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Marginaltext (12): Schwere Schuhe, keine Namen

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, denen trotz ihrer herausragenden Qualität zu wenig Aufmerksamkeit beschieden ist. Sei es, dass sie schlicht zu wenig bekannt, längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, sei es, dass sie an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden sind. Folge 12: der Bericht der Schriftstellerin Anita Pichler (1945–1998), die im Sommer 1994 etliche Wochen als „erste Dorfschreiberin Österreichs“ in Innervillgraten / Osttirol zubrachte und notierte, „daß es Wege gibt, jenseits von gefühlsdusliger Heimattümelei und großkotzigem Weltbürgertum, wo auch die Dörfer Welt sind, die man anschauen kann, ohne zu verdammen oder zu verherrlichen.“

Jedes Dorf ist ein spanisches Dorf, verbirgt hinter dem, was man von Dörfern weiß, oder zu wissen glaubt, seine besonderen Gesetze, seine eigenen Geheimnisse.
Die Landschaft ist hier fast gleich, wie überall in den Alpen: man fährt ein Tal entlang, an der Kreuzung fließt ein Bach in den Bach, mündet ein Tal ins Tal. Über der Kurve steht unbewohnt und idyllisch das Schloß, die Straße führt am Bach entlang, rechts und links Wälder, und zwischen Bach und Straße, zwischen Straße und Wald ist Wiese. Wo gerodet wurde, ist Wiese. Wo sich Menschen niederließen, haben sie gerodet.
Dörfer sind auf Wiesen entstanden, Städte auch. Hier sind die Wiesen steil.
Aber Landschaft und Menschen ergeben noch kein Dorf. Das Dorf entsteht wohl erst in den Wegen der Menschen zueinander: Hirtenpfade, Tauschwege, Handelswege, Triftwege, Kirchwege, Schulwege, Schmugglerpfade, der Pestweg, Kriegspfade, Almwege, Jägersteige, Forstwege, Spazierwege und Straßen. Ein dichtes Netz von Verbindungen bilden die heimatlichen Pfade, heimlich und unheimlich, heimelig und geheimnisvoll halten sie das Dorf zusammen, führen aus dem Dorf hinaus.
Ein Dorf aber ist auch ein Dorf in seinen Grenzen. Auf der Landkarte, die ich gekauft habe, sind sie nicht eingezeichnet. Ich lese: die Gesamtfläche der Gemeinde beträgt 8.783 ha, die Hälfte davon sind Almen.
Auf der Straße von Sillian über Außervillgraten hierher war es kalt und regnerisch. Beim Blick aus dem Fenster fielen mir die Häuser auf, diese wunderschönen Holzhäuser, groß und stattlich erwecken sie den Eindruck von Reichtum. Doch der Blick hat mich getäuscht. Was so prächtig aussieht, ist Stall und Stadel und Wohnhaus in einem, Herberge für Menschen und Tiere und Futterspeicher für die lange, kalte Zeit.
Und die Menschen, die Bewohner dieser Häuser, die Einheimischen? Soll ich sie bei ihren Namen nennen? Die Menschen hier reden wie ich, wie man auch in Südtirol redet, haben die gleiche Intonation; auch wenn die Wörter manchmal anders sind und Zeitwörter eigenen Regeln folgen, erkenne ich meine Sprache in der Modulation der Laute wieder. Bald muß ich allerdings feststellen, daß ich oft nichts begreife. Dann wird von Menschen, Orten und Zeiten geredet, die ich nicht kenne. Die Freundlichkeit fällt mir auf, eine fast südliche Art in den Begrüßungen. Alle, die einander begegnen, reden auch ein wenig miteinander, erkundigen sich, wie es der Schwester geht, der Mutter, der Nachbarin und ihrem Schwager. Ich beschließe, die Namen der Menschen nicht zu nennen. Es regnet. Es klart von Osten auf, es regnet wieder und klart auf. Dichte schwarze Wolken ziehen von den Gsieser Bergen abwärts zum Stallerbach, über die Wegelater Säge. Wird es ein Konzert geben, wird es keines geben? Zweihundert Menschen stehen dann im strömenden Regen unter Kapuzen und Schirmen eine Stunde lang auf der Wiese und lauschen. Es ist stockfinster, nur die Säge ist beleuchtet. An den Knöcheln spüre ich das Gras naß, und von einem Regenschirm tropft es auf meinen Handrücken. Dann merke ich auch das nicht mehr, tauche ein in den Kosmos der Säge. Über das Konzert wurde in den Zeitungen berichtet. Ich gleite zurück in die Klänge meiner eigenen Vergangenheit und von da weiter in alle Tiroler Vergangenheiten aus Glocken und Prozessionen, Gemurmel und stummem Gebet (stumm, denn das Kindergebet hatte keine Worte, nur Laute, rhythmisches Murmeln, einschläferndes Wiegen des Körpers), aus Liedern, aus Flüchen und Schreien, Juchzen und Wehklagen: wo ich stehe, spüre ich Metall durch das Holz fahren.
Später, beim Bier in der warmen Stube, im Trockenen, sehe ich endlich die Gesichter: junge und ältere, fremde Menschen. Wache, neugierige Augen spiegeln mir meine Neugier wider, verstecken ihr Fremdsein vor mir genauso wie ich, hinter einem Lächeln. Die meisten der gegenseitigen Fragen werden an diesem Abend nicht formuliert. In drei Wochen wird sich manches auch ohne zu fragen herausstellen. Darf ich das überhaupt, so, in eine Gemeinschaft platzen und meine Fragen stellen? Und wonach soll ich fragen, wenn ich mich nicht auskenne? Ich bin keine Journalistin, will es nicht sein. Auch Statistiken interessieren mich wenig. Da holt mich eine Stimme aus meinen Zweifeln: Wie gehts dir hier? Wie kommt es dir vor? Hast du zu trinken? Willst du etwas essen?

