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Diktatoren der Zukunft am Karersee

Der finale Kampf um Freiheit und Demokratie wird in Südtirol geführt – so sagte es Agatha Christie in ihrem bis heute nicht gerade hochgeschätzten, 1927 erschienenen Kriminalroman „The Big Four“ voraus, in dem der selbstbewusste belgische Privatdetektiv Hercule Poirot in einer Felsenfestung in den Dolomiten ermittelt. War die Autorin jemals am Schauplatz des Geschehens? Eine Ermittlung von Joachim Leitner.

Die Autorin selbst war unversöhnlich und schimpfte noch Jahrzehnte nach Erscheinen von „The Big Four“ über „that rotten book“. Auch die maßgeblichen Agatha-Christie-Biografinnen urteilen streng: Laura Thompson nennt Christies 1927 erschienenen Roman „one of the worst pieces of writing she ever published out“; Gillian Gill spricht von einem eilig zusammengestückelten Potboiler; Janet Morgan hält fest, dass die Bedingungen, unter denen „The Big Four“ entstanden ist, wesentlich interessanter sind als das Buch selbst; noch 2020 taxierte der Guardian den Roman beim Versuch, Agatha Christies erstaunlich nachhaltigen Erfolg zu erklären – mehr als 60 auch Jahrzehnte nach ihrem Tod lieferbare, in so ziemlich alle Sprachen übersetzte Romane und eine verkaufte Gesamtauflage von irgendwas jenseits der Zwei-Milliarden-Grenze –, als „barley unreadable clunker“.*

Wirklich widersprechen lässt sich diesen Urteilen nicht: „The Big Four“ wirkt wie die gehörig aus dem Ruder gelaufene Parodie eines Groschenromans.

Widerspruch gibt es trotzdem.

„The Big Four“, „Die großen Vier“ also, ist einer von Christies „bekanntesten Romanen“ – so steht es in diversen touristischen Handreichungen, die Informationen zu möglichen Ausflugszielen in Südtirol liefern. Beworben wird damit ein „Agatha-Christie-Wanderweg“ am Karersee. Die im Prospekt dafür mitgelieferte Inhaltsparaphrase stapelt einigermaßen tief: „Inspektor Poirot“ stellt in den Dolomiten eine „internationale Räuberbande“. Spätestens hier wiederum müssen die, die „Die großen Vier“ tatsächlich gelesen haben, den Werbestrategen widersprechen. Der Privatdetektiv Hercule Poirot mag in diesem Roman in verschiedensten Rollen auftreten – unter anderem in der seines imaginären Zwillingsbruders –, aber als Inspektor gibt er sich an keiner Stelle aus. Dafür darf er mit einer russischen Gräfin anbandeln, gleich zweimal aus einem fahrenden Zug springen und sein eigenes Ableben inszenieren. Er hält sich zudem für einen besserbetuchten Ermittler, der sich gemeinhin damit brüstet, jedes Rätsel mit Methode und „little grey cells“ vom Ohrensessel aus zu lösen, wenn auch mit außergewöhnlichen Maßnahmen. Denn die „Räuberbande“, der er nachstellt, stiehlt oder marodiert nicht, sondern hat als Ziel die Zerstörung der existierenden sozialen Ordnung mithilfe von Terror und gezielten Tötungen.

„The Big Four“ handelt von einer hanebüchenen internationalen Intrige – und vom befürchteten Ende der zivilisierten Welt. Der finale Kampf um Freiheit, Demokratie und das Überleben der alten Ordnung wiederum wird in Südtirol geführt, in einem Felsenlabyrinth am Latemar und in einer steinernen Festung, die einer der vier Verschwörer, der Großindustrielle Abe Ryland, in den Fels fräsen ließ.

Von hier aus sollen die weltweit wartenden Fußsoldaten des Umsturzes angeleitet werden. Und – in den Worten Poirots, der in „The Big Four“ immer wieder lang und breit erklären muss, was sich aus der Erzählung heraus einfach nicht erschließen will: „Aus ebenjenem Felstunnel in den Dolomiten werden schließlich die neuen Diktatoren der Welt entsteigen. Beziehungsweise würden ihm entsteigen, wenn Hercule Poirot nicht wäre“.

