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Landvermessung
No. 1, Sequenz 3
Reisen auf Linie

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: Stefanie Holzer und Walter Klier folgen südlich des Alpenhauptkammes einer pfeifgeraden Linie, die vom äußersten Winkel des Südtiroler Vinschgaus zur Wallfahrtskirche von Obermauern im Osttiroler Virgental führt. Hier das dritte Teilstück: über drei heilige Jungfrauen, die auf die bemerkenswerten Namen Aubet, Cubet und Quere hören, über die rechtmäßige Zubereitung von Blutnudeln und warum es nicht strafbar ist, in Südtirol jemanden einen „Eiertreter“ zu nennen.

I. Umschau dort, wo man nie stehen bleibt Am 4. 9. ging es nach Sterzing, um die dritte Tranche der QUART-Landvermessung in Angriff zu nehmen. Wir hatten das, was der Tiroler oder zumindest der Innsbrucker ein „Wetterle“1 nennt. Das Wetterle ist bekanntlich die ultimative Steigerungsstufe von Schönwetter. In diesem Licht sah der leicht angezuckerte Habicht gar nicht wie ein Mörderberg aus, auf dem in jeder Saison Einheimische und Touristen zu Tode kommen.

Die Gondelbahn auf den Sterzinger Roßkopf war in Betrieb. An der Autobahn glänzten der grünsilbrige und orange Sanddorn mit den strahlendroten Ebereschen um die Wette. Die Mautstation in Sterzing wirkte an diesem strahlenden Tag wie ein Triumphbogen des Transits.2

Unsere Vermessungslinie touchiert im Eisacktal Mauls. Der Gasthof „Sachsenklemme“ sollte der südlichste Erkundungspunkt des Tages sein. Hier kamen 1797 und 1809 die Franzosen in die Bredouille, was auf gut Deutsch bedeutet: Sie steckten in der Klemme. Die Sachsen waren bloß die Vorhut. Die Bauern schlugen jedenfalls die Soldaten mit solcher Vehemenz zurück, daß der Eisack „rot von Blut geflossen sei“. In dem rund hundert Jahre alten Gasthaus bereiteten sich Andrea und Paula auf das Mittagsgeschäft vor. Berufskraftfahrer unterbrachen im Schnitt vier Minuten lang ihre Fahrt, um einen Macchiato zu trinken und sofort weiter zu brausen.3

Wir fragen Andrea, wie oft am Tag sie ihren Gästen erklären muß, weshalb das Gasthaus diesen Namen trägt. Niemand fragt sie nach dem Namen. Nicht einmal Gäste aus Deutschland? Aus Sachsen? Schließlich sei „Sachsenklemme“ doch ein ungewöhnlicher Name? Andrea kann das nicht finden, schließlich hat das Gasthaus immer schon so geheißen.4

Vor dem Haus grasen ein weißes und ein braunes Lama, sie sind angestierlt wie früher Ziegen. Lama oder Alpaka? Der trotz Zigarettenpause von Gulaschdunst umwehte Koch ist sicher, daß es Lamas sind. Wenn Andrea einmal eine Tochter haben sollte, wird diese möglicherweise überzeugt sein, bei der Sachsenklemme hätten immer schon Lamas gegrast. Die Kapelle zur Hl. Anna im Sack war verschlossen. Statt dessen zog eine Ritterrüstung über dem Eingang den Blick des nach Sehenswürdigem dürstenden Besuchers nach oben in den ersten Stock über der Wirtshaustür: Historisch ist dieses Schmuckstück nicht mit dem Ort zu verbinden, touristisch geht das offenkundig ganz leicht.

