriften und begann herzhaft zu reden, was ich früher nur niedergeschrieben hatte.
Der Widerspruch, den ich überall erregte, überwand den letzten Rest von Schüchternheit, den ich mit allen Vernunftgründen nicht erfolgreich zu bekämpfen vermocht hatte. Bald begann man den Kopf über mich zu schütteln und von mir so viel zu reden, daß ich gerne wieder zurückgetreten wäre, doch das ging nicht mehr so leicht. Dem Gespött der Leute konnte ich vielleicht noch am ehesten entrinnen, wenn ich meine Ansichten herzhaft verfocht. Ich konnte bald mit keinem Menschen mehr nur bis zur Kirche gehen, ohne in einen kleinen Wortwechsel zu geraten. Ich stritt über Glaubenssachen, über die ungleiche Verteilung der Gemeindelasten und über alles. Da es mir darum zu tun war, etwas auszurichten, verkehrte Ansichten und verjährte Übelstände wegzubringen, brachte ich die Rede immer gerade auf das, was der andere nicht gern hörte, weil er sich selber getroffen fühlte. Es suchte mich daher jeder zu necken und zu demütigen, und ich mußte immer gleichsam nach allen Seiten bewaffnet sein, wenn ich mich unter die Leute wagte, und kam aus der Aufregung fast gar nie mehr recht heraus. Auch für den ruhigsten Menschen ist es gefährlich, für etwas Besonderes zu gelten. (…)
Ich kannte selbst einen Menschen, dem es so erging. Er war ein talentvoller Schüler gewesen, und auch später hatte man nur an ihm zu tadeln, daß er lieber las als arbeitete. Seine Mittel erlaubten ihm, sich einige Bücher von Bregenz hereinkommen zu lassen. Vorzüglich waren es Liebesgeschichten.
Natürlich kam er bald in Konflikt mit der nüchternen, berechnenden Auffassungsweise seiner Landsleute und ward der Prediger der reinen, idealen Liebe. Als solcher wurde er überall bekannt, und jedermann redete mit ihm von Liebe und Ehe. Nun kam er sich ungemein wichtig vor und glaubte sich von allen Mädchen, die ihn neckten und ausfragten, verstanden und geliebt. Es war ja so natürlich, daß er mit seinen Ansichten den rohen Bauernburschen überall vorgezogen wurde, daß es ihm niemand auszureden vermochte, es wurde aber auch von niemand versucht, bis man ihn vollends verrückt gemacht hatte und aller Widerspruch vergebens war. Zu meiner Zeit meinte er, aus vernünftigsten Zusprüchen ernster Männer nur die Sprache des Neides und der Eifersucht zu hören. Er hieß Bischofberger, welchen Namen man in „Bischer“ abkürzte und der auch mir zuweilen beigelegt wurde, daß ich mich mehr als bisher um den Unglücklichen zu kümmern begann. Meine Stellung zu meiner Umgebung kam mir selbst zuweilen so unnatürlich vor, daß ich ängstlich zu untersuchen begann, was etwa Wahres an dem Vergleiche sei. Bischer, obwohl schon mehr als vierzig Jahre alt, kam damals häufig zu einem Mädchen in meiner Nachbarschaft, wo ich ihn zu beobachten Gelegenheit hatte. Es wurde mir ordentlich bang, wenn ich ihn ganze Viertelstunden so vernünftig sprechen hörte. Gewiß, er hätte allenfalls mit seiner Beredsamkeit auch für Wahrheit und Recht einstehen können, so gut als ich. Das Aufsehen, welches ich machte, und die Aufmerksamkeit, die man mir schenkte, begann mir immer peinlicher zu werden. Ich nahm mir vor, so wenig als möglich zu