Die Litanei der Flüche wird herumgereicht. Ich stelle fest, daß die Fluchwörter auch hier zum großen Teil lateinischen Ursprungs sind. Saggra und Herrgottsaggra. Richtige Flüche, die es im deutschen Sprachraum kaum gibt. Es ist gut, daß die Tourismusmacher noch nicht dahintergekommen sind, daß Flüche eine Tiroler Spezialität sind, die man wie Speck, wie Knödel vermarkten könnte, Knödel, die sich die Leute vom Leib speien, damit sie nicht im Hals stecken bleiben, wie die berühmten Steine, die ja bekanntlich gerade dann nicht vom Herzen fallen, wenn einem alles zuviel wird. Diese Flüche haben nichts mit Blasphemie zu tun. Sie sind älter als die gängige Religion, stammen aus einer Zeit, wo Gut und Böse, heilig und unheilig noch zusammengehörten.
Später trägt ein Mann „Des Sängers Fluch“ vor, und er trägt die Ballade so gut vor, daß mir plötzlich auch ein anderer Zusammenhang auffällt: die unglückselige Verbindung zwischen Gefühl und Macht, oder Anspruch auf Macht. Der Vortragende muß um das Leid, das daraus entsteht, wissen, oder er ahnt, wie einfache Wörter, diese Knödel, von denen sich die Menschen manchmal befreien müssen, nur noch Unheil anrichten, sobald sie zum Machtwort werden.

Ich hatte mir fest vorgenommen, zu schauen und zu erzählen, stattdessen stelle ich nichts als Überlegungen an. Ich bin wohl nicht fremd genug hier, um einfach schauen zu können und zu erzählen.
Da bekomme ich einen Brief:
„Liebe Dorfschreiberin! Was wirst Du schreiben? Schreibst Du von der schönen Landschaft oder schaust Du hinter die Gardinen? Schreibst Du von der geschlagenen Frau, der kämpfenden Frauenseele zwischen erstem, zweitem, drittem und viertem Kind? vom Verdecken und der nach außen hin intakten Familie und dem christlichen Zusammenleben des Dorfes? Setzt Du Dich in die Nesseln, oder findest Du eine neue Kategorie des Denkens über das Dorfleben, das ganz einfache Menschen annehmen und anhören können?
Hier ist’s im Grunde genommen wie in der Stadt und doch wieder nicht. Die sogenannte soziale Kontrolle ist stärker. Hier gibt es noch ein Sonntagskleid.“
So fand ich denn, schwarz auf weiß geschrieben, die Fragen, die ich mir selber stellte. Dorfleben. Gibt es das? Leben im Dorf, in dieser bestimmten Landschaft. Ach unser verdammter Hang, alles in einfache Begriffe zu sperren.