Gleich nördlich der Sachsenklemme tritt mit dem Pflerscher Tribulaun einer der imposanteren Berge der Region ins Bild. Wir folgen dem Schild Mauls/ Mules centro. Maximal hundert Meter hinter der Transithölle herrscht das dörfliche Idyll. Just am Tag unseres Besuches ist die Straße nach Ritzail gesperrt. Von einer Baustelle war aber nichts zu bemerken, also fahren wir trotz Sperre forsch bergan. Als sich einmal ein freier Blick auf den Bach ergab, sahen wir eine braune Suppe, die sich ins ins Tal ergoß, was darauf schließen ließ, daß weiter oben eine Baustelle war. Wenigstens bis dorthin wollten wir kommen: Bei den Tornanten 5 und 6 stand jeweils ein im Verfall begriffener Hof. Weiter oben waren die Höfe prächtig: Vorbei am Loachnhof, dem Pfitscherhof und dem Kaspererhof kamen wir oben beim Bairerhof an: Der Ausblick auf die südlichen Stubaier und ins Ridnaun erfreute – bis der eigentliche Höhepunkt dieses Ausflugs sich ins Blickfeld drängte: Vier Tage vor dem Fest Maria Geburt, das bekanntlich am 8. September gefeiert wird, zeigten die Schwalben, was eine Flugshow ist. Sie sausten dicht am Hang entlang, stiegen auf, machten ein Looping, das alle Draken und Eurofighter matt aussehen läßt. An einem neu erbauten Stadel rasteten sie kurz, schauten den Kollegen zu und stürzten sich unter dem Motto „Besser machen!“ wieder ins Getümmel. Bachstelzen und Rotschwänze ließen sich auch nicht lumpen, aber dieser Nachmittag gehörte den Schwalben. Im Juni, wenn sie Junge haben, werden wir wiederkommen. Schwalben bringen bekanntlich Glück.

Die steilen Wiesen waren grün gestreift, wie ein frischgemähter und dann vertikal aufgestellter Fußballplatz. Dort, wo kein Mäher zugang gewesen war, hatte sich das Gras schon braun verfärbt. Die Straße war übrigens dank der ausführlichen Mittagspause in Italien auch retour frei befahrbar. Ob wir so mutig gewesen wären, wenn wir gewußt hätten, daß Carabinieri seit neuestem nicht nur strafen, sondern auch Fahrzeuge beschlagnahmen?

An der Außenmauer der Pfarrkirche zum Hl. Oswald im Mauls findet sich der Stein zur Grabstätte der Familie Hofer Plana-Thaler: Die Eheleute Hofer Josef (1843–1927) und Pichler Helene (1848–1919) hatten vier Kinder. Johann starb 1880 mit zehn Jahren, Josef 1871 zwei Tage nach seiner Geburt, Anna wurde 1954 offenbar ledig mit 82 Jahren zu Grabe getragen. Der jüngste hieß wieder Josef (1874–1956), er hatte Maria Mayr (1880–1943) geheiratet, mit der er drei Kinder hatte: Anonymus 5.4.1902 – 5.4.1902, Alois 4.12.1903 – 20.3.1904, Anonymus 5. 3. 1905– 5.3.1905. Am Ende adoptierten die trauernden Eltern einen Knaben, der 1944 im Krieg gefallen ist.

Wer Grabsteine liest, ist erschüttert über das Ausmaß der Kindersterblichkeit vor hundert Jahren. Nicht weit von der Hoferschen Grabstätte ist die der Familie Seeber: Die Seebers hatten 12 Kinder, von denen vier am Leben blieben.

Der Maulser Kirchenpatron „Oswald König“, ein Sohn von Ethelfrid, dem König von Northumbrien, ist in den Deckenfresken dargestellt, wie er Almosen an die Armen verteilt. Nicht untypisch für einen Engländer übersieht er bei seinen milden Gaben auch ein schwarz-weißes Hündchen nicht. Das örtliche Despar-Geschäft hatte nicht einfach wegen Urlaubs vom 1. bis zum 7. 9. geschlossen, sondern zeigt, wie weit gefühlige Sprachhülsen sich aufs Land hinaus verbreitet haben: Statt schlicht den Urlaub als Begründung für die einwöchige Abwesenheit anzugeben, formulierte der Geschäftsinhaber: „Wir sammeln neue Kräfte!“

Den nächsten Halt an der Bundesstraße würde der wißbegierige Tourist gern beim Castel Guelfo einlegen, doch da dieses Schlößchen ohnehin in Privatbesitz und nur hundert Jahre alt ist, ging es einfach weiter zur nächsten klerikalen Sehenswürdigkeit: Valgenein oder Valgenäun mit der Kirche zum Hl. Valentin liegt weithin sichtbar östlich der Bundesstraße am Hang. Das Auto bei der Kirche abzustellen, ist schwierig: Der Bauer war gerade im Stall. Die Kühe brüllten. Er brüllte etwas im lokalen Idiom. Wir meinten das Wort „Schweine“ verstanden zu haben. W. befürchtete, er könnte uns gemeint haben, schließlich stand zumindest unser halbes Auto auf seinem Privatgrund. (Er hat uns aber schließlich nichts getan.) Die Kirche selbst ist ein schöner, innen weitgehend schmuckloser Bau aus der Zeit um 1500.

