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Die Fälschung der Fiktion

Christian Gögger über Martin Gostners Arbeit

Die größten Schwierigkeiten liegen da, wo wir sie nicht suchen. (J.W. Goethe)

Realität ist die Gesamtzahl der Dinge, die man nicht ändern kann. (J.W. Gaddis)

1998, anlässlich seiner Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, wird Martin Gostner in einem Gespräch für die Zeitschrift „Kunstforum“ nach dem Stil prägenden Moment in seiner Arbeit gefragt. Die Frage zielte auf das Verbindende der insgesamt sehr heterogen erscheinenden Werkgruppen: die Watteskulpturen, die vielteilige Lampeninstallation „Meine toten Ahnen“, der Film „20th Century Boy“ … Martin Gostner entledigte sich der Nachfrage mit der Vermutung, dass er bzw. seine Arbeiten sehr wahrscheinlich stillos seien. Dieses Ausforschen des Künstlers nach dem alles Verbindenden ist keineswegs selten. Sie ist bezeichnend für die mitschwingende Unsicherheit, aus dem Gesehenen die rechten Schlüsse zu ziehen. Vielleicht aber irren solche Fragen grundsätzlich, sofern sie das Werk als ein vom Künstler Geschiedenes untersuchen. Wenn mit „Stil“ Herkunft, Bedeutung oder Formensprache gemeint ist, wird kaum ein Künstler diese Frage je befriedigend beantworten wollen, beantworten können. Wer sich als Produzent dazu in der Lage sieht, zieht nur eine Dimension aus der Mehrdeutigkeit seiner Arbeit hervor und verwechselt zudem die eigene Intention mit dem Gehalt der Werke. Mag es die Botschaft des guten Geschmacks (Ästhetik) und das Bewusstsein für eine Sendung geben (Engagement, und sei es für eine gerechte Sache) – allein: dann handelt es sich nicht um Kunst, um Dienstleistung vielleicht.

Die vermisste Stringenz all dessen, was sich scheinbar gegen klare Einordenbarkeit sperrt, liegt in der Autorschaft des Künstlers begründet: Martin Gostner hat in seinen Arbeiten eine sowohl intellektuelle als auch persönliche Präsenz; er ist die relevante Instanz. Das ist ein Spezifikum, kein Allgemeinplatz, denn tatsächlich gibt es auch Künstler, die einen Stil haben, oder ein Faible, oder eine Marotte, oder einen Vogel – aber das klingt ja schon wieder sympathisch.

Zur Messe nach Köln 1992 brachte Martin Gostner eine ganze Reihe von Arbeiten mit Klebeetiketten, mit denen er seine Förderkoje zwischen den Ständen meiner und der Galerie von Sophia Ungers ausstattete: in Schreibmaschinenschrift geschriebene Reihungen ein und desselben Wortes auf standardisierten Trägerfolien unterschiedlicher Formate. Das Wort „Brechung“ häufte sich an den Wänden und echote konkrete Poesie. Erst später, nach eingehender Betrachtung, wurde mir klar, dass es dem Künstler nicht um die Nachdrücklichkeit der Begriffe, sondern um deren Ablösbarkeit von Sinn und Kontext ging. Ein manipulierbares Wortgerüst, das Wort plötzlich vereinzelt und nicht länger im Satz geborgen, ablösbar vom Etikettenpapier einerseits und andererseits losgelöst von Textpragmatik – ob Sachtext, Literatur, Appell, Gebrauchsanweisung, Rede, Urteil usw.

Ein Jahr zuvor produzierte Gostner eine Mappe mit sechs Fotografien, mit der Maschine geschriebene Lebensläufe von Künstlern – aufgemacht wie Fundstücke, darunter die „Tiroler Legende“ des Peter Salander, die „Heldenlegende“, die „Akademielegende“, die „Elendslegende“ – in denen auf fatale Weise der Verblendungszusammenhang ihrer Protagonisten enthüllt wird. Fatal deshalb, da man beim ersten Lesen Tränen lacht, man aber nicht sicher sein darf und nie wieder sicher sein wird, dass dies mitnichten Legenden sind. Kein herzhaftes Lachen, ein groteskes Lachen.

