zurück zur Startseite

Aus der Vielteilchenwelt

Hannes Pichler erforscht, was unser Universum zu dem macht, was es ist. Er denkt darüber nach, wie die Computer der Zukunft mit den enormen Datenmengen, die wir sammeln und generieren, rechnen könnten. Kürzlich erhielt er einen ERC-Starting Grant des Europäischen Forschungsrats – die mit 1,5 Millionen Euro höchstdotierte Auszeichnung für junge Wissenschaftler in Europa. Damit wird er in den kommenden fünf Jahren an der Universität Innsbruck und der Österreichischen Akademie der Wissenschaft zu Quanten-Vielteilchenphysik und Quanteninformationsverarbeitung forschen. Die Schriftstellerin Andrea Grill traf Pichler an einem für Quantenphysiker fast altmodisch anmutenden Ort: online. Die Quintessenz der E-Mails, in denen der Forscher einen Einblick in sein Leben als Physiker gibt, ist hier zu lesen.

Mathematik hat mich in meiner Kindheit und Jugend schon interessiert. Lange bevor mir klar wurde, dass man mit der Sprache der Mathematik zu einem relativ tiefen Verständnis des Universums kommen kann, haben mich Zahlen fasziniert, ich habe mich mit ihnen leicht getan. Erst im letzten Schuljahr fing ich an, mich für Physik zu begeistern, als ich mich in Quantenmechanik und Relativitätstheorie einlas und mir die Möglichkeiten der Mathematik zur Erforschung der Welt bewusst wurden.

Heute arbeite ich auf atomarer Ebene. In diesem Maßstab verhält sich die Welt anders, als wir es gewöhnt sind. Wir sind es beispielsweise gewöhnt, den genauen Ort jedes Objekts zu kennen, wenn wir ein Objekt sehen, dann „wissen“ wir, dass es sich dort befindet, wo wir es sehen. In Wirklichkeit ist das aber nur bei oberflächlicher Betrachtung so. Wenn man ganz genau hinsieht, auf mikroskopischer Ebene, merkt man, dass Objekte nicht immer einen bestimmten Ort haben, sondern in gewisser Weise an mehreren Orten gleichzeitig sein können. Für dieses Phänomen haben die Physiker das Wort „Superposition“ eingeführt.

Die Quantenphysik wird oft als mysteriös empfunden, weil sich die Welt bei genauer Betrachtung nicht so verhält, wie wir es von unserer täglichen Wahrnehmung gewohnt sind. Die Tatsache, dass Licht sowohl Teilchen als auch Welle ist, wäre ein gutes Beispiel dafür. Unsere alltäglichen Erfahrungen, die unsere Intuition, unseren „gesunden Menschenverstand“ formen, sind für das Verständnis der Quantenmechanik nicht immer hilfreich.

Quantenmechanische Effekte als Hoffnungsträger

Den ERC-Grant habe ich für meine Forschungsvorhaben in theoretischer Quantenoptik erhalten. Ich beschäftige mich mit der Wechselwirkung von Materie mit Licht.
Ich versuche zu verstehen, wie komplexe Quantensysteme funktionieren, welche Phänomene es in der Quantenvielteilchenwelt gibt und ob man diese zur Informationsverarbeitung nutzen kann. Quantenmechanische Effekte könnten einerseits spektakuläre Anwendungen wie Quantencomputer ermöglichen, andererseits sind sie – gerade bei vielteiligen Systemen – so komplex, dass sie auch für uns Physiker nicht leicht zu verstehen sind. Mein Team beschäftigen hauptsächlich zwei Fragen: (1) Wie können wir Eigenschaften von quantenmechanischen Systemen bestmöglich für neue Technologien nutzen? (2) Welche mathematischen Methoden können wir entwickeln, um Quantenvielteilchensysteme besser zu verstehen?