Auf einem Bauernsträßchen gondelten wir in den Wallfahrtsort Maria Trens: Die meisten Votivtafeln in der spätgotischen Kirche zeigen eine Kopie des Gnadenbildes und verraten nur „Maria hat geholfen“. Viel schöner sind die raren Tafeln, auf denen abgebildet ist, warum Maria hat helfen müssen: Ein Stier steht über einer am Boden liegenden Person. Selbige hat das Votivbild anfertigen lassen: „Durch Anrufung der Gnadenmutter von Trens bin ich von augenscheinlicher Todesgefahr gerettet worden und durch ihre Vorbitte habe ich wiederum volle Gesundheit erhalten. Dank und Ehre sei der göttlichen Mutter.“ Kurios ist, daß unter all den gleichförmigen Bildern der Gnadenmutter zwei Darstellungen das Jesuskind auf der falschen Seite haben.

Auf der anderen Talseite liegt Stilfes, ein überaus katzenreiches, lauschiges Dorf, durch das die alte Brennerstraße führte. Südtirol ist naturgemäß in jeder Hinsicht eine wunderbare Gegend, allerdings besteht ein schwer zu verwindender Mangel darin, daß kaum ein Südtiroler Pfarrer einen Führer zu seiner Kirche anfertigen läßt. Kirchen sind in erster Linie für Gläubige da, doch die Pfarrer sollten auch an die Möglichkeit denken, daß Kunstsinnige einer Spontanbekehrung anheimfallen könnten, was in der Kirche allemal wahrscheinlicher ist als außerhalb. W. jedenfalls fürchtete lange Zeit, daß ihn dieses Schicksal einmal ereilen könnte.

Auf der Höhe von Sterzing ist nach Süden blickend rechts die Burg Reifenstein. Dorthin stiegen wir auf. Aus einem der Fenster blickte eine Dame, die ein Bügeleisen in der Hand hielt, was uns als Beweis genügte, daß die Burg im Sommer tatsächlich bewohnt wird. Fünfmal täglich (9 Uhr 30, 10 Uhr 30, 14 Uhr, 15 Uhr, 16 Uhr) werden Führungen abgehalten, wir allerdings kamen so ungünstig dazwischen an, daß wir dieses Vergnügen noch aufschieben mußten. Wir statteten dafür der Kapelle St. Zeno auf dem Burghügel einen Besuch ab und stellten wieder einmal fest, daß sich die Gewerbezone rund um Sterzing beunruhigend ausdehnt. Wenn man von oben auf deren Wucherungen westlich von Reifenstein blickt, wünscht man sich, Wirtschaft und Gemeinden sähen es als gemeinsames Interesse, Gewerbegebiete ästhetisch befriedigend zu gestalten.

Gleich hinter Reifenstein findet sich in Elzenbaum/ Pruno mit der unterhalb der Penser-Joch-Straße gelegenen, zinnenbewehrten Burgschenke das, was man gemeinhin einen Geheimtipp nennt. Dort gibt es Hausmannskost zwischen Hauswurst mit Kraut und Tortellini. Den einsamen Exotik-Höhepunkt auf der Speisekarte markierte mit „Blutnudeln“ eine alte Tiroler Speise. Der Name klingt nicht unbedingt verlockend, doch aus Prinzip und Recherchegründen mußte einer von uns beiden der sublimen Verlockung der Blutnudeln erliegen. Es sei vermerkt, daß das weibliche Geschlecht schreckhaft Zuflucht zur Hauswurst nahm, während das männliche unerschrocken den Blutnudeln nähertrat – was ihm gelohnt wurde. Laut Maria Drewes’ Kochbuchklassiker „Tiroler Küche“ werden Blutnudeln im Prinzip wie Hausnudeln fabriziert. Der einzige Unterschied liegt darin, daß das Mehl „mit gewässertem Blut zu einem mittelfesten Nudelteig verarbeitet“ wird. Im Kontext ist von Hausschlachtungen die Rede, deswegen ist anzunehmen, daß es sich um Schweinsblut handelt. Genauso geradlinig wie die Blutnudeln ist übrigens eine Pension an der Penser-Joch-Straße mit dem Namen „Transit“ benannt.

