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Brenner-Gespräch (24): „Meine Musik geht über Klang hinaus.“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 24: der in Basel lehrende Komponist Johannes Kreidler im Gespräch mit Thomas Wördehoff – über Musikinstallationen, das Vertonen fallender Aktienkurse und warum er auf Melodien verzichten kann.

Dass Johannes Kreidler zum Relaxen eine CD mit Sachen von Morton Feldman einschiebt, weckte mein Interesse augenblicklich. Immerhin unterrichtet er im Berufsleben Komposition an der Basler Hochschule für Musik. Und die Vorstellung, dass er in seiner Berliner Küche beim Schnippeln der Frühlingszwiebeln und einem Glas Wein „Coptic Light“ als Klangkulisse laufen lässt, ist schon ungewöhnlich, denn bei Klassikleuten ist das Nebenbei im Hintergrund verpönt. Besonders wenn es um wesentliche Werke vom Kaliber eines Morton Feldman geht. Den hört man entweder in hingebungsvoller Andacht oder ist schlicht genervt. Aber Kreidler chillt und lässt sich von der Musik des
US-Avantgardisten berieseln.

Kreidler ist ein Sonderfall unter den Komponisten. Er heißt nicht nur wie ein legendäres Moped aus dem Schwabenland, er hat auch musikalisch keine Scheu vor der schnöden Wirklichkeit. Seine Musik lässt sich mit gängigen Attributen kaum beschreiben. Schwärmerische Beifügungen werden der Phantasie des
42-jährigen Esslingers kaum gerecht. Hört man sich beispielsweise Kreidlers „Piano Music“ an, fühlt man sich zunächst an die pianistischen Willkürakte einer zu allem entschlossenen Dreijährigen erinnert. Doch gibt man den ersten Widerstand auf, verfangen die kindlich anmutenden Muster des nur scheinbar zufälligen Geklimpers zweier unabhängiger Stimmen ziemlich bald – auch bei gelegentlichen Kollisionen der beiden Stränge. Wenn sich schließlich elektronische Soundeffekte, akustische Störversuche, Verzerrungen oder auch grimassierende Soundschnipsel zwischen die Noten drängen, ist man voll in Kreidlers grellem Kosmos gelandet – oder man hat ermattet ausgeschaltet.


Beim Brenner-Gespräch wirkte der Professor ausgeruht, konzentriert und im Laufe der Unterhaltung zunehmend auch auskunftsbereit.
Thomas Wördehoff: Was haben Sie bei Ihrer Fahrt über die Brennerautobahn gehört?

Johannes Kreidler: Momentan höre ich beim Autofahren so gut wie gar nichts. Wenn, dann streame ich Hörbücher oder Podcasts. Auf der Fahrt hierher habe ich tatsächlich ein Gespräch zwischen Markus Lanz – ist der nicht Tiroler? – und Richard David Precht über den Ukraine-Krieg gehört. Das ist zwar nicht entspannend – eher, leider, spannend.

T. W.: Gibt es Musik, die Sie entspannt?

J. K.: Ja, die Musik von Morton Feldman.

T. W.: Das hören Sie zum Beispiel beim Kochen?

J. K.: Genau.

T. W.: Pop- und Rockmusik interessiert Sie eher als Material?

J. K.: Es gibt auch Popmusik, die ich sehr schätze. Da ist mein Geschmack allerdings eher nostalgisch. Diese Musik schleppt man nach der Pubertät den Rest seines Lebens mit sich rum. In meinem Fall ist das etwa die Musik von Nirvana, die ich immer noch gelegentlich höre.

T. W.: Pop als Fotoalbum.

J. K.: Ja – aber es ist auch gute Musik.

T. W.: Hören Sie Musik mehr analytisch oder interpretieren Sie erst im Nachhinein?

J. K.: Beides. Ich habe ja auch Musiktheorie studiert und dieses Fach ist nicht unbedingt beliebt unter vielen Musikern, weil es im Ruf steht, man könne nur noch analytisch hören, unter Auslassung der Freude an der Musik. Dem würde ich völlig widersprechen: Entweder du hast einen unmittelbaren Zugang zur Musik, oder du hast einfach keine Lust auf Musik. Meine Begeisterung wird sicher nicht durch eine kritische Betrachtung der betreffenden Stücke abgedämpft. Wenn ich bei einer Harmonie eine Subdominante oder einen Dominantseptakkord erkennen kann, verdirbt mir das jedenfalls nicht die Freude, im Gegenteil: Das kann die Wahrnehmung schärfen und vertiefen.