Poirot zieht seine Schlüsse über den drohenden Untergang der freien Welt auf einer Grand-Hotel-Terrasse unweit des Karersees. Dass dieser, wie er anmerkt, inzwischen den „neuen italienischen Namen“ Lago di Carezza trägt, ist einer der Hinweise, die ihn und seinen begriffsstutzigen Stichwortgeber Hastings, der nach einer „cara Zia“ Ausschau hielt, hierher geführt haben, ins – wie Poirot präzisiert – „italienische Tirol“. Der brillante Indizienverketter und werdende Weltenretter dürfte das faschistische Italien also noch nicht als Diktatur und Gefahr für gesellschaftliche Übereinkünfte erkannt haben. Das muss man „The Big Four“ nicht auch noch zum Vorwurf machen. Christie und ihr Roman befinden sich damit Mitte der 1920er Jahre gerade in Großbritannien in guter Gesellschaft. Aber es entbehrt nicht einer einigermaßen bitteren Ironie, dass ausgerechnet in den gewaltsam zwangsitalianisierten, alpinen Ausläufern der Duce-Diktatur über das Heraufdräuen neuer Diktaturen gefachsimpelt wird.

Pate für den Teufel, den Agatha Christie in „The Big Four“ mit selbst für ihre Verhältnisse breitem Pinsel an die Wand malt, war die russische Revolution von 1917. Diese sei im Grunde wenig mehr als ein Vorfeld-Versuch der großen Vierer-Verschwörung gewesen – es spreche, sagt Poirot, „einiges dafür, dass Lenin und Trotzki bloße Marionetten in Russland waren, die den Befehlen eines fremden Gehirns gehorchten“. Was genau nun dafür spräche, bleibt – wie so vieles in diesem Roman – im Dunkeln. Poirots Behauptung muss als Beleg reichen.

Aus heutiger Perspektive liest sich „The Big Four“ wie ein einschlägiger Querdenker-Chat: Vier von blauäugigen Weltenlenkern hofierte Persönlichkeiten arbeiten an einer schön überschaubaren, globalen Hinterzimmerverschwörung. Das Motiv der vier Verschwörer bleibt eine ziemlich wässrige Melange aus Gehirnwäsche, Geltungs- und Gewinnsucht. Einer – Ryland – steht für das Großkapital der US-amerikanischen Ostküste; eine – die französische Universalgelehrte Madame Olivier – für die von Missbrauch bedrohte Wissenschaft. Insgeheim experimentiert Olivier („Die Curies waren nichts im Vergleich mit ihr“) mit atomaren Endlösungen. Weil Poirot alle Geheimnisse kennt, weiß er auch das. Der dritte Übeltäter gibt den Mann fürs Grobe. Als Destroyer in disquise macht er sich die Hände dreckig; und dahinter steht – natürlich – „das genialste Verbrechergehirn aller Zeiten“. Das kommt – wenig überraschend – aus dem fernsten Fernen Osten, heißt Li Chang Yen und entpuppt sich – noch weniger überraschend – als übelste Klischee-Konstruktion seit dem sinistren Schundheftchenschurken Fu Manchu. Christie – nie ein Kind von Traurigkeit, wenn es um beiläufige und bisweilen auch sogar nicht beiläufige Rassismen geht – verzichtet allerdings darauf, den maliziösen Mandarin auftreten zu lassen: Der fremdländische Strippenzieher geistert als Schreckgespenst durch die Figurenrede. In der Südtiroler Felsenfestung werden nur seine drei Mitstreiter gestellt. Dann gehen Fels und Festung in die Luft. Li Chang Yen entleibt sich im fernen China.

Als Dokument der Paranoia in den Zwischenkriegsjahren, gerade auch der Ängste einer britischen Oberschicht, deren Gewissheit, an der Spitze einer Weltmacht zu stehen, zerbröselte, ist „The Big Four“ fraglos aufschlussreich. Und als früher Versuch, Hercule Poirot als eine 007-Figur avant la lettre aufs weltpolitische Parkett und in romantische Mission zu schicken, ist der Roman ein zwar extravaganter, aber wenig überzeugender Ausreißer aus Christies 33-bändiger Poirot-Bibliothek.

Dafür gibt es plausible Gründe: „The Big Four“ war ein publizistischer Schnellschuss. 1926 hatte Christie den Krimi „The Murder of Roger Ackroyd“ veröffentlicht. Der machte die damals 35-Jährige, nicht zuletzt wegen eines bis heute verblüffenden finalen Aha-Moments, zur ziemlich gefragten Autorin. Zeitgleich schlitterte ihre erste Ehe in die Krise – und Christie wurde zur landesweiten Cause Celebre. Nach dem Geständnis ihres Ehemannes, eine Affäre zu haben, verschwand sie für elf Tage aus der Öffentlichkeit. Selbst internationale Blätter berichteten über die Suchaktion nach der Autorin. Und gerade diese internationalen Blätter rechneten täglich mit der Entdeckung ihrer Leiche.

