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Chernobyl Safari

Die Künstlerin Anna Jermolaewa dokumentiert seit 2015 das Leben in der 30-Kilometer-Sperrzone rund um den Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl / Ukraine, die nach der Atomkatastrophe zu einer Art Naturschutzgebiet erklärt wurde. Luchse, Wölfe, Adler, Wildpferde und andere seltene Tiere leben in dem fast menschenleeren, verwilderten Gebiet unter dem Einfluss der radioaktiven Kontamination. Für Quart hat die Künstlerin die folgenden Doppelseiten zusammengestellt. Mit einem einleitenden Text von Scott Clifford Evans:

Ein zentraler Grundsatz der Tiefenökologie postuliert, dass der Mensch bei ökologischen Entscheidungen keine Vorzugsstellung gegenüber Pflanzen oder Tieren genießen sollte. Wenn eine solche Symbiose zwischen Mensch, Pflanze und Tier sich nicht erreichen lässt, sind die Folgen unschwer abzusehen. Die Menschen haben wiederholt gezeigt, dass sie imstande sind, diesen Planeten mutwillig zu zerstören, und die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ist wohl eines der besten Beispiele dafür. Dies untermauert vielleicht einen gängigen ökologischen Standpunkt, nämlich dass es der Erde ohne Menschheit viel besser gehen würde.

Aber ist eine Welt ohne Menschen überhaupt denkbar? Genau das – eine Welt ohne Menschen – versucht Anna Jermolaewa zu imaginieren, indem sie uns mit Chernobyl Safari (2014/21) die Tierwelt der Sperrzone von Tschernobyl präsentiert. Da niemand jagt oder in das Habitat dieser Tiere eindringt, weil die Bevölkerung aus der Zone evakuiert wurde, konnte die lokale Fauna trotz ständiger hoher Strahlenbelastung gedeihen. Tatsächlich ist das Gebiet zu einem Tierparadies geworden, wo über vierhundert Arten leben, von denen fünfzig als gefährdet gelten.

Jermolaewa besuchte 2014 und ein weiteres Mal 2021 die Sperrzone und ging in diesem unfreiwilligen Naturschutzgebiet auf Safari. Sie streifte durch Wälder und Felder und sammelte Trophäen mit ihrer Kamera, manchmal auch mit Foto- und Videofallen. Bei dem Projekt geht es jedoch nicht um einen Dokumentarfilm; die Tiere, die die Künstlerin nicht mit der Kamera einfängt, zeichnet sie. Für einige dieser Zeichnungen greift sie auf die weit verbreiteten Mythen zurück, die sie über die mutierten und radioaktiven Tiere der Zone gehört hat, und stellt sich vor, wie diese Tiere aussehen müssen.

Chernobyl Safari zeigt das Anthropozän, in dem wir leben, aber ohne uns, von der Menschheit in Ruhe gelassen. Da die Menschen die Welt noch nie ohne mindestens eine Person (sich selbst) erlebt haben, erfordert die Idee einer Welt ohne Menschheit Vorstellungskraft und Fantasie. Letztlich zeigt diese Safari, dass in einem Lebensraum, den Menschen zerstört und dann verlassen haben, Tiere gedeihen können, unabhängig davon, ob wir es uns vorzustellen vermögen oder nicht.

(Übersetzung aus dem Englischen: Margit Pümpel)

 

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