Sterzings Stadtmuseum im Deutschhaus wird seit geraumer Zeit renoviert. Die Fertigstellung ist für das Fühjahr 2004 projektiert. Abgesehen von der hübschen Altstadt blieb die eigenartige Stadtpfarrkirche als einzige Muß-Sehenswürdigkeit übrig: Sie steht zum einen außerhalb der Altstadt und zum anderen hat sie keinen Turm. Die abseitige Lage der Kirche wird damit erklärt, daß die Ridnauner Bergknappen es so näher gehabt hätten, die sich am Bau finanziell erheblich beteiligt hatten (klingt an den Haaren herbeigezogen!). Die Stadtpfarrkirche zu Unserer lieben Frau im Moos steht, wie der Name sagt, auf dem trokkengelegten Sterzinger Moos.5 Der Untergrund drohte unter dem Gewicht des zum imposanten Gotteshaus passenden Turms nachzugeben, also sah man davon ab, ihn überhaupt zu errichten. Im Inneren ist die im 15. Jahrhundert errichtete Kirche weitgehend barockisiert. Wir schlenderten vorbei an den prächtig geschnitzten und absperrbaren Kirchenbänken, blickten gebannt auf die Decke mit den bunt-schönen Fresken des Josef Adam Mölkh, „accademicis vienensis“, drängten uns, um genauer zu sehen, an einem Absperrgitter beim Taufstein vorbei, und lasen zu unserer Überraschung ein Schild mit dem Text „Pericolo caduta in tonaco!“ Tatsächlich: über uns war ein riesiger Sprung im Gewölbe.

An der Außenwand der Kirche ist ein Grabstein von Alexander Colin, der bekanntlich die Reliefs am Grabmal Kaiser Maximilians I. geschaffen hat. Dieses Kunstwerk aus dem Jahr 1602 steht in einem ungünstigen Verhältnis zu einem modernen künstlerischen Zeichen der Frömmigkeit im Eingangsbereich der Kirche. Es kann nur Angst, große Angst vor der modernen Kunst sein, die es ermöglicht, daß ästhetisch unterbelichtete Amateurskunst so prominent im öffentlichen Raum aufgestellt wird.

Der Tag klang aus im Schanigarten des Café-Restaurant Lilie, „Wirtshaus seit 1461“6: Unter einer beachtlichen Menge Touristen sitzt der eine, der in Südtirol nie fehlt. Er trägt einen grünen Hut, und die Wirtin weiß schon, was er will. „A Glasl?“ fragt sie ihn pro forma, er nickt nur.

Eigentlich schon auf dem Heimweg kam es noch im Stadtgebiet zu einer Fahrtunterbrechung: Das Ziel war der Hofer-Parkplatz nördlich der Altstadt. Auch wenn man eigentlich gar nichts braucht, gibt man beim Hofer ungefähr hundert Euro aus, weil es nirgendwo sonst so viele unterschiedliche Nudeln und Weine gibt, denen allen zu widerstehen praktisch unmöglich ist.7

II. Das Wunder

Südlich von Franzensfeste querten wir den Eisack und bogen ins Pustertal ab. Das Verkehrsaufkommen in diesem Tal ist berühmt-berüchtigt, weshalb uns das Herz gar nicht schwer wurde, als wir gleich noch einmal abbogen, um das Südtiroler Valser Tal zu erkunden. Früher führte die Straße abenteuerlich steil am Talboden entlang. Heutzutage bringen ein paar sehenswerte Gustostückerl von Ingenieurskunst hoch über dem Tal dem Autofahrer Bequemlichkeit. Während man sich noch fragt, ob das viele Geld nicht anderswo besser investiert worden wäre, ob das Valser Tal wohl so viele Bewohner hat, daß sich so eine Investition auszahlt, erreicht man Vals: Dem stattlichen Gasthof Masl kennt man jedenfalls an, daß zumindest der Wirt in Vals seit 1680 ein wohlhabender Mann war. Dann tauchten nagelneue und riesige Hotelburgen auf. Die Zweifel bezüglich der Straße waren damit ausgeräumt, die bezüglich der Ästhetik der Hotels nicht.