Die jungen Bauern sitzen am Sonntagvormittag beim Morgenbier auf der Terrasse vor dem Wirtshaus und diskutieren mit den Leuten von der Kulturwiese über die Wiese: über die Skulpturen, die jetzt im Dorf stehen und vor dem Friedhof in Außervillgraten, die ausgedienten Sicheln mit dem Titel „Soldaten“. Ochsen stehen herum, phantastische Objekte, gebaut aus Schaufeln und Nägeln, aus den Versatzstücken nicht mehr gebräuchlicher, bäuerlicher Geräte; vor der Kirche in Innervillgraten steht eine Blume aus einem Heuwender.
Das paßt nicht her, sagen die Burschen, es ist rostiger Müll, den man loswerden wollte. Daß es ein Spiel sei, wirft der Mann von der Wiese ein. Aber die Jungbauern sagen, du redest eine andere Sprache.
Sie sind miteinander in die Schule gegangen, kennen sich seit frühester Kindheit. Einer sagt, auch Mähen ist Kultur, dann könnte ich das Geld kriegen. Mähen ist Schindarbeit, sagt ein anderer junger Bauer. Und ich beginne zu ahnen, was sich hier gegenübersteht: Konsum und Kreativität, Fernsehen und Nichtfernsehen (das meine ich wörtlich), das Doppelgesicht unserer Zeit. Eine „heile“ Welt, die fernsieht, wegschaut und konsumiert, was sie konsumieren kann, und eine andere, die sich nicht für heil hält, weniger fernsieht und versucht, selber etwas auf die Beine zu stellen, anstatt zu essen, was Mamma Fernsehen auf den Tisch bringt. Mamma Fernsehen ist eine herrschsüchtige Ersatzmutter, sie läßt die Kinder nicht gewähren, weiß nichts von der Geduld der Frauen, dieser alten Frauen, denen ich hier im Tal begegnet bin, die acht, zehn, dreizehn Kinder großgezogen, genährt, gewärmt und bekleidet haben, so gut sie konnten, und auf ihren Weg entlassen haben, jedes auf einen anderen. Ich hatte zwölf Windeln aus urgebleichtem Tuch, hat mir später eine dieser Frauen erzählt, und die Leintücher waren steif und viel zu groß, aus Leinen. (Gemeint ist wahrscheinlich Flachs.) Mamma Fernsehen entläßt die Kinder nicht. Sie mischt sich in alles ein, schmarotzt in den Pupillen und spielt uns vor, was wir brauchen. Dem gegenüber steht der Versuch, sich freizumachen von den Zwängen des Geldes und der Moden, vom großen Spiel der Herrschaften und Wirtschaften, sich der Fernsteuerung verweigern, abschalten. Das Bild vom Mäher in die Wiese mähen und das Gras darüber wachsen lassen. Mit dem Rost ein Bündnis eingehen, der die Formen der Dinge auflöst und verwandelt, und in Spiel und Schmerz die Erinnerung bewahren. Während die Kultur des Fernsehens die Dinge nicht braucht, nur ihre leeren Formen einbehält und ihren Kindern über die Haut zieht, als wären sie gute Hemden.