In der Ausstellung „Kurz davor (und lange danach)“ tapezierte Martin Gostner 1997 in München den gesamten Galerieraum mit vergrößerten Zeichnungen auf magentafarbenem Leuchtpapier. Es handelte sich um Nachzeichnungen pornographischer Motive, wobei er die kopulierenden Paare getrennt und bekleidet dargestellt hat, isoliert, verrenkt und auf der Papierfläche frei flottierend. Folgt er hier der platonischen Erzählung vom Verlust urmenschlicher Ganzheit oder der in einer anderen Arbeit verwendeten Songzeile „Lovers and friends meet again and again on the dear old battlefield“, zumal dann, wenn man die Einladungskarte zu dieser Ausstellung heranzieht? Sie zeigt eine historische Geländekarte mit taktischen Schlachtzeichen und Gefechtsformationen, die topografischen Bezeichnungen aber waren ersetzt durch solche von Geschlechtsmerkmalen und zotige Begriffe.

Und alle Arbeiten erscheinen auf Haupt-, Neben- und mitunter Holzwegen vor dem geistigen Auge wieder: die kristallin gebauten Bonbonskulpturen mit dem Titel „Nation“ (1990), die glaslose Drahtvitrine mit der schwebend luftigen Schriftrolle „aria condizionata“ (1994), die konstruierten Plakate zu einem Jimi- Hendrix-Konzert im Müngersdorfer Stadion 1983 oder zu Albert Camus’ Lesung anlässlich seines 90. Geburtstags im Kölner Audi Max 1993; ebenso wie der Raum mit den Wandzeichnungen von Feldzugsformationen historischer Schlachten in der Innsbrucker Taxisgalerie; oder die den Grund des dortigen untergeschossigen Oberlichtsaals bedeckende Watte, über der man auf Holzplanken wie über der bodenlosen Tiefe einer Zisterne schwebt (Titel: „Der große Server“); oder die in dieser Ausstellung versammelte, parabelhafte Plakatdokumentation des von den vielen Streifschüssen der österreichischen Nachkriegsgeschichte verbeulten Gasthauses „Kupferpfandl“.

Für Dezember 2003 ist Gostners Ausstellung „Of Milk and Honey“ im Museum Folkwang in Essen angekündigt, für die er eine große, raumfüllende Installation umsetzen wird. Ein riesiges Wattefeld wird dabei von Straßenleitplanken in der Spur gehalten werden, der Lichtkegel eines starken Scheinwerfers die Szene ausleuchten, flankiert von computergenerierten Spracharbeiten, den früheren Wörtern und Texten auf Klebeetiketten verwandt. Autobahnen behaupten eine omnipräsente Realität in dieser Gegend, sie beherrschen den urbanen Raum. Mancher Ausstellungsbesucher wird sich daran erinnern und dessen bewusst werden.

„Idyllic Days of the Great Depression“ (Thomas Fensch)

Peter Salander, das Alter Ego des Künstlers, schlüpft in der zuletzt in Kalifornien realisierten Arbeit „Dear John“ aus diesem Jahr in die Rolle des Verlegers. Als „publishing manager“ ist Martin Gostner im Begriff, eine Mappe aus dem Nachlass der Großmutter des angeschriebenen John Ibex-Sousa (ibex, engl. für Steinbock) auf ihre Authentizität hin zu prüfen. Das Fundstück hätte dem amerikanischen Schriftsteller John Steinbeck als Recherchematerial für dessen Roman „Tortilla Flat“ von 1935 dienen können. Der Roman, Steinbecks Durchbruch als Autor, ist eine lockere Folge meist amüsanter Abenteuer der paisanos Danny und seiner mittellosen Freunde spanisch-indianisch-mexikanisch-kaukasische Streuner und Bohemiens). Der Plot ist an die Sage von König Artus und die Ritter der Tafelrunde angelehnt, das zeitliche Umfeld ist die wirtschaftliche Depression und allgegenwärtige Armut Nordamerikas nach dem Börsenkrach von 1929. Über dieser episodisch heiteren Grundstimmung ist das Buch von eskapistischer Tendenz dominiert und neigt zu pfadfinderhafter Sozialromantik. Das Steinbeck später auszeichnende Gespür für die soziale Umgebung lässt ihn in „Tortilla Flat“ ziemlich im Stich.