reden, aber man ließ mich nicht mehr gehen, und da ich unverteidigt keinem Angreifer gleich weichen wollte, blieb alles beim alten, nur daß ich stets unzufrieden mit mir selbst und mit den anderen heimging. Die Gesellschaft, das Lesen, ja selbst das Leben, wurden mir zur Last. Seufzend stand ich jeden Morgen auf, erschrak den Tag über, wenn jemand mich anredete, und ging abends mit dem Wunsche zu Bett, nun gleich einschlafen und nie mehr erwachen zu müssen. Ich fürchtete allen Ernstes, verrückt zu werden. Ja zuweilen glaubte ich es schon zu sein, denn alles kam mir anders vor als den anderen Leuten, und es war mir unmöglich, mich noch in ihre Anschauungsweise hineinzuleben, sosehr ich mir auch Mühe gab. So sehnlich wie jetzt wünschte ich noch nie, zwischen diesen Bergen, die alle auf mir zu liegen schienen, hinauszukommen ins Freie. Ich mußte weg von hier und unter Menschen, die mich nicht kannten und nicht immer als Sonderling behandelten. Ich wünschte das so lebhaft, daß ich mich trotz der drängenden Frühlingsarbeit einer armen Nachbarin selbst antrug, ihrem Söhnchen im Allgäu einen Hirtendienst für den Sommer zu suchen. Meine Mutter wollte mich durchaus nicht gehen lassen, aber diesmal war ich so eigensinnig wie noch nie.
Wie ein Flüchtling wanderte ich eines Morgens in aller Frühe durchs Achtal hinaus. Wie mich auch hungern oder dürsten mochte, ich kehrte in keinem Wirtshause des Innerbregenzerwaldes ein, um keinem bekannten Menschen mehr zu begegnen. (…) In Alberschwende kehrte ich in der Taube ein. Der Anblick des mit Zeitungen belegten Tisches weckte gleich ein günstiges Vorurteil für dieses Dorf, denn ich wußte natürlich nicht, daß die Taube hauptsächlich den Fremden gehört, die hier durchreisen. Mir kam es da schon ganz großstädtisch vor, denn Zeitungen fand ich in unseren Wirtshäusern damals nie. Ich begann zu lesen und las noch, während mein hungriger Begleiter mit Schmerzen das für uns aufgetragene Mittagessen verdampfen und kalt werden sah. Der Arme mußte lange husten und mit dem Löffel klappern, bis ich wieder an ihn und den eigentlichen Zweck meines Hierseins dachte. Unter dem Essen redeten der freundliche Wirt und ein Gast mit mir vom Zeitungslesen. Letzterer bedauerte, daß nur wenige für so etwas Sinn hätten, und meinte, die schlechten Schulen wären an den Rückschritten der Bevölkerung schuld. Von Rückschritten hatte ich nun freilich nie gehört, er aber wies nach, wie der frühere Gemeinsinn abhanden und schäbiger Geiz und elende Kriecherei an seinen Platz gekommen seien, seit Recht und Gesetz nicht mehr aus dem Wesen der Bevölkerung und ihrem Bedürfnis heraus wachse. Es sei ein Fehler, selbst etwas zu wissen und eigenen Willen zu haben, seit dem Ehrgeize des Talentvollen keine andere Bahn mehr offen sei, als zu erwerben und sich im Genusse des Erworbenen beneiden zu lassen.
Jetzt ging mir das Herz auf und ich konnte einmal reden. Wir kamen auf die alte freie Verfassung des Innerbregenzerwaldes, der ältesten deutschen Republik, zu sprechen, und meinem Begleiter mag wohl die Zeit zum Sterben lang geworden sein, bis ich endlich daran dachte, daß wir heute wenigstens noch nach Bregenz kommen sollten.