Und ich habe wieder nur geschwätzt, anstatt zu erzählen. – Während ich die Wege des Dorfes suche, merke ich, daß ich vergessen habe, die Wege der alten Bräuche zu nennen, die Wege der Bittgänge und Prozessionen, und den Zettelsteig. Nach dem Einkaufen – hatte ich wirklich an einen alten Dorfladen gedacht?
Den gibt es nicht mehr. Adeg und Spar versorgen hier die Menschen, haben ausgewählt und bestimmt, was man zu brauchen hat. Das Sortiment ist ausreichend und reichlich: Lebensmittel, Textilien, Drogerieartikel, aber auch Schulhefte, Briefpapier, Filme, Ansichtskarten usw. Auch in den Städten sind Supermärkte bloß aufgeblasene Dorfläden, und wer hier Sonderwünsche hat, muß aus dem Tal hinausfahren. Unser tägliches Brot kommt vom Bäcker und wird in der Backstube gebacken oder von der Bäuerin; das gibt es hier noch, dieses wohlschmeckende, gewürzte Roggenbrot, das satt macht und ein gutes, warmes Gefühl im Magen hinterläßt. – Nach dem Einkaufen gehe ich den Zettelsteig entlang, begehe ein Stück Geschichte, mache einen Spaziergang in die Vergangenheit. Die „Schmiedhofer Zäune“ sind ein alter Wiesenweg, von Mauern eingefaßt. Das Gras ist naß am Morgen. Und ich lese vom Achtunddreißigerjahr, daß in Villgraten viel mehr Leute gegen Hitler gestimmt haben als in anderen Dörfern, daß sie auch ’94 gegen den Eintritt Österreichs in die EU gestimmt haben. Ich lese von den Häusern an steilen Abhängen, „oft bloß durch treppenartige Pfade zugängig“, lese von einer Streiterei im Wirtshaus, der eine völlige Zerstörung der Gaststube, der Küche und des Stiegenhauses folgte, ich stehe am Gartenzaun, zähle Salat, Kohlrabi, Zwiebeln, Schnittlauch, Grünkohl, grüne Blätter, die zu einer unterirdischen Pflanze gehören, Kren, nehme ich an, Erdbeeren, rote Ribiseln und Blumen, ich lese noch einmal die Litanei der Flüche und schaue am Berg aufwärts, sehe die steilen Wiesen, die gemäht werden müssen; vor dem nächsten Bauernhof stehen zwar Maschinen, aber sie taugen nur im flachen Gelände, eine Mähmaschine mit Fußeisen gibt es wohl noch nicht. Ich schaue wieder am Berg hinauf, erkenne die Ständer von einem Materialaufzug und lese über das erste Projekt für ein Kraftwerk in Innervillgraten. Lese davon, daß hier noch im Mai 1981 eine Mütterehrung stattfand.
Später, während ich den Frauen zuschaue, die ihre schweren Einkaufstaschen in die Autos schleppen, oder zu Fuß nach Hause, samt Kindern, frage ich mich, was den Frauen wohl durch den Kopf ging, als man ihnen nach dem Krieg das Mutterkreuz an die Brust heftete, zum Dank dafür, daß ihre Söhne im Krieg verwundet, gefangen oder getötet wurden.
Im großen Schaukasten neben einem der beiden Läden lese ich die Informationen von Bank, Fremdenverkehrsamt, Vereinen und Gemeinde an die Bürger. Die Raiffeisenbank teilt mit: In sechs Jahren wird er (junger Mann mit Gitarre) als frischgebackener Vater in Sophies Kinderzimmer spielen. Die Vereine teilen mit: Wir Tiroler mit Wendelin Weingartner. Weiters kündigt die Arbeiterkammer eine Sommerschule und einen Kultursommerservice an. Das Fremdenverkehrsamt hat die Gästezeitung ausgebreitet, das Veranstaltungsprogramm für den Sommer, Gottesdienste, Ärzte und Rettungen in Sillian (die alte Frau hat erzählt, nachdem sie bei der Geburt des fünften Kindes beinahe verblutet war, brachte sie die nächsten sieben Kinder in Lienz im Spital zur Welt; andere erzählen, daß für die Frauen heute noch die wenigen Tage, die sie bei der Geburt eines Kindes im Spital verbringen, der einzige Urlaub sind, bis zum nächsten Kind) und Kulinarisches, wo man wie und was essen kann. Die Gemeinde hat eine Kundmachung zur Wahl ausgehängt, Steuerinformationen für Zimmervermieter. Eine Aufforderung, Berg und Wald zu schonen, und die Ankündigung von Berg- und Skitourenführungen, Anmeldungen in Sillian.
Die Grenzen des Dorfes sind wohl nicht viel mehr als die Grenzen des Herrschaftsbereiches der Verwaltungen. Als die ersten Siedler von Innichen über die Jöcher nach Villgraten kamen – ob es Lohn oder Strafe war, ob sie glücklich darüber waren oder nicht, das weiß man nicht mehr –, da legten sie ihre Wiesen an den Rändern der Gemeinde, an den trockenen, sonnigen Hängen an, und von da wuchs das Dorf seiner Mitte zu.
Heute liegt das Zentrum in der Talsohle, da steht die Kirche, die Schule, das Gemeindehaus mit Post, Bank und Verkehrsbüro, da sind die Läden und Gasthäuser. Einen richtigen Dorfplatz gibt es noch immer nicht, dafür aber einen großen Parkplatz. Die Straße vom Pustertal führt direkt hierher, wo auf einer Härpfe die Karte von Villgraten hängt (auch darauf sind die Grenzen nicht eingezeichnet), und daneben sind auf Holztäfelchen die Namen der Almen, Berge und Seen mit großzügig bemessener Gehzeit aufgelistet, rote, blaue oder gelbschwarze Pfeile geben den Schwierigkeitsgrad an und die Richtung. Für Fremde nicht mehr als die oft seltsam klingenden, romanischen Namen der Landschaft. Die Menschen, die hier geboren und großgeworden sind, kennen Geschichten dieser Orte. Aber sie benützen eher die Straßen, oder die vielen Forstwege, die sich überall durch die Wälder schneiden. Früher, sagt man mir, zogen im Sommer die Leute mit den Tieren auf die Almen, und das Dorf blieb wie ausgestorben zurück. Heute wohnen auf den Almen Touristen. Überhaupt berufen sich alle immer wieder auf früher, so als gäbe es das Dorf heute nicht mehr wirklich, als wäre ihm nicht zu trauen.