Wir kurvten weiter talein: Vals liegt auf 1363 m, der Parkplatz vor dem endgültigen Fahrverbot liegt über dem „Ochsensprung“ auf 1697m8. In etwa hundert Autos parkten dort, allesamt gelenkt von Unerschrockenen, die zwar schlecht zu Fuß sein mögen, aber ohne jede Angst vor Engstellen und Abgründen. Sieben Gehminuten vom Parkplatz erreicht man eine der schönsten Almsiedlungen Tirols: etwa dreißig zum Teil aneinander gebaute, mit Holzschindeln gedeckte Hütten, großteils für Vieh, einige auch für Menschen. Die Hänge über der Fane-Alm waren braun – von der Trockenheit des Sommers wie vom ersten Frost. In buschigen Gruppen standen abgeblühte Weideröschen, deren weinrot-silbrige Samenstände für einen Moment an exotische Gewächse denken ließ. Im Süden ist das Felsmassiv der Geislergruppe auch oder gerade für Nicht-Alpinisten ein Blickfang. Der höchste Berg im Umkreis ist mit 3132 m die Wilde Kreuzspitze. Viereinhalb Stunden sind für den Aufstieg von der Alm zu veranschlagen. Die meisten der Besucher, die wir sahen, dürften sich mit etwas bescheideneren Zielen begnügt haben.

Mittagsrast hielten wir in der neuerbauten Käserei der Fane-Alm. Wer sich vor Dosenfutter fürchtet, ist hier richtig, denn hier kocht die Bäuerin selber eine Gulaschsuppe aus magerem Fleisch, Karotten, Zucchini, Erdäpfeln und Stangensellerie. Gewürzt wurde mit Salz, Paprika, Kümmel, Pfeffer und Lorbeer. Zum Trinken bestellten wir, um uns richtig almmäßig zu fühlen, nein, kein Schnapsl, sondern Molke und Buttermilch.

Am Nebentisch wurde beobachtet, wie handschriftliche Notizen in ein dickes Buch gemacht wurden. „Das ist eine Schriftstellerin“, stellten die schwäbischen Wanderer fest und nahmen sich dennoch nicht in acht. Sie besprachen eine Bekannte, die seit einiger Zeit in Neuseeland lebt.

Jüngere Frau: Die Christl ist nicht einmal zum Begräbnis ihrer Mutter gekommen.
Ältere Frau: Das kostet ja auch viel Geld.
Junger Mann: Der Flug 2000 Mark. Kostet ja der Charterflug auch 1500 Mark.
Jüngere Frau: Sie hat dem Pfarrer was gefaxt, was der in der Kirche vorlesen soll.
Ältere Frau: Ist eh super.
Jüngere Frau: Ich würde auch gern einmal nach Neuseeland.
Junger Mann: Gestern war’s noch Mauritius.
Jüngere Frau: Und Afrika, die zwei täten mich reizen. Ich tät so eine Safari machen wollen …
Junger Mann: Für das Geld kannst weit in Deutschland rumfahren, und da ist es genauso schön.
Älterer Mann: So ist es.

Kirchen sind nicht nur Orte des Glaubens und des Kunstsinns, immer wieder entdeckt man auch berührende Dokumente der Sozialgeschichte. Außen an der Pfarrkirche zum Hl. Andreas in Vals steht zu lesen: „Hier ruht Frau Maria Huber, geb. Zingerle, welche zu Vals am 16. März 1876 geboren und am 28. Nov. 1900 gestärkt mit der hl. Oelung selig im Herrn entschlafen ist; und ihr unschuldiges Kind, geb. 28. Nov. 1900, gest. 12. März 1901.“ Selbst bei warmem Sonnenschein wird einem fröstelig zumute, wenn man sich eine schwierige Geburt in Vals vor hundert Jahren vorstellt.