Klassische Computer sind Maschinen, die Information mithilfe von klassischen physikalischen Systemen darstellen und manipulieren. Abstrahiert kann man sich das so vorstellen: Ein Bit an Information wird dargestellt, indem der Computer ein Objekt an einem von zwei möglichen Orten platziert. Soll diese Information später ausgelesen werden, überprüft der Computer, an welchem Ort sich das Objekt befindet, er kann die Information auch manipulieren und das Objekt verschieben. Quantencomputer hingegen gehorchen quantenmechanischen Gesetzen. Auch sie können den „Ort“ eines Objekts verwenden, um Information zu speichern. Aber da ein Quantenobjekt an verschiedenen Orten gleichzeitig sein kann, ist die Qualität der Information, die mit einem Quantenobjekt dargestellt werden kann, eine andere. Man spricht von einem Quantenbit. Das sind natürlich abstrakte Beispiele zur geistigen Annäherung an die Sachverhalte. Eigentlich verwenden klassische Computer leichter manipulierbare Eigenschaften von Dingen als „Orte“ zur Speicherung von Information, und auch Quantencomputer verwenden andere Quanteneigenschaften – im Fall von Atomen wären das die Energieniveaus der Elektronen, auch hier kann das Elektron in verschiedenen Niveaus gleichzeitig, zum Beispiel in „Superposition“ sein.
Quantencomputer sind große Hoffnungsträger. Sie sollen Probleme lösen, die heute schwierig erscheinen. Inwieweit das in nächster Zukunft tatsächlich geschehen wird, ist schwer zu sagen. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass wir mit Hilfe von Quantencomputern ein besseres Verständnis von physikalischen Prozessen und Phänomenen erhalten werden, die zum Beispiel in der Materialforschung oder in der Chemie wichtig sind. Solche Erkenntnisse werden sich irgendwann in neuen Technologien oder sogar bisher unbekannten Medikamenten widerspiegeln.

Wo das Licht der Sterne analysiert wird

Ich bin gebürtiger Südtiroler, stamme aus Brixen und habe in Innsbruck Physik studiert, an derselben Universität, an der ich auch jetzt arbeite. Innsbruck ist als Zentrum für Quantenphysik weltweit bekannt und bietet dementsprechend ein tolles Umfeld für mich.

Bevor ich den Antrag für das ERC-Projekt schrieb, war ich fünf Jahre lang in Amerika, zuerst in Harvard am Center for Astrophysics, danach am California Institute of Technology. Dass auch Atomphysiker am Center for Astrophysics forschen, hat historische Gründe. Die Atomphysik war für die Astrophysik immer schon wichtig, weil man akkurate Berechnungen der atomaren Struktur benötigt, um das Spektrum des von Atomen ausgesandten Lichts zu verstehen. In der Folge kann man dann das Licht der Sterne beziehungsweise die Sterne selbst analysieren. Deshalb ist vor Jahrzehnten das Institute for Theoretical Atomic Molecular and Optical Physics (ITAMP) am CfA gegründet worden und vergibt seitdem prestigeträchtige Fellowships an junge Atomphysiker. Einer davon war ich. Obwohl ich mit Astrophysik eher wenig zu tun habe, zumindest befasse ich mich nicht mit explizit extraterrestrischen Dingen. Die Quantenphysik selbst ist aber vollkommen allgemein und spielt daher auch im All dieselbe fundamentale Rolle wie auf der Erde. Für den Physiker ist der Fokus auf das Terrestrische sowieso etwas unnatürlich.

Hochangeregte Atome

Vorarbeiten für das, mit dem ich mich jetzt befasse, waren unter anderem Experimente mit Rydberg-Atomen, benannt nach dem schwedischen Physiker Johannes Rydberg (1854–1919). Das sind Atome, deren Elektron in einen hochangeregten Zustand gebracht wurde – das geschieht zum Beispiel mit einem Laser. Die Umlaufbahn des Elektrons eines Rydberg-Atoms ist um ein Vielfaches größer als die eines gewöhnlichen Atoms. Daher haben Rydberg-Atome vollkommen andere Eigenschaften als Atome im normalen Grundzustand. Die hochangeregten Elektronen wirken beispielsweise wie elementare Antennen; dadurch gelingt es Rydberg-Atomen, über (für atomare Verhältnisse) große Distanzen zu wechselwirken. Rydberg-Atome „leben“ auch länger als Atome auf ihrem normalen Energieniveau. Wegen ihrer großen Ausdehnung – sie können tausende Male größer sein als normale Atome – und der vielen eng nebeneinanderliegenden Energieniveaus, die sie enthalten, reagieren sie sehr stark auf magnetische und elektrische Felder. Rydberg-Atome lassen sich dadurch sehr gut kontrollieren und eröffnen folglich neue Möglichkeiten für die Verwirklichung eines Quantencomputers.

Dass ich mich um einen ERC Grant bewerben würde, wusste ich bereits in meiner Zeit in den USA. Es ist die bestdotierte Auszeichnung für Forscher am Beginn ihrer Karriere und erhöht die Sichtbarkeit nach außen enorm. Ich bin seit April 2020 Professor für Theoretische Physik mit Schwerpunkt Quantenoptik an der Universität Innsbruck und leite zusätzlich eine Arbeitsgruppe am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In Kombination mit dem ERC sind das ideale Rahmenbedingungen, um meine Arbeit voranzubringen.