Ich bin über den Schmugglerweg nach Kalkstein gegangen, wo Norbert C. Kaser dem Pfarrer den Schnaps weggetrunken hat. Durch Kaser habe ich zum ersten Mal von Johann Trojer erfahren; jetzt stand ich am Balkon vom Durrachhof und schaute hinunter nach Außervillgraten und hinaus in die Täler, die sich nach Süden und Südwesten hin immer weiter dehnen, und ich dachte, von hier aus ging einer mit schweren Schuhen in die Welt. Und eine ganze Generation hat von ihm gelernt, daß es Wege gibt, jenseits von gefühlsdusliger Heimattümelei und großkotzigem Weltbürgertum, wo auch die Dörfer Welt sind, die man anschauen kann, ohne zu verdammen oder zu verherrlichen. Diese Wege sind vielleicht nicht gerade, aber auch die Oberfläche der Welt ist krumm, man findet auf diesen Wegen selten Lohn oder Lob, doch es lohnt sich auf jeden Fall, sie zu gehen, denn sie öffnen den Blick für die Wirklichkeit, für das Leben, Tun und Sterben der Menschen, machen ihn frei und liebevoll.
Am Ainethbach entlang bin ich bis zum großen Stein gegangen (wo ich keinen Stein gefunden habe) und von da zu den Remesseen, keiner Menschenseele bin ich begegnet, nur die Kühe, deren Neugier größer ist als ihre Trägheit, drehten sich um und schauten mir nach – bis zur Kamelisenalm, wo die Touristen im Freien grillten. Etwas unterhalb stand plötzlich ein Mann, wie aus dem Boden gestampft, in den Sträuchern und stopfte sich den Mund mit Himbeeren voll. Ich sagte „Griaßtenk“ wie zu einem alten Mann und sah auch, daß er jung war, nur der gezwirbelte Schnurrbart, der Hut und die Lodenjoppe gaben ihm ein altehrwürdiges Aussehen. Er stand da, wie übriggeblieben aus einer anderen Zeit, ewig Himbeeren essend, eine arme Seele, die wer weiß welchen Himbeertod gegeben oder erlitten hat.
In den Wäldern ging ich dem Duft der Pilze nach und fand schließlich, weiß und rot wie die Tiroler Fahne, eine ganze Kolonie schöner, giftiger Fliegenpilze.
Und wenn ich abends zurückging ins Dorf, glänzten die Häuser noch prächtiger als am Tag, die Blumen strahlten an den Söllern, Geranien, Hängepelargonien, Nelken (ach, die Nelken, mein Großvater hat sich eine solche Nelke an den Hut gesteckt, als er loszog und um meine Großmutter warb), da sah ich Frauenhände zwischen den Blumen hantieren, zupfen und gießen und zerren, Köpfe, die sich eilig duckten, sobald sie meinen Blick gewahrten. Unwillkürlich fielen mir die Frauen im Maghreb ein, die in ihren Blumenhöfen sitzen und nur zwischen dichten Bastmatten ins Freie schauen dürfen. Mich befiel die gleiche Beklemmung wie in Algerien oder im Dorf von Hammamed, und ich schaute mich um, und die Frau, die eben noch hinter den Blumen geborgen und verborgen war, grüßte mich.