T. W.: Lassen Sie sich von Musik noch mitreißen?

J. K.: Natürlich ist der Sound bei Popmusik etwas, das mich immer wieder fasziniert, gerade wenn ich ungewöhnliche Ansätze bemerke. Beispielsweise in extrem rhythmischen Songs von Beyoncé, bei denen gesampelte Harmonien im Hintergrund sich nochmal in einer abweichenden rhythmischen Form artikulieren – das hat mich begeistert. In letzter Zeit hab ich auch wieder mal das Spätwerk von Alexander Skrjabin genauer angehört – schon schweres Parfüm, diese Musik, aber sie benebelt mich auf eine offene Art, die ich mir doch hin und wieder gerne angedeihen lasse.

T. W.: Der Regisseur Hans Neuenfels wehrte sich in einem Aufsatz dagegen, „von der Gewalt der Kompositionen fortgeschwemmt zu werden. Ich wollte mitgerissen werden“, schrieb er, „nur nicht dumpf, bewusstlos, passiv.“ Erleben Sie diese Vorsicht auch an sich?

J. K.: Ja durchaus. Da würde mir sofort Wagner einfallen, weil dessen Musik bisweilen eine Gewalt hat, die einen gegen den eigenen Willen überwältigen möchte, einen in ihren Strudel hereinziehen will. Und möglicherweise melden sich dann die konstruktiven Abwehrkräfte in mir, wie bei Odysseus und den Sirenen: Man will schon zuhören, sich aber auch nicht mit Haut und Haaren der Süffigkeit von Musik ausliefern, deren Sog einen komplett in ihren Bann ziehen könnte. Die Musik von Wagner – übrigens auch von Skrjabin – will einen ja dominieren; von mir aus geht das in Ordnung, aber ich spüre da ebenso wie Neuenfels eine Art Aufbegehren in mir.
T. W.: Gibt es Musik, die Sie nicht ertragen?

J. K.: Sehr einfache Schlager und Tanzmusik sind schon Sachen, die ich nur schwer ertragen kann. Aber es gibt auch Musik, die ich einfach nicht verstehe. Ich hab’s zum Beispiel nicht so mit Jazz. Natürlich kann ich manchmal die Qualität ganz gut einschätzen, und einiges gefällt mir auch – trotzdem passiert da für mich wenig, es liegt mir irgendwo fern. Außereuropäische Musik versuche ich immer wieder zu hören, aber es bleibt mir auch sehr fremd. Vielleicht ist es auch gut, dass ich nicht alles verstehe.

T. W.: Sind es die Improvisationen im Jazz, mit denen Sie hadern?

J. K.: Ich bin erstmal positiv irritiert von der manchmal sehr komplexen Harmonik im Jazz, die grundsätzlich ja meist tonal verläuft, aber deren Fragmentisierung oder Anreicherung mich oft fasziniert, gerade weil das oft schwer zu verfolgen ist. Die Improvisationspraxis wird wohl eine Klippe für mich bleiben, denn ich bin nun mal Komponist. Ich improvisiere nicht, sondern denke lange über die Noten nach, die ich notiere und dann spielen lasse. Zu meinen Studierenden sag ich immer: Probiert aus, improvisiert – aber zu Hause. Die besten Resultate schreibt dann bitte auf und zeigt es dann auf der Bühne.

T. W.: Ihr Œuvre zeigt ein sehr komplexes und weit gefasstes Verständnis von Musik. Da sind Kompositionen, die Elemente der Konzeptkunst in sich tragen, manchmal auch der bildenden Kunst und auch der Aktionskunst. Mit Ihrem musikalischen Material erreichen Sie einen Großteil des Publikums nicht. Was trennt Ihr Werk vom allgemeinen Musikgeschmack?

J. K.: Meine Musik geht über Klang hinaus. Wenn ich im Konzert sitze, mache ich normalerweise nicht die Augen zu. Die Live-Atmosphäre lebt ja davon, den Interpreten beim Musikmachen zuzusehen. Musik ist also immer multimedial, und ein Stück hat in den meisten Fällen auch einen Titel. Um Musik als reinen Klang wahrzunehmen, müsste man sich schon radikal den unterschiedlichsten Einflüssen und Phänomenen verschließen. Jeder kann sich selbst dabei beobachten, wie bei der Wahrnehmung von Klang und von Musik immer auch andere, scheinbar nebensächliche Phänomene wichtig sein können: wie etwa die Kenntnis eines Titels, das Wissen um den Komponisten, das Erleben der Performance, also der visuelle Aspekt des Musikausübens – das alles beeinflusst unsere Wahrnehmung ja nicht zu knapp und kann daher auch zum Medium einer künstlerischen Gestaltung werden. Und mit diesem Erkennen gäbe es doch das ein oder andere Werk von mir, zu dem sich ein Zugang herstellen ließe.

