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Solange der Vorrat reicht

Vor mehr als 40 Jahren erschien das legendäre Buch „Die Erben der Einsamkeit“, in dem Aldo Gorfer (Text) und Flavio Faganello (Bild) die abgelegensten Bergbauernhöfe Südtirols porträtierten. Quart unternimmt in einer Artikelserie den Versuch, an diesen Orten wieder einmal Nachschau zu halten. – Folge 3: ein Streifzug durch das Vinschgau und das Ultental unter besonderer Berücksichtigung der Speisekammer. Von Simone Mair / Lisa Mazza (Text) und Nicolò Degiorgis (Bild)

Wir sind nun zum dritten Mal den „Erben der Einsamkeit“ auf der Spur, suchen nach den gefüllten Vorratskammern der Bergbauernhöfe und gehen der Frage nach, wie die sich ursprünglich selbst versorgenden Bergbauern zu Unternehmern geworden sind. Es geht nicht nur um den konkreten physischen Ort der Vorratskammer – ein Raum, in dem Lebensmittel aufbewahrt werden, meist in der Nähe der Küche –, vielmehr interessiert uns die Tatsache, dass am Bauernhof nicht nur für den unmittelbaren Gebrauch der Hofbewohner produziert wird, sondern neue nachhaltige Wege gesucht werden, Produkte zu erzeugen und diese in Kooperation mit anderen über neue Distributionskanäle zu verkaufen oder Gästen anzubieten. In unserer kollektiven Vorstellung mangelt es an genau diesen Bildern von einem umfassenden Produktionssystem. Wir kennen Bilder mit den Kühen am Hof und Gästen beim Essen, aber uns fehlen die großen und komplexen Zwischenschritte, die Teil der Nahrungsmittelproduktion sind. Hermann Wopfner, Innsbrucker Historiker und Volkskundler, hat seit den 1920er Jahren die Lebensformen der Tiroler Bergbauern im Norden, Süden und Osten des Landes erforscht. Seine Aufzeichnungen sind im dreibändigen „Bergbauernbuch“ festgehalten. Darin schreibt er u. a. über die fehlenden Infrastrukturen, die dazu geführt haben, dass Bergbauern sehr lange ausschließlich Selbstversorger blieben und erst spät ihre Produkte in wirtschaftliche Kreisläufe einspeisen konnten, um mit ihrem Angebot regelmäßig auf Märkten präsent zu sein. Der Inhalt der Vorratskammer war historisch betrachtet ein Abbild des Wohlstandes, er sorgte für wirtschaftliche Unabhängigkeit und Freiheit. Der Begriff Vorratskammer hat aber auch mit Verwundbarkeit zu tun. Als Bauer war man ständig dem Risiko ausgesetzt, dass ein Erntejahr durch unkontrollierbare Außenwirkungen ausfallen könnte, das Lagern der Produkte gab Sicherheit. Außerdem müssen die Lebensmittel, die angebaut werden, natürlich auch an den Ort gelangen, an dem sie konsumiert werden. Der Einblick in die Vorratskammer – als Speicher von Produkten, aber auch von Wissen und Verbindungen sowie als Spiegel der Natur und eines Ökosystems um den Bergbauernhof – ermöglicht es, ein Bild nachzuzeichnen und verschiedene Entwürfe von (nachhaltigem) Leben zu beobachten.

Der am niedrigsten gelegene von den beschriebenen Höfen liegt auf 1.250 m ü. d. M., der höchste auf 1.689 m. Straßen, zum Großteil asphaltiert, sind überall vorhanden, auch wenn diese freilich nicht vor Naturgewalten wie etwa zerstörerischen Lawinen schützen.
Es handelt sich durchwegs um Bergbauernhöfe: im Vinschgau der Linthof und der Grubhof, beide am Sonnenberg oberhalb von Naturns, sowie der Forrahof und der Egghof in Sankt Martin im Kofl. Alle diese Höfe waren Teil der in den 1970er Jahren durchgeführten Enquete von Aldo Gorfer und Flavio Faganello und werden im Buch „Die Erben der Einsamkeit“ beschrieben. Wir haben aber auch drei Bergbauernhöfe besucht, deren Besitzer dabei sind, eigene Wege in der Distribution ihrer Produkte auszutreten, in Zusammenschluss mit Gleichgesinnten: den Psegghof am Tschengelsberg, den Faslarhof in Stilfs (beide im Vinschgau) und den Unterschweighof in St. Nikolaus im Ultental.