Weiß wie Schnee, grün wie Klee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz, wie im Märchen sind die Farben der Häuser in der Landschaft.
Immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich diese Farben, sehe noch eine Weile ein grünes Nachbild aus Hängen, Hügeln und Wiesen.
Immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Flammen und Rauch. Es war ein kurzes Gewitter, zwei Blitze nur, einer davon schlug in den Giebel vom Kofeler Hof ein. In einer knappen Stunde brannte das Haus nieder.
Das ist eine solche Gewalt, eine solche Hitze, das brennt jetzt alles nieder, das reißt alles ein, das hat eine solche Kraft … die junge Frau neben mir redet und redet sich den Schrecken vom Leib; alle, die nicht mit der Feuerwehr losgezogen oder hinaufgefahren sind, um zu helfen, stehen auf der Straße und starren zum Hügel.
Hoffentlich sind die Leute nicht im Haus, sage ich, um etwas zu sagen.
Natürlich sind sie daheim, sagt die Frau, wo sollen sie denn sonst sein?
Ja, wo sollen die Leute sein am Samstagabend zwischen sechs und sieben.

Am Tag darauf ist Kinderfest. Der Erlös des Festes soll für den Wiederaufbau des abgebrannten Hofes verwendet werden. Die Kinder machen Musik, machen ihre Spiele, es wird gegessen und geredet, und ich erfahre von der Naturalversorgung: das ganze Dorf wird sich am Wiederaufbau des Hauses beteiligen. Die Höfe hier sind zwar kaum gegen Brände und Katastrophen versichert, aber die Leute haben selbst ein viel besseres System aufgebaut, das der gegenseitigen Hilfe. Dabei haben sie in früheren Zeiten genau festgelegt, wieviel jeder in Holz und Tagschichten beisteuert, um ein Haus wieder aufzubauen. Das Geld der Versicherung? sagt mir jemand, was sollten die Leute mit dem Geld anfangen, ohne Haus, ohne Stall und Stadel?

Es gäbe noch manches zu erzählen, von den Kinderwerkstätten, den Gauklern des Teatro Pirata, von der feinen Musik des Josef Steidl, welche die Musikkapelle unterm vollen Mond am Samstagabend spielte, von den Wirtshaussängern, den frechen Frauenliedern.
Wir fuhren zu dritt im Auto nach Außervillgraten. Die alte Frau schämte sich, weil ihr alle Knochen weh taten und sie hinkend unter die Leute gehen mußte. Ich sagte, sie habe wohl in ihrem Leben zu viel gearbeitet. Gearbeitet? sagt sie. Ja, nein, aber das ist es nicht. Die Arbeit nicht. Eher hat man sich auf einen kalten Stein oder ins nasse Gras gesetzt, hat nicht aufgepaßt. Nein, nein, die Arbeit ist es sicher nicht. Die Arbeit nicht. Ich fragte, ob ich sie besuchen dürfe, aber sie hat jetzt im August keine Zeit.