T. W.: Anders gesagt: Sie isolieren Ihre Musik nicht von den Umständen ihrer Entstehung, sondern erklären kurzerhand die Bedingungen von Komposition und Performance zum narrativen Bestandteil Ihrer Musik. So geschehen etwa bei „Fremdarbeit“ von 2009, einer Kunstaktion, für die Sie einen Komponisten aus China und einen Audioprogrammierer aus Indien mit Ihren Kompositionen belieferten, um sie schließlich zu beauftragen, ein typisches Kreidler-Werk zu komponieren. Dieser eigentlich ja ausbeuterische Vorgang hatte mich neugierig gemacht. Eine wie auch immer poetisch oder musikwissenschaftlich gedrechselte Werkbeschreibung hätte mich vermutlich nicht erreicht.

J. K.: Genau. Diese Vorgeschichte ist ein zentraler Bestandteil dieses Werks.

T. W.: War das Ihre endgültige Abkehr vom Gefühl in der Musik?

J. K.: Das ist keineswegs nur eine private Abkehr von einer Musik, die mit den Wirkungen von Konsonanz und Dissonanz arbeitet. Ich bewege mich einerseits in der Tradition von Neuer Musik und andererseits in Bahnen der Konzeptkunst.
Da erwartet das Publikum seit einiger Zeit auch nicht mehr, dass ein Bild nun unbedingt „anmutig“ sein muss oder dass man bei einem Porträtbild dem Porträtierten auch wirklich tief in die Seele schauen kann. Auch da kann es manchmal nur um Farben und Formen oder um weiße Leinwände gehen.

Kreidlers Konzeptkunst ist ziemlich auf- und anregend fürs Publikum. Nur hat die Sinnlichkeit eines Kreidler-Abends weniger mit der meditativen Einkehr des Konzertsaals zu tun – eine Performance des Basler Professors haut der Hörerschaft meist die Wirklichkeit um die Ohren und ist damit näher bei der bühnensprengenden Theatralik eines Christoph Schlingensief oder den sozialpolitischen Kunstinterventionen von Joseph Beuys.

T. W.: Wo bleibt die Emotion in Ihren Arbeiten?

J. K.: Das Gefühl in der Musik gibt’s schon seit Hunderten von Jahren. In der Musik sind bereits aller Liebesschmerz und die ganze Todestragik dermaßen oft zum Ausdruck gebracht worden – dem habe ich eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

T. W.: Wann dämmerte Ihnen diese Erkenntnis?

J. K.: Ich habe recht früh, also etwa mit neun Jahren, angefangen zu komponieren. Ich schrieb Stücke in der Art von Mozart, Schubert oder Schumann, wie ich sie im Klavierunterricht spielte. Als Teenager habe ich dann irgendwann die Musik von Schönberg, Stockhausen und Cage entdeckt. Ich habe gespürt, dass die Musik von Mozart – so schön sie ist – nicht mehr unbedingt Ausdruck meines Lebensgefühls ist und wenig von der Welt spiegelt, in die ich hineingeboren wurde. Für die steht dann eben doch eher ein Schönberg und noch mehr ein Stockhausen oder Cage. Bis ich dann irgendwann dazu komme, etwas zu machen, was noch keiner gemacht hat von denen. Wo ich vielleicht einen Beitrag zum Verständnis von Gegenwart leiste und auch die Welt bereichern kann.

T. W.: Wolfgang Rihm hat kürzlich in einem Interview eine bemerkenswerte Erkenntnis über das Wesen der Melodie geteilt: „Es ist für die meisten Komponisten nach wie vor schwierig, sich melodisch zu äußern. Weil da die größte Gefährdung einer als gesichert angenommenen Unangreifbarkeit lauert.“ Kennen Sie diesen Konflikt oder sagen Sie: Die Melodie kann mich mal?

J. K.: Ich kann darauf relativ gut verzichten (lacht). Mit Melodie hab ich’s nicht so. Es gibt so viele andere Dimensionen, mit denen man in der Musik arbeiten kann. Eine Melodie gewinnt ihre Qualität im Verhältnis zu einer Tonleiter und der begleitenden Harmonie, und sowas ist in der atonalen Musik nicht mehr gegeben. Klar, auch ich verwende Tonhöhen, die hintereinander irgendwie hoch und runter gehen – aus irgendwas besteht Musik ja immer! Da kann man dann auch irgendwas Melodisches hineininterpretieren, aber eine sangliche Linie, wie man das bei der Musik von Rihm so kennt – mich packt das wenig. Jedenfalls ist Melodie für mich kein Ausdrucksmedium, das mir sonderlich ergiebig scheint.