Mittlerweile lässt sich Agatha Christies Verschwinden, das sie von der bekannten Autorin zur Berühmtheit machte, einigermaßen gut rekonstruieren: Sie verbrachte die Tage unter falschem Namen in einem Landhotel. Die Episode wurde vielfach ausgedeutet: als Ausbruchsversuch, als Akt verzweifelter Notwehr oder weiblicher Selbstbehauptung, als von einer Krimiautorin inszenierter Kriminalfall, als Publicity-Stunt. Christie selbst hat sich nie dazu geäußert.

An Schreiben jedenfalls war in dieser Zeit der Krise, die mit dem Tod ihrer Mutter begann und mit einer Scheidung endete, kaum zu denken. Christie brauchte Geld und stand ihrem Verlag William Collins & Sons im Wort. „The Big Four“ war der Versuch, den Verlag zu vertrösten. Sie hatte den Roman aus zwölf bereits 1924 im Magazin The Sketch veröffentlichten Kurzgeschichten zusammengefügt. Die Idee dazu soll ihr Noch-Schwager Campbell Christie gehabt haben. Inzwischen wird auch angenommen, dass er die Übergänge zwischen den einzelnen Erzählungen geschrieben haben dürfte.

Schon 1924 endete die damals noch mit „The Man who was No. 4“ überschriebene Reihe inhaltlich verknüpfter und doch recht unterschiedlicher Erzählungen mit der Jagd auf die großen Vier am Karersee.
Die sterile Reiseführerprosa wurde von der Kurzgeschichte „The Crag in the Dolomites“ – sie erschien im März 1924 – wortgleich in den Roman übernommen: „a well known and very beautiful summer resort, four thousand feet up, in the heart of the Dolomites“, heißt es da. Einige Zeilen danach wird ein „really wonderful drive“ von Bozen an einem „tickling waterfall“ vorbei auf ein von schroffen Bergen umgebenes Hochplateau („wild and lovely“) beschrieben. Konkreter wird die Verortung nicht. Ob es für so generische Adjektive echte Ortskenntnis braucht, ist fraglich. Trotzdem wird ein Besuch Christies am Karersee in Südtirol als Gewissheit verkauft. Belastbare Belege dafür finden sich nicht. Oder nicht mehr.

Dokumente über prominente Gäste des Hotels Karersee, das, obwohl nicht namentlich genannt, als einer der Schauplätze der Südtirol-Episode von „The Big Four“ erkennbar ist, sind rar. Regelmäßige Besuche des europäischen Hochadels ab der Eröffnung des Hauses 1896 sind belegt. Auch Arthur Schnitzler war um 1900 nachweislich da – der charismatisch bis exzentrisch auftretende Gründer und Direktor des Hotels, Theodor Christomannos, soll ihn zur Figur des Dr. von Aigner in seiner 1911 uraufgeführten Tragikomödie „Das weite Land“ inspiriert haben. Der einzige Hinweis auf einen Abstecher Christies ins Alpine ist allerdings das buchstäbliche Finale des Romans – und der Erzählungen, die dafür wiederverwendet wurden.

Den mancherorts kolportierten Südtirolurlaub im Jahr 1927 – also gut drei Jahre nach Erscheinen der Kurzgeschichten und mehrere Monate nachdem der daraus generierte Roman in den Handel kam – gab es nicht: Christie verbrachte den Sommer des Jahres im südenglischen Devon und den Herbst auf den Kanarischen Inseln. Auch für die Jahre 1920 – als das Hotel Karersee nach dem Ersten Weltkrieg wieder in Vollbetrieb ging und Agatha Christie mit „Das fehlende Glied in der Kette“ ihren ersten Roman veröffentlichte – bis 1923 kann eine alpine Sommerfrische der Autorin ausgeschlossen werden.