Monterey, eine kleine Stadt an der Küste, südlich von San Francisco, ist Schauplatz des Romans, das nahe gelegene Big Sur der Standort für Martin Gostners 17-teiligen Zyklus von „Dear John“. Dort wurden die A4-großen Archivdokumente für den Außenraum vergrößert und als Foliendruck auf Aluminium umgesetzt. Auf den Tafeln werden die innere wie die äußere Geschichte um diesen für die Steinbeck-Forschung bedeutsamen Fund ausgebreitet. Einmal das initiierende Motiv der ambivalent ausgerichteten Rahmenhandlung mit dem Brief des Verlagsleiters, dann die detaillierte Ausbreitung des aufgefundenen, aus der Entstehungszeit des Romans um 1930 stammenden Materials selbst. Da finden sich Ausschnitte, Anzeigen und ein Nachruf aus der lokalen Presse, der Verweis auf mögliche strukturelle Parallelen zur Artussage (thematisch dazu eine frühe Kinderzeichnung), Werbung und handgeschriebene Anschläge sowie eigenhändige Skizzen zur Handlung und fotografische Schnappschüsse. Martin Gostner benutzte als Quellen für sein imaginiertes Recherchematerial den Roman, eine knappe Einführung für die amerikanische Taschenbuchausgabe von Thomas Fensch, eine Biografie zu Steinbeck sowie ein schmales, lokalhistorisches Bändchen über die Gegend Monterey/Big Sur.

Die Platzierung der Arbeit auf dem Grundstück ist gleichermaßen profan wie umständehalber kurios. Die Tafeln sind auf und um einen Tross verrosteter, uralter Bauwagen angebracht, der nur noch bildhaft von einem martialischen Schleppwagen angeführt wird. Ein versteinerter Wanderzirkus vielleicht – oder sind das Relikte des großen Treks, die Fluchtgefährte der völlig verarmten Farmer aus Oklahoma, Arkansas und Missouri, die auf der Suche nach Arbeit zu Beginn der 30er Jahre mit allem Hab und Gut nach Kalifornien zogen? Mit letzterer Vermutung kommt man zurück auf Steinbecks vielleicht besten, auf jeden Fall wirkungsvollsten Roman, „Früchte des Zorns“ (Grapes of Wrath) von 1939, in dem er den Kampf der Familie Joad um eine neue Existenz in Kalifornien schildert, nachdem sie ihr angestammtes Land verlassen hatten und Richtung Westen ausgezogen waren.

Zunächst stellt sich die Frage, aus welchem Grund die in der vorliegenden Form an sich bibliophile Arbeit „Dear John“ ursprünglich für den Außenraum konzipiert wurde. Es erscheint als nicht angemessen, literarisches Archivmaterial auf diese Weise ans Tageslicht zu zerren. Auf dem Grundstück der Auftraggeber – in der Landschaft des Big Sur, in der Nähe zur ehemals tatsächlich existierenden Siedlung „Tortilla Flat“ gelegen – enthüllt sich ein set of characters des gesamten Steinbeck’schen Werkes. Die Alutafeln, die wie windige Werbeplakate an die eisernen, festgewachsenen Ungetüme angeheftet wurden, mobilisieren den Inhalt der Erzählungen und deren sozialkritischen Gehalt: Requisiten für einen Dokumentarfilm. Ebenso ließe sich deuten, dass der heitere, vielleicht lächerliche Roman „Tortilla Flat“ die bitterste wirtschaftliche Depression der jüngeren amerikanischen Geschichte konterkariert. Das literaturkritische Echo auf Steinbecks Roman ist tatsächlich geteilt: das Leben der Protagonisten, ihre (Über-)Lebensstrategie, die ganz der Gegenwart verpflichtet ist, erscheint den einen als burlesker Spass, den anderen als perfide Verkommenheit. Für eine gesellschaftskritische Rezeption ist „Tortilla Flat“ einerseits zu unbekümmert heiter, andererseits zu zynisch, sofern die Milieustudie der paisanos als Zurschaustellung interpretiert wird.