Als wir wieder ins Freie traten, kam mir die Welt ganz wunderbar weit und frei vor, obwohl wir auch hier noch Berge in der Nähe hatten. Ich wünschte jedem, den ich traf, einen guten Tag und ließ mich wenn möglich in irgend ein Gespräch mit ihm ein. O, es tat mir so wohl, daß hier mir keiner gleichsam bewaffnet und als Angreifer entgegenkam. Sonst ging ich auf dem Wege, ohne mich nach rechts noch nach links zu wenden, jetzt aber hatte ich für alles einen offenen Blick, und an der Schwarzach besuchte ich mehrere Steinschleifereien, deren eigentümliches Knarren eine wehmütige Stimmung in mir geweckt hatte. Auch den Arbeitern im Steinbruch sah ich so lange zu, bis mein Reisegefährte zum Gehen drängte und auf die sinkende Sonne wies. Trotzdem kehrte ich im Dorfe Schwarzach schon wieder ein. Ich hatte weder Hunger noch Durst, aber es tat mir so wohl, Zeitungen auf einem Wirtstische zu sehen und ein friedliches Gespräch von etwas anderem als Kühen und Düngen oder den kleinen Fehlern des Nebenmenschen führen zu können. So kam ich denn erst mit einbrechender Dunkelheit nach Bregenz und sah die Sonne golden und herrlich in den Bodensee hinabsinken. Im Städtchen war noch etwas Leben. Ich sah junge Herren mit einem Buch in der Hand vom Abendspaziergange heimkehren. Eine Gesellschaft hörte ich gar von Wieland reden. Dabei ward mir zumute wie einem, der in fremdem Lande, weit, weit von den Seinigen, plötzlich ein heimatliches Lied singen hört. Ich sagte mir, daß man mich hier für keinen „Bischer“ hielte und ich auch keiner werden müßte.
Wir gingen in eine Herberge im ersten Haus, an dem ich gerade ein Schild heraushängen sah. Herzhaft trat ich ein mit dem Sack voll alter Kleider meines Gefährten auf dem Rücken, den ich meinem ermüdeten Begleiter schon in Alberschwende abgenommen hatte. Man musterte bedenklich unsere Anzüge, die uns freilich nicht besonders empfahlen, und wir wurden geradezu unfreundlich begrüßt. Als ich ein Glas Bier verlangte, frug man, ob ich’s auch bezahlen könne, und als ich gar noch um Nachtherberge bat, wurde ich zum Löwenwirt gewiesen, der als Herbergsvater der Zünftler alles aufnehmen müsse, was sonst nirgends ein Unterkommen finde. Ich zog hungrig, durstig und beschämt ab, um das Löwenwirtshaus zu suchen. Dort fand ich denn aber alles viel besser, als ich nach den erhaltenen Andeutungen erwartet hatte. Aber meine Stimmung war verdorben. Ich ging gleich nach dem Nachtessen zu Bette, obwohl ich nichts weniger als schläfrig war.
Am anderen Morgen in aller Frühe schon verließ ich das Bett und das Zimmer, in welchem mein Begleiter noch wie eine Holzsäge schnarchte. Ich lief in dem ganzen Städtchen herum und entdeckte nun an mir selbst, daß ich jeden Begegnenden nach seinen Kleidern und seinem Aussehen schätzte. Das hatte ich daheim nie getan, da ich dort die Verhältnisse eines jeden genau kannte. Nun begann ich – wohl zum ersten Male im Leben – meinen Anzug zu mustern. Der kurze Spenser, die engen Hosen, die man mir schon als Schulbube angemessen und die später nur wieder durch Flikken der Zunahme meines Körpers gemäß erweitert wurden, kurz alles, außer den Stiefeln, kam mir recht elend und einfältig vor. Ich suchte den Laden eines Kleiderhändlers auf und gab den größten Teil meiner Barschaft für einen neuen Anzug aus, in dem ich nun wieder zu meinem Reisegefährten zurückeilte. Dieser war erstaunt über die mit mir vorgegangene Veränderung und versicherte wiederholt, daß man mich in dem langen Städterröcklein unmöglich noch für einen Schoppernauer halten könne. Das schmeichelte mir, denn ich war böse auf die Bewohner meiner Heimat und wollte künftig nicht mehr mit ihnen gemein haben, als ich mußte. Ich kann nicht leugnen, daß mich nicht gerade Stolz, aber doch ein gewisses Selbstgefühl mit dem knappen Röcklein zu umgeben begann. Hastig tranken wir unseren Kaffee und machten uns dann über die bayerische Grenze.