Eine bedeutende religiöse Sehenswürdigkeit erwartet den Besucher auf dem Hochplateau von Meransen, einer Fraktion der Gemeinde Mühlbach unten im Tal. Die Kirche selbst ist 750 Jahre alt, außen an der Westseite ist ein riesiger Christophourus, der mit dem Jesulein auf seinen Schultern durch einen mit allerlei wunderbaren Tierchen bevölkerten Fluß geht: Seesterne, Fische mit Hühnerkämmen und verschiedene Mensch-Fisch-Wesen, die ein bißchen an die Wunderwesen in der Traminer Kirche St. Jakob in Kastelaz erinnern. Auf diesem Gemälde haben Pilger einander mit Rötelstift Nachrichten oder einfach ihre Signatur hinterlassen.

Schon beim Eintritt in den Friedhof erspähten wir ein frisches Grab mit einem hellen Holzkreuz und einem schwarzen Schleier. Die Inschrift besagte, daß die am 11. 12. 1926 geborene und am 6. 5. 2003 verstorbene „Aubet Cubet Quere Untersteiner“ hier begraben war. Aubet, Cubet und Quere waren drei heilige Jungfrauen, denen zu Ehren von alters her am 16. 9. in Meransen eine Prozession durchgeführt wird. Als wir das lasen, schauten wir auf die Uhr und stellten fest, daß wir uns durch ein Wunder, jedenfalls zufällig genau am Ehrentag der Jungfrauen in Meransen eingefunden hatten. Die moderne Zeit ging auch an den „drei Bethen“ nicht spurlos vorüber: Heutzutage wird die Prozession am Sonntag nach ihrem Ehrentag durchgeführt.

Die Jungfrauen wurden von der Orthodoxie nie als katholische Heilige zugelassen. Die Legende besagt, sie seien burgundische Prinzessinnen im 11.000 Jungfrauen zählenden Gefolge der Hl. Ursula9 gewesen, die vor Attila, dem Hunnenkönig, geflohen seien. Ungefähr auf halber Höhe zwischen Mühlbach und Meransen haben die drei gerastet. Die Wanderkarte verzeichnet dieses Faktum mit dem Wort „Jungfernrast“. Zur Labung der strapazierten Wandererinnen entsprang stracks eine Quelle, und ein Kirschbaum bot seine Früchte dar. Heute steht an dieser Stelle übrigens eine Linde.

Manche halten Aubet, Cubet und Quere für ursprünglich keltische Göttinnen, die in den christlichen Kontext übernommen wurden. Sie könnten auch die Vorläuferinnen der allenthalben beliebten „drei heiligen Madl“ Margarethe, Barbara und Katharina sein, die man bekanntlich mit dem Merkspruch „Margaretha mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madl“ auswendig lernt, so als brauchte man eine Gedächtnisstütze. Einmal Gelerntes umzulernen ist fast unmöglich, wie all jene wissen, die zum Beispiel das Glaubensbekenntnis noch mit Formulierungen wie „Auferstehung des Fleisches“ memoriert haben. Im Nordtiroler Oberland gibt es jedenfalls mit St. Vigil in Obsaurs eine zweite, ebenfalls sehr idyllisch gelegene Stelle, wo die Jungfrauen bis heute verehrt werden.

Die Wirtin des Hotel-Restaurant Stubenruß, wo man übrigens köstliche selbstgemachte Kuchen (Buchweizentorte, Weintorte) bekommt, konnte beruhigen, daß die Prozession auch heuer stattfinden würde, obwohl der Pfarrer kürzlich verstorben war. Meransen hat Glück: Ein neuer, „ganz netter“ Pfarrer kommt aus Meran nach Meransen. Die Schwierigkeit, heutzutage Pfarrer zu kriegen, wüßte die Wirtin auch zu lösen: „Wenn sie sie heiraten lassen täten, wäre das anders! Aber da müßten’s auch für die Familien zahlen.“