So ging ich nicht auf die Oberstalleralm, bin auch sonst nicht auf die Berge gestiegen, auf die ich steigen wollte, bin im Tal geblieben und habe versucht, die verschiedenen Kirchwege auszumachen, denn wo trifft man hier die Menschen, die in den Häusern wohnen, auf den steilen Hängen arbeiten? Die Männer trifft man im Gasthaus. Einmal habe ich sie belauscht bei ihren Gesprächen über Gott und die Welt, über ihre Maschinen, ihre Almen (Ob man das Gras da abmähen soll oder besser nicht?), über Politik und Weltgeschehen. Und mit jedem Bier wurde die Welt kleiner, fiel schließlich in sich selbst zusammen, übrig blieb ein riesiges Villgraten, mit allen Sorgen und Ängsten, mit allem Stolz und aller Selbstbehauptung und mit den Frauen hinter den Blumenvorhängen der Häuser.
Drei Wochen sind eine kurze, lange Zeit. Während ich schreibe, proben unten im Pfarrsaal die Musiker von Franui für das Konzert. Manchmal gehe ich hinunter und höre ihnen zu. In ihren Liedern erzählen sie die Geschichten vom Dorf, die Geschichten der Menschen, und mir läuft es kalt über den Buckel, mir wird warm, mir bleibt das Lachen im Hals stecken, rutscht in den Bauch und verwandelt sich zu einem Lächeln, das Schmerz und Verkrampfung löst. Um von Villgraten zu erzählen, müßte man von den Menschen hier erzählen, ihre Namen nennen. Man müßte eingeweiht sein in die alten Geschichten, denn der Sohn erbt mit dem Hof den Frieden oder Unfrieden mit den Nachbarn, die Tochter heiratet nicht nur den geliebten jungen Mann, sondern auch alle Beziehungen seiner Familie und die ganze Geschichte ihrer Freundschaften und Feindschaften. So hält sich das Dorf im Gleichgewicht, das sich zwar im Lauf der Zeit verlagert, doch kann sich daraus niemand heraushalten. Wer die Macht besitzt und das Geld, kann sich darüberstellen, kann selber an den Fäden spinnen, die anderen aber müssen sich in das Gewebe fügen oder werden zu hoffnungslosen Außenseitern. Freiwillig? Unfreiwillig? Wer kann sich schon was aussuchen? Die alte Frau hat gesagt, alles hat mit dem Bau der Straße angefangen, alle Streitigkeiten, aller Haß und aller Neid.
Als ich in der Zeitung vom weiteren Ausbau des Skigebietes am Thurnthaler las, dachte ich, daß sich mit dem Bau von Liften und Skipisten, von Hotels und neuen Straßen das Netz der Packeleien verschieben, aber kaum auflösen wird. Aus den Gästen werden Fremde, Touristen, und je mehr sie sind, desto größer wird die Fremdheit, wird das Bedürfnis, sich selbst davor zu schützen. Die alten Vorurteile sind dabei, neuen Urteilen zu weichen.
Zu berichten wäre noch von den jungen Menschen, die von hier ausgehen und in ihrer Musik, in ihren Liedern, in ihren Nachforschungen und Veranstaltungen mit Liebe und Intelligenz das erzählen, was Villgraten auch ist, ein Ort voller Widersprüche, offene, aufgeschlossene, liebevolle, leidende, suchende Menschen, die ihre Wege gehen.

Während ich schreibe, fahren die Lastkraftwagen unentwegt den Berg hinauf und kommen vollbeladen mit schwelendem Heu, verkohltem Holz und schwarzgebrannten Steinen wieder herunter, fahren das nötige Material für den Aufbau des neuen Hauses den Berg hoch.
Während ich schreibe, suchen Touristen auf der Landkarte am Parkplatz ihr Ausflugsziel, gehen ins Wirtshaus, zu Bachmann, zu Senfter, oder gar zum Ganner essen. Kommen drei Männer mit Pfeife aus dem Gemeindehaus, gehen am Rand der Wiese entlang zum Gasthaus und wieder zurück, steigen in ihre Mercedes.
Während ich schreibe, holen sich Kinder Bücher aus der Bibliothek, gehen einkaufen, gehen zum Abendessen nach Hause und werden wohl nach dem Fernsehen noch ein Nachtgebet sprechen, bevor sie einschlafen und von einem Motorrad träumen, oder einem BMW, mit dem andere zum Tal hinausfahren, während ich schreibe.
Die Männer haben das Gras an den steilen Abhängen gemäht, die Frauen haben es gewendet, in Schober gesammelt, der Sommer geht zu Ende.
Es war eine schöne Zeit. Ohren und Augen, Herz, Mund und Nase haben sich auf der Wiese genährt, und das spanische Dorf Villgraten ist ein bißchen weniger spanisch geworden.

aus: Anita Pichler: Flatterlicht. Verstreute und unveröffentlichte Texte, Folio Verlag, Wien / Bozen 2007.
Erstveröffentlichung in: Feldforschung Nr. 01 / 1995

 

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