Ich fragte vor jedem stattlichen Hof, ob man keinen Hirten brauche, aber es währte lange, bis ich ihm – schon wieder auf dem Heimwege – ein Plätzlein fand. Nun ging ich noch nach Lindau, obwohl ich dort eigentlich nichts zu tun hatte. Den kleinen Umweg konnte ich auf der Rückreise leicht wieder einbringen. Wieder warf die scheidende Sonne ihre letzten Strahlen in den See, als ich über die lange Brücke der freundlichen Inselstadt zuschritt. Ich hörte das Pfeifen und Schnauben des Dampfrosses und eilte sogleich auf den Bahnhof, während ich wieder einmal recht lebhaft an meinen guten Seppel denken mußte. Der hatte uns oft von der Eisenbahn erzählt, aber wir konnten ihm nie recht glauben. Es war zu traumhaft, zu wunderbar. Und nun sah ich die eisernen Stränge vor mir, die Leipzig und Paris und ganz Europa mit dieser Inselstadt verbanden. Mir war’s wunderbar weit und frei, als ich die glänzenden Schienen sah. Es war also doch kein Traum, was man von dem Siege des Menschengeistes über Raum und Zeit sagte. Wir in unserem Tale mußten uns freilich den Naturkräften beugen, und fast alle waren uns als Feinde bekannt. Feuer, Wasser und Luft, alle dienten nur dem einzelnen und blieben uns furchtbar, hier aber sah ich sie zum Arbeiten für das Menschengeschlecht, zur Vermittlung des geistigen und materiellen Verkehrs gezwungen. Und den Erfinder des Dampfrosses hatte man seinerzeit auch für einen „Bischer“ gehalten. Mir war das ein rechter Trost, nicht weil ich mich etwa neben ihn stellte, aber ich sah daraus, daß nicht jeder ein „Bischer“ war, den man, um schnell mit ihm fertig zu sein, dafür halten oder doch ausgeben wollte. Ja, es war kein Traum, was man von den Wundern des neunzehnten Jahrhunderts sagte. Hier lag etwas ganz anderes in der Luft als zwischen unseren Bergen, und zwar etwas, das ich wie das Rauschen und Wehen eines Unendlichen empfand, dem ich mich verwandt fühlte wie ein Glied dem ganzen Körper. Mit unbeschreiblichem Behagen schaute ich dem bunten Treiben im Bahnhofe zu. Gewiß hätten das meine Landsleute ebensowenig begriffen als ich, und doch war es so und war recht für die Welt und nur zu groß für sie in den engen Tälern mit den engen Begriffen. (…) Aufrechter, sicherer als ich sonst durch mein Dorf ging, schritt ich jetzt durch die Stadt und suchte die Riegersche Buchhandlung auf. Beim Betreten dachte ich an den Fuhrmann, der mir, als ich den Kalender von 1849 bei ihm holte, die Buchhandlung beschrieb. Aber wie großartig ich mir es auch gedacht hatte, vor den vielen Büchern hier ward mir denn doch so bang, daß nur Herrn Stettners gewinnende Freundlichkeit den Mut zum Reden wieder geben konnte. Die Mundart meiner Heimat vermied ich, so gut als es einer kann, der nur im Dialekt zu denken und zu reden gewohnt ist. Jeder Bregenzerwälder lernt zwar als Schüler jedes Wort ins Hochdeutsche übersetzen, so gut es die vielbedeutenden Bezeichnungen erlauben, da er aber später entweder die gewohnte Wortfolge beibehält oder ein etwas unnatürliches Bücherdeutsch mit endlosen Sätzen redet, so nimmt sich’s etwas wunderlich aus, wenn er