Ein fokussierter Moment

Die Vorbereitungen für den Antrag habe ich im Sommer 2020 begonnen. Ich nahm mir einen Monat Zeit, um Ideen zu sammeln und mir eine grobe Vorstellung zu verschaffen, welche Forschungsvorhaben dafür passend wären. Danach habe ich mehrere erfolgreiche Anträge gelesen, die mir dankenswerterweise von Kollegen zur Verfügung gestellt wurden. Meinen Antrag habe ich dann innerhalb eines Monats kurz vor der Einreichfrist im Frühjahr 2021 geschrieben. Um dem Text den letzten Schliff zu geben, habe ich die gesamte Zeit bis zur Einreichfrist ausgenützt. Das habe ich im Wesentlichen alleine gemacht.

Nach der Einreichung hat es mehrere Monate gedauert, bis ich erfahren habe, dass mein Antrag die erste Gutachterrunde überstanden hatte und ich zum finalen Interview eingeladen bin. Die Vorbereitung dieses Interviews hat dann noch mal einen guten Monat in Anspruch genommen. Ich habe dabei das Interview mit meinen Kollegen und Mentoren mehrmals durchgespielt – was extrem hilfreich war.

Als theoretischer Physiker arbeite ich oft ganz klassisch mit Bleistift und Papier – beziehungsweise mit iPads. Das Entwickeln von neuen Ideen ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, oft braucht es nur einen fokussierten Moment und ein Medium, um Ideen festzuhalten. Natürlich verwenden wir dann in Folge oft Computer, um komplizierte Berechnungen durchzuführen und diese Ideen auszuarbeiten. Viele meiner Gedanken kreisen um die Frage: Wie kann man mächtige Computer nutzen, um Fragestellungen der Quantenmechanik zu beantworten. Zur Umsetzung sind Computer Voraussetzung, die Ideen dafür kann ich aber im Kopf finden.

Wenn das Problem, das ich lösen möchte, in mathematischer Form gegeben ist, zum Beispiel als ein komplizierter mathematischer Ausdruck, den ich verstehen möchte, versuche ich oft, den Ausdruck in verschiedene äquivalente Darstellungen zu bringen, in der Hoffnung, dass er in einer davon einfacher interpretierbar ist. Habe ich schon eine Hoffnung, wie das Problem zu lösen sein könnte, muss ich „nur“ noch die entsprechende mathematische Darstellung finden. Wir Physiker sagen dazu, „wir massieren die Gleichungen“. Bis sie in einer Form sind, die uns gefällt.

Ich zeichne viel. Visuell kann ich ganz anders über Dinge nachdenken. Ich sehe die Eigenschaften von mathematischen Beschreibungen manchmal viel einfacher, wenn ich ihnen eine geometrische Bedeutung gebe. Ein Beispiel: Die Gleichungen, die die Wechselwirkung von Licht mit dem Elektron eines Atoms beschreiben, kann ich auch als Pfade auf der Oberfläche einer Kugel interpretieren. Sie lassen sich visuell sehr einfach darstellen. Über diese Äquivalenz kann ich relativ einfach herausfinden, wie ich Atome am effizientesten mit Licht manipuliere, indem ich über Pfade auf einer Kugel nachdenke. Das wiederum geht am einfachsten, wenn ich zeichne.

Wie jede Leidenschaft kann die Physik sehr einnehmend sein. Ich arbeite oft bis spät nachts. Ideen halten mich wach oder wecken mich gar auf. „Abzuschalten“ kostet mich Überwindung. Deswegen versuche ich gewisse Zeiten, zum Beispiel am Wochenende, explizit vor Arbeit zu schützen. Es hilft, wenn man Lebensgefährten hat, die einen von Zeit zu Zeit an andere schöne Dinge wie Kunst und Literatur erinnern.

Der richtige Mathelehrer

Die Physik hat in den letzten Jahren – soweit ich das beurteilen kann – eigentlich an Popularität gewonnen. Trotzdem ist die Begeisterung für Physik kein Massenphänomen und schon gar nicht der Wunsch, sich tiefergehend mit ihr zu beschäftigen. Ich denke, dafür gibt es mehrere Gründe. Ein gewisses mathematisches Talent ist natürlich Voraussetzung, da Mathematik nun einmal die Sprache der Physik ist. Diese Hürde schreckt viele ab. Darüber hinaus werden die spannenden Bereiche der Physik in der Schule selten behandelt. Das dafür nötige mathematische Handwerkszeug ist oft anspruchsvoll und wird in der Schule noch nicht entwickelt. Leider hat das die Konsequenz, dass der Teil der Physik, der in der Schule gelehrt wird, oft vergleichsweise trocken ist. Zum wirklich Spannenden kommt man erst an der Universität oder in der eigenen Forschung. Ich hatte in der Schule Glück mit meinem Mathematiklehrer, der ausgebildeter Physiker war. Er hat mir klar gemacht, wie sich die Mathematik aus der Sicht der Physiker betrachten lässt.