Martin Gostners „Dear John“ benutzt den Roman nicht nur als Vorlage, sondern bezieht den Autor in die Arbeit mit ein. Steinbecks Biografie und seine Wirkung als Erzähler des „amerikanischen Realismus“ gehen in Inhalt und Form darin auf. Auch Martin Gostner ist ein Erzähler und wie Steinbeck zentriert er den Stoff, aus genauer Beobachtung und präziser Beschreibung heraus, um die eigene Erfahrung. Nur ist in diesem Fall Gostners Realismus einer der zweiten Ordnung, der aus Zitaten aufgebaut und aus Fundstücken kombiniert wird oder sich gänzlich als Erfindung konstituiert – erfundener Realismus. Mehrere Lagen an Verweisen und Beziehungen bergen und stiften eine kritische Auseinandersetzung mit Kunst- und Zeitgeschichte. Und das alles ist dem Resultat aus künstlerischer Produktion und künstlerischer Projektion zu verdanken: das Peter Salander Publishing House und der imaginierte Dachbodenfund, Danny, seine Freunde und die verklärte Armut, die von der Familie Joad vollzogene unheilvolle Flucht nach Westen, schließlich „Tortilla Flat“, Ortsteil von Monterey und Schauplatz der Handlung, der wiederum ganz entgegen seiner Bezeichnung alles andere als „brettleben“ ist – ein widersprüchliches Faktum.

„Fakten, Fakten, Fakten“ ruft der Herausgeber der Wochenzeitschrift für die eigene Fernsehwerbung: ein echter Schauspieler in einem wirklichen Stück.

Martin Gostners Arbeiten sind weder virtuos noch vordergründig. Sie sind einfach, in der Art wie sie mit sogenannten „armen“ Materialien umgehen, und doch auf verschiedene Weise vielschichtig: bezogen auf das Besondere ihrer Orte, auf das Verhältnis von Realität und Fiktion, auf das Ich des Künstlers u.v.a.m. Dabei geht es nicht darum, dass man all diese Bezüge immer gleich versteht. Vor allem spontanen Verstehen kommt, das ist mir in den Jahren unserer Zusammenarbeit klar geworden, ein gewisses Vertrauen in die Arbeiten. Martin Gostner ist einer der wenigen Künstler, der die feine Balance zwischen einer engagierten Haltung und einer eigenständigen künstlerischen Position austarieren kann. Weder verliert er sich an den Gegenstand der eigenen Recherchen, noch gleitet seine Ironie ins bloß Humorvolle ab. Und trotz der für die Arbeit unabdingbaren Sensibilität bleibt die nötige Distanz erhalten.

Die Ausstellung in der Galerie im Taxispalais im vergangenen Jahr versammelte die unterschiedlichsten Aspekte aus dem gesamten Werk Martin Gostners, ohne tendenziell als Retrospektive angelegt gewesen zu sein. Trotz der Verwendung diverser künstlerischer Medien – Objekt, Wandzeichnung, Video, Installation usw. – überzeugte die Ausstellung aufgrund ihrer durchgängigen Kohärenz. Sie zeigte sich in der identifizierbaren Autorschaft, der es gelingt, von der Befindlichkeit der Welt zu erzählen, ohne sich pauschal an gesellschaftliche Relevanz zu verlieren. Diese Form der Autorschaft mag Gefahr laufen, nicht so kritisch wie nötig und nicht so ironisch wie möglich verstanden zu werden. Es ist etwas Persönliches, das sich hierin qualifiziert, das aus Erfahrung und mit Kompetenz spricht und sich dabei ganz vorsätzlich gegen jede Form der Verallgemeinerung sperrt.

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