Linthof
Dienten im 15. Jahrhundert die landwirtschaftlichen Produkte vom Linthof (1.464 m) noch dazu, die Mönche im nahe gelegenen Kloster Kartause zu sättigen, so werden sie heute fast ausschließlich für die Gäste – es sind vor allem deutsche Touristen – verkocht. Die Vorratskammer besteht aus mehreren Kühlzellen, in denen das hofeigene Fleisch (hauptsächlich vom Schaf) sowie das Gemüse aus dem Garten gelagert werden. Sie befindet sich in der modern ausgestatteten Küche, in der der Bauer Albert Fliri für die Gäste kocht.
Seit den 1980er Jahren wurde der Hof, auf dem die Familie Fliri lebt, laufend modernisiert, zuerst als Jausenstation ausgebaut, dann als Berggasthof mit Zimmervermietung. Die Spuren jener Zeit, in der sich die Hofbewohner noch mit Anbau von Korn und dem hofeigenen Mehl selbst versorgten, sind nur mehr in Form der noch erhaltenen Mühle zu erkennen. Die Stube ist immer noch die Stube, nur der Herrgott hat den Winkel gewechselt und die Täfelung ist moderneren Materialien gewichen. Die Verbindung ins Tal ist über eine kurvenreiche geteerte Straße, die nahe gelegene Seilbahn und tägliche verkehrende Busse gewährleistet.

Grubhof
Auch die Ökonomie des Grubhofs, ehemaliger Standort einer „Zwergenschule“, basiert zu einem großen Teil auf dem Tourismus. Der kleine Schulraum, in dem noch bis Mitte der 1990er Jahre der Grundschulunterricht abgehalten wurde und der für den einzigen Lehrer bei schlechter Witterung auch eine Übernachtungsmöglichkeit bot, ist mittlerweile eine der drei Ferienwohnungen für Gäste, die vor allem aus Deutschland kommen. Im Dachboden des Bauernhauses sind weitere zwei Wohnungen untergebracht, den Rest bewohnt die Familie Weithaler. Die große Stube wird mit den Gästen als Aufenthaltsraum geteilt.
Die Milchwirtschaft ist ein weiteres wirtschaftliches Standbein des Hofes. Aus dem Stall hat man eine schöne Aussicht ins weite Tal, wohin auch die Milch täglich transportiert wird. Der Blick gleitet über eine Landschaft, die kleinere und größere Narben aufweist, Wiesenstücke sind abgerutscht, unzählige kleine orange Bagger sind damit beschäftigt, Wiesen zu planieren, die Schäden der unberechenbaren klimatischen Bedingungen aus dem Weg zu räumen. Die Milch ist ein Produkt, das in eine erweiterte Vorratskammer – einen nahe gelegenen Milchhof – einfließt, alle anderen Erzeugnisse werden für die Familie in der privaten Speisekammer gelagert.

Forrahof und Egghof
Dort, wo (immer noch) keine asphaltierte Straße hinführt, nur ein holpriger Forstweg, ist die Küche die Selchkammer und der Speck schwebt an der rußigen Decke oberhalb eines hochmodernen Kühlschranks. Der Forrahof auf 1.689 m in Sankt Martin im Kofl wirkt wie festgeklammert am Hang, die Zeit scheint stehengeblieben. Drei Milchkühe stehen im Stall und ermöglichen ein Zubrot. Die erwachsenen Kinder des Ehepaars Holzknecht haben geheiratet und leben auf benachbarten Höfen oder im Tal. Sie sind es, die die Eltern mit einem Großteil der Lebensmittel versorgen. Geheizt und gekocht wird mit Holz. Der Kaktus, der sich neben einer Geranie eng ans Innenfenster der Stube schmiegt, wirkt wie ein Exot in der kargen Umgebung.
Am nahe gelegenen Egghof wird die Gastwirtschaft seit Kurzem nicht mehr betrieben. Auch hier wird die Vorratskammer vorerst wohl ausschließlich den Eigenbedarf abdecken.

Unterschweighof
Schon früh wusste der mittlerweile 22-jährige Thomas Berger vom Unterschweighof (1.750 m) in Sankt Nikolaus, dass er einmal den komplett biologisch geführten Hof übernehmen möchte. Auch wenn er noch nicht der Bauer ist und einem Nebenerwerb im nahegelegenen Skigebiet nachgeht, ist er bereits jetzt maßgeblich in die Entscheidungen am Hof eingebunden und war die treibende Kraft bei der Umstellung der Nahrung der Kühe weg vom Kraftfutter.
Am Hof gibt es eine eigene Käserei, in der fast täglich Kuhmilch zu Käse, Joghurt und Butter verarbeitet wird, es werden die verschiedensten Kräuter angepflanzt und getrocknet, um in Tee oder Kräutersalz Verwendung zu finden, Rind- und Schweinefleisch wird verarbeitet und es gibt Eier. Daneben bilden die Ferienwohnungen am Hof eine regelmäßige Einnahmequelle. Als es im März 2020 aufgrund der sich verbreitenden Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkungen nicht mehr möglich war, auf Märkten die eigenen Produkte zu verkaufen, wurde man erfinderisch. Gemeinsam mit drei anderen Höfen hat man beschlossen, online zu gehen und die Verkaufsplattform „Der Bauer bringt’s“ zu lancieren. Wenn der Kunde nicht zum Bauern kommen kann, um direkt aus der Vorratskammer zu schöpfen, bringt der Bauer seine Produkte in regelmäßigen Abständen mit dem Lieferwagen zum Kunden. Mittlerweile bestellen um die 30 Familien regelmäßig per WhatsApp ihre Produkte. Der logistische Aufwand ist groß, doch ist es ein zukunftsweisendes Vertriebsmodell, das zum regionalen Denken beim täglichen Konsum motiviert und den persönlichen Austausch zwischen Produzenten und Verbrauchern stärkt.