Ein Trick, um Physiker zu werden

Ein Trick, um die Überlegungen der Quantenphysiker besser verstehen zu können, wäre womöglich, sich vorzustellen, ganz winzig zu sein und in der Welt der Atome zu leben, in der dann also der Großteil leer ist, und ab und zu stoße ich auf einen Atomkern. Als Brücke, um sich zu vergegenwärtigen, dass sich die Welt der Quantenphysik auf atomarer Ebene abspielt, kann das hilfreich sein. Aber leider kommt man darüber hinaus nicht viel weiter, weil die menschliche Intuition da zusammenbricht. Zum Beispiel könnte man versuchen zu verstehen, wie man als winziges in der Quantenwelt lebendes Wesen das oben beschriebene Phänomen der Superposition wahrnehmen würde. Die Antwort ist: gar nicht. Man könnte selbst an verschiedenen Orten gleichzeitig sein, aber man hätte keinen Sinn, der das wahrnehmen könnte. Nicht, weil man als Mensch keinen solchen Sinn hat, sondern weil es physikalisch unmöglich ist.

Übersetzungsversuche

Die Texte, die ich schreibe, um meine Forschungsergebnisse in Fachzeitschriften zu publizieren, sind für Leute ohne physikalische Vorkenntnisse schwer zugänglich. Ausdrücke wie Quantum Spin Liquid stehen für Konzepte, die sogar innerhalb der Sprache der Physik schwierig zu erklären sind. De facto werden oft weitere Fachausdrücke verwendet, um solchen Begriffen Bedeutung zu geben. Eine allgemein verständliche Erklärung würde daher zuerst einer allgemein verständlichen „Erklärung der Erklärung“ bedürfen.

Demokratie im „ansatz“

Es gibt ein Wort aus dem Deutschen, das in der Mathematik auch in englischen Texten verwendet wird, dann jedoch in einer rein technischen Bedeutung. Das ist das Wort „ansatz“. Es beschreibt eine ganz spezielle „Methode“ zur Lösung von mathematischen Problemen – wobei man die Lösung eines Problems – grob gesagt – errät. Diese Bezeichnung wurde wohl schon zu Zeiten entwickelt, als Englisch noch nicht die Lingua franca der Wissenschaft war, und ist erhalten geblieben. „ansatz“ hat eine viel speziellere, abgegrenzte Bedeutung als „approach“. Ich gehe davon aus, dass diese Präzision von Mathematikern und Physikern geschätzt wird und dies der Grund ist, warum der Begriff heute noch so verwendet wird.
Als jemand, der in der Grundlangenforschung tätig ist, bin ich für meine Forschung großteils von öffentlichen Geldern abhängig. Die Frage nach dem „Nutzen“ meiner Arbeit ist daher durchaus berechtigt. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass sich die Investition in reine Grundlagenforschung, ohne direkte Anwendungsorientierung, für die Gesellschaft langfristig auf verschiedenste (nicht immer absehbare) Arten auszahlt. Die schwierige Entscheidung ist, wie groß idealerweise der Anteil der Forschung ohne direkt absehbaren Nutzen am gesamten Forschungsbudget sein soll. Ich sehe zur Beantwortung dieser Frage keine bessere Möglichkeit als den demokratischen Diskurs, sowohl innerhalb der gesamten Gesellschaft als auch innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft.

Viele Dinge in der Quantenmechanik kann man mit unserer Intuition aus dem klassischen Alltag, wie gesagt, nicht begreifen. Aber man kann sich durchaus eine Intuition für die Quantenphysik aneignen: Als Quantenphysiker verbringe ich ja (zumindest gedanklich) viel Zeit in der Welt der Quanten, dadurch kriege ich auch eine Intuition für deren Gesetzmäßigkeiten. Stellen wir uns vor, es gäbe „Flatlanders“, die in einer zweidimensionalen Welt leben. Wenn die plötzlich einer Orange begegnen, nehmen sie nur den Kreis wahr, über den die aufgeschnittene Orange ihre Welt berührt. Sie haben keine Vorstellung, was eine Orange ist. Doch ein Flatlander, der sich lange genug mit dem Gedanken an eine dritte Dimension beschäftigt – so mühsam das anfangs auch sein mag –, könnte sich irgendwann gedanklich durchaus gut in einer 3D-Welt zurechtfinden. So ähnlich ist es wohl auch mit der Quantenphysik.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.