Trotzdem legt Christies inzwischen erschöpfend untersuchte Arbeitsweise nahe – selbst ihre „Secret Notebooks“ liegen mittlerweile vor, ediert und kommentiert von John Curran, dem Haus- und Hofhistoriker der äußerst umtriebigen Christie-Nachlassverwaltung –, dass sie die Orte, an denen sie ihre Romane spielen ließ, meist aus eigener Anschauung kannte.
Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebte Agatha Christie, damals noch Agatha Miller, für beinahe zwei Jahre in Paris. In diesen Zeitraum dürfte auch der Besuch im südlichen Tirol gefallen sein. Für Reisen nach Mailand und an die italienische Küste gibt es Belege. Aufenthalte in und um Bozen scheinen da nicht ausgeschlossen. Wirkliche Indizien dafür finden sich nicht. Allerdings legt nicht zuletzt die auffallend kulissenhafte und detailarme Inszenierung von Felsenfestung und Gesteinslabyrinth den Verdacht nahe, dass es sich, wenn nicht um Erinnerungen aus zweiter Hand – auch übers Hörensagen führte Christie in späteren Jahren Buch –, um vergleichsweise ferne Erinnerungen handelte.

Sei’s drum: Die vermeintlich freie Welt wird in „The Big Four“ gerettet, dem Roman selbst indessen wäre auch durch Recherche vor Ort nicht zu helfen gewesen.

Dass „that rotten book“ zu einem auch für Gelegenheitswandernde mühelos bewältigbaren Panorama-Wanderweg inspirierte, der zu den Schauplätzen eines hinreißend-hirnrissigen Showdowns führt, dürfte jedenfalls ganz im Sinne der zeit ihres Lebens äußerst geschäftstüchtigen Frau Christie sein – egal, ob sie diesen oder ähnliche Wege jemals gegangen ist. Und dass auf den Hinweisschildern für den „Agatha-Christie-Weg“ nicht etwa Christie oder „Inspektor“ Poirot zu sehen sind, sondern eine an die Miss-Marple-Darstellerin Margaret Rutherford erinnernde altjungferliche Dame, passt gut ins seltsam verschobene Bild.
Auch Hercule Poirot sieht sich am Ende von „The Crag in the Dolomites“ mit einem Dilemma konfrontiert: „The great case of my life is over. Anything else will seem tame after this.“ Er spielt mit dem Gedanken, in den Ruhestand zu gehen.

Es kam bekanntlich anders: Im Herbst 1928 buchte Agatha Christie ein Einzelabteil im Orient-Express und Poirot löste einen seiner berühmtesten Fälle.

* Apropos „unreadable“: An dieser Stelle muss an Edmund Wilson (1895–1972), den lange Jahre vor allem in den USA einflussreichste Gralshüter des vermeintlich Wahren, Guten und Schönen in der literarischen Welt verwiesen werden, der sich im Oktober 1944 in seiner New Yorker Kolumne eine bis heute gern diskutierte Frage stellte: „Why Do People Read Detective Stories?“ Als gewissenhafter Geistesarbeiter suchte er auch in Agatha Christies gerade erschienenem „Rächende Geister“ nach Antworten. Eine etwas unglückliche Wahl, die Wilson in seinem Dünkel gegen Detektivromane bestärkte. „Rächende Geister“ – im Original: „Death Comes as the End“ – mag ein „Whodunnit“ sein, aber der Roman spielt um 2000 v. Chr. in Ägypten. Selbst unverbesserliche Christie-Apologeten ließ und lässt dieses Kostümdrama aus pharaonischen Zeiten recht ratlos zurück. Zumal auch das zentrale Mordkomplott eher kostümiert als konstruiert ist. Das freilich fiel auch Krimi-Neuling Wilson auf – und bestärkte ihn in seinem vernichtenden Urteil: „You can not read such a book, you run trough it to see the problem worked out.“ Der Einwand, andere Romane – Christies „The Murder of Roger Ackroyd“ (1926) zum Beispiel – hätten andere Schlüsse ermöglicht, überzeugte Wilson nicht. „Who Cares Who Killed Roger Ackroyd?“ hielt der Autor seinen Kritikern in einer seiner folgenden Kolumnen entgegen. Es sollte noch gut und gerne fünf Jahrzehnte dauern, bis der französische Literaturwissenschaftler Pierre Bayard in „Qui a tué Roger Ackroyd?“ (1998) vorführte, dass zumindest der Fall Ackroyd bei genauer Lektüre weit weniger eindeutig ist, als es Christie und ihren Leserinnen und Lesern lieb sein kann: The problem worked out and caused new ones.

 

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