Faslarhof
Manuel Haas lebt auf 1.486 m oberhalb von Stilfs. Er hat mit fünfzehn sein erstes Stück Wiese gekauft und führt mittlerweile mit seiner Frau Petra Gerstl den Faslarhof, auf dem neben einigen anderen Tieren seit dreieinhalb Jahren auch Ziegen leben. Nebenbei arbeitet der gelernte Elektriker noch im Tal, früher oder später möchte er sich aber ganz der Bauernschaft widmen. Die Milch der 71 biologisch gehaltenen Ziegen wird seit 2019 jeden zweiten Tag an die Prader Dorfkäserei geliefert, wo sie gemeinsam mit der Ziegenmilch von drei anderen Bauern aus der Umgebung zu verschiedenen Käsesorten verarbeitet wird. Bei der Tierhaltung und der Verarbeitung wird Wert darauf gelegt, alles so natürlich wie möglich zu halten: Kräutersalben statt Antibiotika, Heu statt Kraftfutter, thermisierte statt pasteurisierter Milch. Ziegenkäse ist aber nur eines von vielen Produkten vom Faslarhof: Es wird Brot gebacken, Fleisch verarbeitet, es werden Salben gemischt, Sirupe und Schnäpse angelegt und es gibt natürlich Eier. Die Schätze der Vorratskammer dienen der Versorgung der eigenen Familie – aber nicht nur. Die tiefe Überzeugung für das Bauer-Sein und die Verbundenheit zum eigenen Grund und Boden haben auch dazu geführt, im eigenen Dorf aktiv zu werden mit der Gründung einer Bauernjugend-Gruppe sowie der Initiative „Leidenschaft für Grund und Boden“. Begriffe, die historisch betrachtet eine politische Konnotation haben, werden hier eingesetzt, um nahe an der Natur Landwirtschaft zukunftsfähig zu machen und vor allem lokale Kreisläufe aktiv lebendig zu halten.

Psegghof
Philipp Thoma und seine Frau Alexandra Zöggeler haben vor fünf Jahren ihren Traum realisiert und sich oberhalb von Tschengels den Psegghof gekauft, auf dem sie mittlerweile über 500 Hühner halten. Ihre Absicht war es, in und mit der Natur zu leben, außerhalb der Zivilisation der Südtiroler Kleinstädte ein nachhaltiges, selbstbestimmtes Leben mit ihren beiden Kindern zu führen. Smartphone und Misthaufen leben hier in Symbiose und stehen nicht im Widerspruch. Um dieses Leben in Bescheidenheit und Abgeschiedenheit –
aber auch mit großer Autonomie – zu ermöglichen, fließt ein Großteil der Zeit und Energie am Hof in die Haltung von Hühnern und den Vertrieb der Bioeier. Gemeinsam mit drei anderen Bauern wurde eine Genossenschaft gegründet, die mittlerweile täglich 2.000 Eier produziert. Da ein Ei laut Vorschrift nicht länger als 28 Tage hält und der Absatz coronabedingt stark abgenommen hat – die Hühner haben keinen Produktionsstopp eingelegt –, ist man erfinderisch geworden. Demnächst kommt der erste biologische Südtiroler Eierlikör auf den Markt, auch die Produktion einer Biomayonnaise steht schon in den Startlöchern. So wird ein Produkt, das eine nur sehr kurze Verweilzeit in der Vorratskammer hat, durch die Weiterverarbeitung haltbarer gemacht.
Ähnlich wie auf den meisten anderen Höfen sind es die Frauen, die mit Kräutern experimentieren oder (wie am Psegghof) auch mit Permakultur arbeiten. Was bei den Bergbauern-Quereinsteigern jedoch fehlt, ist die ältere Generation für eine Entlastung im Alltag. Für diese Lücke hat man eine zeitgenössische Lösung und damit eine teilweise Entlastung gefunden: das Wwoofing, ein Netzwerk für freiwillige Helfer. Ohne diese Idee wäre es nicht möglich, über die Sommermonate die Arbeit am Hof zu bestreiten. Längerfristig möchten Philipp und Alexandra ihren Hof noch stärker als Teil eines sozialen Gefüges begreifen.

Indem die Familien am Unterschweighof, am Faslarhof und am Psegghof ihre Produkte gemeinsam mit anderen vertreiben, setzen sie ein Zeichen. Die individuelle oder familiäre Vorratskammer wird zu einer gemeinschaftlichen, da sie nur durch Kollaboration mit anderen gefüllt werden kann. Könnte das die heutige Antwort auf die Einsamkeit am Berg sein – die Kollaboration? Können visionäre Bäuerinnen und Bauern, die auch in der Zukunft nachhaltige Spuren hinterlassen und diesen Weg gemeinsam mit anderen bestreiten wollen, durch Verflechtungen, Verbindungen und Austausch der gegenwärtigen ökologischen Krise entgegenwirken?

 

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