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Fließtext*
Von John von Düffel

„IRGENDWAS MIT WASSER …“ ¶ habe ich immer geantwortet, wenn ich gefragt wurde, was ich einmal machen will. Das ist lange her, aber die Antwort wäre immer noch dieselbe, auch wenn sie nicht mehr dasselbe heißt. Früher bedeutete „irgendwas mit Wasser“, dass ich Schwimmer werden wollte, Langstreckenschwimmer. Meine Spezialstrecke war damals zehn Kilometer Freiwasser Kraul. Ich schwimme sie heute noch, fast jedes Wochenende, nur ohne Stoppuhr. Ich muss nicht mehr schnell sein und keine Wettkämpfe gewinnen. Geschwindigkeit ist nicht der Maßstab. Wichtig ist, dass es fließt: die Bewegung, das Wasser, der Rhythmus des Atems. Es geht nicht um Zeiten, es geht um ZEITLOSIGKEIT. Und das sage ich auch meinem alten Trainer, als er mich fragt, ob ich bei seiner Triathlon-Staffel für einen erkrankten Kollegen einspringen könnte. „Dabei sein ist alles“, meint er, um den Druck rauszunehmen. Ich bin anderer Meinung. Wenn ich schwimme, will ich bei nichts mehr dabei sein, schüttele den Kopf und höre mir selbst bei Sätzen zu, die wie Ausreden klingen und ein bisschen so, als hätte ich Angst. Am Ende sage ich: Na gut. Um nicht als Feigling dazustehen. Aber die Wahrheit ist, ICH HABE ANGST. Die Strecke: Fünfzehn Kilometer Freiwasser im Rhein, flussabwärts von Bad Godesberg nach Bonn. Startzeit: übermorgen früh um acht. Ich schaue auf die Wetterkarte (hoffentlich kein Regen, der den Dreck von den Straßen in den Fluss spült). Ich schaue auf die Wassertemperaturen (18 Grad Celsius, aber das kann sich bei fließenden Gewässern schnell ändern). Am Abend vorher gehe ich die Strecke ab. Viel Schiffsverkehr – Frachter und Tankschiffe aus beiden Richtungen. In den Wellen, die an die Uferbefestigung schwappen, eine Rattenfamilie, die Rattenmutter mit drei Kleinen. Fiepend strecken sie ihre Schnauzen über die schwankende Oberfläche. Das Wasser ist wie ihr Fell schlammbraun, schaumgrau. IN DER NACHT träume ich, dass ich beim Start von einer hohen Rheinbrücke springen muss. Ich bleibe mit einem Fuß im Geländer hängen, verliere das Gleichgewicht und klatsche mit dem Rücken aufs Wasser, aber es ist nicht hart, sondern samtig warm und tief wie die Nacht. Aus irgendeinem Grund macht mich das glücklich. EINE HALBE STUNDE VOR WETTKAMPFBEGINN stehe ich als Einziger in Badehose ohne Neopren-Anzug am Tisch der Wettkampfleitung. Die Frau mit dem Klemmbrett, die mir das Chiparmband aushändigt, nennt mich mutig. Der Trainer malt mir mit einem schwarzen Edding meine Startnummer auf den Oberarm. Es ist bedeckt und windig, die Wassertemperatur beträgt offiziell 16 Grad. Wenigstens hat es nicht geregnet. Wir steigen in Busse, die uns nach Bad Godesberg bringen. Während der Fahrt ist es still, nur in den letzten Reihen feixen ein paar Vereinskumpane mit froschgrünen Badekappen. Die Plastikbezüge kleben an meiner Haut, als ich aussteige. Wir betreten eine leere Autofähre über einen Landungssteg und bekommen die Ansage: DIE SCHNELLEN NACH VORN, DIE LANGSAMEN NACH HINTEN! Schwer zu sagen, wie ich mich einordnen soll. Mein letzter Wettkampf ist über zwanzig Jahre her. Die Fähre legt ab, der Schiffsmotor dröhnt. Alle drängeln und stehen so dicht zusammen, dass ich weder nach vorn noch nach hinten kann. Ich lande in zweiter Reihe, in meinem Rücken eine Wand aus Neopren. Die Anspannung im Nacken, die Leere im Kopf vor dem Start – wie ich das kenne. Der Motor heult noch einmal auf. Die Fähre hat die Mitte des Rheins erreicht und stampft jetzt auf der Stelle, während die Verladerampe sich langsam hinabsenkt in den aufsprudelnden Strom. Doch bevor mir der Fluss durch die offene Klappe entgegenflutet und meine Knöchel umspült, spüre ich an den Fußsohlen einen warmen flüssigen Schwall von hinten. Angst, denke ich, alle, die hier stehen, haben Angst. URIN ist mein letzter Gedanke, als ich ins Wasser springe. Dann geht es los, das Hauen und Stechen. Ich hatte vergessen, wie sehr man schlägt und tritt, geschlagen und getreten wird, bis sich das Knäuel der Schwimmer auseinanderzieht. Der Fluss ist schnell, und die Neopren-Anzüge geben meinen Hinterleuten Auftrieb. Ich werde ein, zwei Mal niedergekrault und weiche zur Seite aus. Immer wieder recke ich den Kopf, um einen Vordermann zu finden, an dessen Fersen ich mich heften kann, doch die starke Strömung treibt uns ineinander. Das Wasser ist so aufgepeitscht und quirlig, ich kriege keinen Rhythmus, keinen Fluss in die Bewegung. So kann man keine fünfzehn Kilometer überstehen. Ich entferne mich weiter ins langsamere Wasser. Ich weiß, dass ich in Ufernähe Zeit verliere und den Schub, den der Strom gibt. Beim Schulterblick sehe ich das Spitzendrittel in der Hauptströmung davonziehen, doch ich beschließe, nicht dabei zu sein. ALLEINSEIN, denke ich, ist alles. Ich schwimme um keine Zeit mehr, ich schwimme um Zeitlosigkeit. Kein Schiffsverkehr für die Dauer des Wettkampfs. Im glatten Wasser kraule ich an der Stelle vorbei, an der gestern die Rattenfamilie untergeschlüpft ist, aber ich hebe den Blick nicht, sondern wende mich ganz dem Wasser zu und denke an nichts mehr. Über den Häuserdächern am Ufer kommt, leicht verschleiert, die Sonne heraus. In den Baumkronen fängt sich das Licht. Ich könnte ewig so weiterkraulen und bin fast enttäuscht, als der Ausstieg in Sicht kommt. Ich kriege einen Holm des Geländers zu fassen, ziehe mich aus dem Wasser und laufe die letzten Meter über die Ziellinie, verwundert darüber, wie viele Schwimmer noch hinter mir sind. Sie traben an mir vorbei in die Wechselzone, wo sie sich aus ihren Neos schälen und auf die Räder steigen. Früher hätte ich mich über so ein Rennen geärgert, jetzt habe ich das Gefühl, eine Art Sieg errungen zu haben, einen halben, und gebe meinen Chip zurück. „WAR’S KALT?“, fragt mich die Frau mit dem Klemmbrett, und ich muss zugeben, dass ich es nicht weiß. Sie grinst und vergleicht die Startnummer auf meinem Oberarm mit ihrer Liste, dann bin ich fertig. Es ist noch so früh und schon Feierabend. „Und was wollen Sie jetzt machen“, fragt sie zum Abschied. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, schaue zum Fluss, der im Licht schwimmt, und sage: „Irgendwas mit Wasser …“

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.  Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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