T. W.: Und ausgerechnet bei „Chart Music“ von 2009, Ihrer Vertonung der Aktienkurse, kommt eine geradezu kindlich anrührende Melodie zum Vorschein.

J. K.: (lacht) Jetzt haben Sie mich erwischt. Das ist ein Stück, das völlig melodisch funktioniert, und es ist dazu noch ein tonales Stück! Es ist mit einer Kinder-Pop-Kompositionssoftware gemacht, die natürlich tonale Harmonien hat. Der Witz daran ist, dass ich diese Melodien von einem ökonomischen Desaster, der Finanzkrise 2008, hergeleitet habe. Es klingt in der Tat gar nicht schlecht, wenn ich das in Anführungszeichen so sagen kann – aber tatsächlich hab ich das gar nicht komponiert, sondern nur arrangiert und aus Aktienkurskurven übertragen.

T. W.: Es hat schon einen ziemlich bösen Witz, wenn ausgerechnet fallende Aktienkurse – und Sie haben ausschließlich fallende Kurse vertont – in einer so anmutig unschuldigen Melodie erklingen.

J. K.: Das ist die Software, die das für mich macht. Aber natürlich habe auch ich einen Anteil daran, weil ich diese Kursdaten in tonale Verläufe übertragen habe. Wichtig ist allerdings, dass es ein Videostück ist. Die Komposition wurde oft im Radio gespielt, aber das hat überhaupt keinen Sinn; beim Hören ist die optische Ebene, also der Kursverlauf, extrem wichtig – nur so kommt die Herleitung der Melodie und somit auch dieser Widerspruch zur Geltung.

T. W.: In Ihrer Bearbeitung von Ravels Bolero haben Sie das ikonische Thema des Originals kurzerhand herausgeschnitten und damit unserer junkiehaften Abhängigkeit von eingängigen Melodien ein gespenstisches Denkmal errichtet. Ein Ausrufezeichen Ihrer Aversion und eine höhnische Verweigerung der Eingängigkeit melodischer Abläufe.

J. K.: Schöne Beobachtung. Mir war gar nicht bewusst, dass meine Aversion gegen Melodien im „Minusbolero“ geradezu konzeptualisiert wurde. Ich hab Ravels Stück immer wieder gehört – das läuft ja in Perioden ab und jedesmal, wenn es wieder von vorn beginnt, kommt erst einmal kurz die Begleitung, bevor die Melodie dann mit einer neuen Instrumentengruppe unerbittlich weitergeht. Diesen kurzen Moment, wo man nur die Begleitung hört, fand ich interessant. Ich fragte mich: Was würde passieren, wenn man das, was man erwartet, also die bekannte Melodie, einfach aussperrt? Und es hat ja fast auch noch eine politische Dimension: Es sind nun mal die ersten Geigen, die erste Flöte, die erste Posaune, die die Melodie spielen, und die Begleitung wird dann „nur“ von den zweiten Geigen, der zweiten Flöte und vom zweiten Horn gespielt. Da bildet sich auch die Hierarchie im Orchester ab. Und mein Stück konzentriert sich für dieses eine Mal auf die zweiten Pulte, gleichsam auf die „Arbeiter im Hintergrund“.

T. W.: Der Bolero lässt sich auch ohne melodische Leitplanke noch relativ einfach konsumieren. Aber nehmen wir ein Stück wie „Ein Heldenleben“ von Richard Strauss. Kürzlich habe ich ein Konzert besucht, und nicht wenige Leute im Publikum nickten nach und nach zwischenzeitlich ein. Ich frage Sie, wie soll ein musikalisch wenig vorbelasteter Mensch mit einem so komplex aufgebauten Trumm wie einer Strauss-Tondichtung umgehen? Oder kann man lernen so etwas zu hören?

J. K.: Das ist nun mal nicht so leicht. Beim „Heldenleben“ muss man es schaffen, die verschiedenen Motive zu identifizieren, Zusammenhänge zu erkennen und sich innerlich eine Art Gliederung zu bauen. Das verlangt einem schon was ab. Der feierliche Konzertcharakter täuscht schnell darüber hinweg, dass es nicht nur darum geht, sich fein zu machen, um sich mal „bespielen“ zu lassen. So einfach ist es nicht: Man muss schon sehr wach sein und aktiv die Musik aufnehmen. Das lässt sich auch trainieren – so ging es mir in meinem ganzen „Hörleben“.