einem Fremden zu Ehre seinen Gedanken ein Festkleid anziehen will. Ich hatte das schmerzlich empfunden, so oft ich mit jemandem reden wollte, dem ich kein Verständnis meiner Mundart zutrauen durfte. Wie war ich nun beschämt, sogar die kleinen Kinder des Buchhändlers ein Deutsch reden zu hören, wie ich’s nur einem Gelehrten zugetraut hätte. Ich sollte ihnen von meiner Heimat, ihren Schönheiten und den Sitten ihrer Bewohner erzählen, aber ich brach die Unterhaltung schnell ab und ging. Auch im Gasthofe, wo ich übernachtete, erschrak ich, so oft jemand ein Wort an mich richtete. Im Bette machte ich mir darum Vorwürfe. So lang schon hatte ich mich da herausgesehnt, und nun verdarb ich mir alles aus Furcht, mich bei weiß Gott wem lächerlich zu machen. Jetzt sah ich, daß wir Bregenzerwälder nicht nur durch unsere Berge, sondern vielmehr noch durch Erziehung und Gewohnheit von der Welt abgeschlossen waren. Nicht einmal so viel hatten wir in der Schule gelernt, daß wir zwölf Stunden von der Heimat noch ordentlich mit den Leuten reden konnten. Auch ich war noch nicht soweit, obwohl ich mich für die Heimat fast zu gut wähnte. Nur zwischen Tür und Angel vermochte ich mich zu bringen. Am anderen Morgen ging ich in aller Frühe wieder Bregenz zu. Ich hätte auf einem Dampfschiffe fahren können; aber ich wollte nichts mehr, was ich nicht auch daheim haben konnte. Das Schicksal verdammte mich zum mühevollen Gehen und schloß mich ab von den Errungenschaften unserer Zeit. Nun – es sollte seinen Willen haben. Lange haderte ich mit der Glocke, die drüben am Hafen die Abfahrt eines Dampfers verkündete. Das Geld zum Fahren hätte ich schon noch gehabt, aber ich glaubte der Glocke einen rechten Possen zu spielen, wenn ich so schnell als möglich weglief. Mancher Bregenzerwälder will aus Furcht vor dem großen Wasser auf kein Schiff. Diese Furcht kannte ich nicht. Wenn ein Schiff mit mir unterginge, was wäre daran gelegen? Ich stand still und suchte mir’s auszumalen, bis ich schon das Zischen und Tosen zu hören meinte. Es ließe sich wohl herrlich ruhen da unten in der blauen Tiefe. Meine Landsleute hätten dann gesagt: Da hat er’s nun! Immer wollte er weiter als andere – nun tröst’ ihn Gott und lasse dem Ruhelosen auf der Welt die ewige Ruhe! Es ist ihm leicht wohler als bei uns. – Ja, so hätten sie gesagt, und mit Recht. Mein Gut wäre von anderen leicht wieder so geschickt als durch mich verwaltet worden, und mit allem Träumen und allem Unfriede wär’s aus gewesen für immer. Die Mutter – nun, sie hätte kummerfrei gelebt – vielleicht – und neben mir konnte sie das nicht. Warum aber nicht? War ich denn gar nichts, überall zu allem unfähig? Nein, ich konnte arbeiten so gut als andere, wenn ich meine Kräfte recht zusammen nahm. Es erfaßte mich ein rechtes Heimweh, das mich nicht mehr ermüden ließ, bis abends spät unsere Haustür hinter mir ins Schloß fiel.

Felders Autobiographie ist vor Kurzem auch auf Englisch erschienen: „A Life in the Making“, London, Pushkin Press 2021. Translated by David Henry Wilson

 

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