T. W.: Sind es aber nicht manchmal ausgerechnet die Kenner, die den Weg zur Neugier verstellen?

J. K.: Es gibt sicher eine vorauseilende Ehrfurcht bei einigen Leuten, nach dem Motto: Das ist eh nur was für Eingeweihte, da hab ich nichts zu melden. Deshalb gefallen mir übrigens bestimmte Formate, die aus der bildenden Kunst kommen: Installationen, bei denen die Leute selbst entscheiden, wann sie rein- und rausgehen wollen. Bei einem Bild schaust du länger hin und vertiefst dich ins Motiv oder in die Farben, bei anderen gehst du schnell vorbei. Meine Arbeit fokussiert sich immer mehr aufs Installative, das scheint mir die adäquatere Form zu sein. Natürlich interessiert mich auch weiterhin die Konzertform, bei der man gefangen auf dem Stuhl sitzt und gezwungen wird, zuzuhören. Aber im Moment fasziniert mich der begehbare Anlass, auch weil da weniger Zwang zum Entertainment besteht.

T. W.: Warum?

J. K.: Na ja, wenn ich 90 Minuten auf einem Stuhl gefesselt bin, braucht es hin und wieder schon einen Reiz, dann darf es nicht langweilig sein. Bei der Installation ist die Gefahr nicht so groß, weil jeder sich dort bewegt, wie er will.

T. W.: Sehen Sie sich als politischen Komponisten?

J. K.: Eine solche Debatte wird sehr schnell schwammig. Ich kenne Komponisten, die sich schon ein politisches Engagement ans Revers heften, wenn es in ihrer Oper um die Beziehung von zwei Menschen geht. Es gibt Sachen von mir, die ziemlich politisch sind, manche sind es vielleicht eher auf den zweiten Blick. Grundsätzlich würde ich sagen: Wenn ich komponiere, versenke ich mich nicht nur ins Reich der Töne, sondern ich sitze eigentlich immer in dieser Welt, und da findet nun mal gerade der Ukraine-Krieg statt. So etwas fließt immer auch in meine Arbeit ein. Ich würde mich nicht als grundsätzlich politischen Komponisten apostrophieren – unpolitisch bin ich allerdings auch nicht.

T. W.: Interessieren Sie sich für „das Schöne“ in der Kunst?

J. K.: Schönheit sehe ich in der Kreativität. So wie wir uns immer über die Kreativität von Kindern freuen und Kinder selbst ja schon ein kreativer Akt der Biologie sind, so will ich in meiner Kunst die Freude und Schönheit der kreativen Erweiterung unseres Hörens, Denkens und Fühlens entfalten.

T. W.: Wie ist Ihr Verhältnis zur Natur?

J. K.: In meiner Musik kommt Natur, glaube ich, so gut wie nicht vor. Natur ist zur Erholung da. Ich gehe einmal im Jahr wandern, und einmal im Jahr versuche ich, ins Meer zu springen. Dafür ist die Natur gut. Für die Kunst eher nicht.

T. W.: Sie haben am Anfang des Gesprächs gesagt, Sie würden gern etwas kreieren, was noch keiner vor Ihnen gemacht hat. Haben Sie schon eine Idee?

J. K.: So arbeite ich eigentlich immer. Zum Beispiel beim „Minusbolero“. Das Stück zu schreiben, dauerte eine Stunde. Ich hab einfach die Partitur von Ravel genommen und alles Melodische herausgestrichen. Trotzdem hab ich fünf Jahre gebraucht, um dieses Stück zu fertigen. Immer und immer wieder habe ich mich gefragt: Kann man das machen? Ich hab auch recherchiert, ob irgendjemand vielleicht auch diese Idee hatte, hab aber nichts gefunden. Nach fünf Jahren war ich überzeugt, doch, das kannst du machen. Das erwarte ich auch von meinen Studierenden: etwas zu schaffen, was es vorher qualitativ noch nicht gab.

T. W.: Woran arbeiten Sie gerade?

J. K.: Momentan arbeite ich an einer Installation für die Akademie der Künste Berlin. Das sind bildnerische Arbeiten mit Schallwellen, dazu sind dann aus Lautsprechern Sinustöne zu hören, die einen starken Schwingungscharakter haben – also eine Installation mit Schallwellen an der Wand und auch im Raum.

 

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