Ein Ort, an dem Halt zu machen uns bisher noch nie eingefallen ist, ist Mühlbach an der Rienz. Und das ist ein Fehler, denn Mühlbach ist ausnehmend hübsch mit seinem mittelalterlichen Kern und einer wunderschönen Pfarrkirche zur Hl. Helena. Letztere schmückt ein minder schöner moderner Anbau, doch darüber trösten im Inneren Fresken von Friedrich Pacher hinweg und eine von anderer Hand stammende Darstellung der Geschichte von den drei Jünglingen im Feuerofen, eine Art alttestamentarischer Comic-strip: Der König befiehlt, Schadrach, Meschach und Abed- Nego mögen eine Säule anbeten. Als gläubige Juden verweigern sie das, werden in den Ofen geworfen und treten alsbald unversehrt wieder heraus. Dies überzeugt den König von der Überlegenheit ihres Glaubens. Er fackelt nicht lange und läßt die Säule umreißen.

Landeskundlich interessant schien uns eine Zeitungsnotiz unter dem Motto „Erweitern Sie Ihren Wortschatz“: Eine Boznerin hatte ihren Nachbarn beim Bäcker einen „rompiballe“ genannt. Unsereiner, der kein Italienisch versteht, denkt sich nichts. Der Nachbar jedoch ging wegen übler Nachrede zu Gericht. So weit wäre das noch nichts Besonderes. Doch nun urteilte eine Richterin, daß dieses „rompiballe“, von der „Tageszeitung“ mit „Eiertreter“ (was ist das?) übersetzt, keinen Straftatbestand ergebe, denn dieser Terminus sei „mittlerweile weit verbreitet“ und bei seiner Verwendung stehe „nicht unbedingt der Bezug auf Schamteile im Vordergrund“. Für die weite Verbreitung spricht auch, daß die „Dolomiten“ vom Tage den Ausdruck unübersetzt ließen.

Fortsetzung folgt.

1   „Ich kam über ein Joch, Brenner genannt, wo ich unter großer Kälte zu leiden hatte. Sogar im Sommer fehlte es hier nicht an Schnee, Reif und Eis.“ (Felix Faber, 1483)
2   „Endlich brach die Sonne hervor. Die gefrorenen Scheiben begannen aufzutauen, die Fichtenvegetation wurde üppiger. Es geht nach Italien, sagten wir, und doch froren dem Postillion Wangen und Nase derart, daß sie dieselben Farben hatten wie die Morgenwolke.“ (Hans Christian Andersen, 1840)
3  „In Mittewald punkt zwölf Uhr fand ich alles in tiefem Schlafe, außer dem Postillion, und so ging es weiter auf Brixen …“ (Goethe, Italienische Reise, 1786)
4   „In der neunten Abendstunde war der Sachsen Not zu Ende, die Hälfte derer, die vor zwei Tagen den Marsch gegen Brixen angetreten hatten, 1000 Mann, war gefallen oder gefangen, unter letzteren ein grosser Teil verwundet. Der zweitägige Kampf, der sich auch unter den Bauern so manches Todesopfer geholt, hatte die Furie roher Kraftäusserung unter ihnen entfesselt. Im Augenblick des siegreichen Eindringens konnte sie nicht gleich gebannt werden. Gewaltakte und Beraubung der Gefangenen sind vorgekommen. Schnell jedoch machte das Toben besseren Regungen Platz. Man kümmerte sich um die Pflege der Blessierten, die nach Neustift gebracht wurden, und für die Gesunden gestaltete sich der unfreiwillige Aufenthalt im Lande zu einem erträglichen. – Also war die Eisackschlucht zur Sachsenklemme geworden.“ (Josef Hirn, Tirols Erhebung, 2. Aufl. 1909, 578 f., zum 5. Aug. 1809)
5   „… medieval legends made the Sterzinger Moos the last dwelling-place of defunct spinsters, each will-o’-the-wisp flame floating at night-time over the marsh representing an unhappy maiden lady searching restlessly for a husband. What has become of these poor souls since navvies have trenched and drained the place history does not relate. Let us hope that they now share those breezy dwelling-places of elfs and fairies high up in the ice-caves of glaciers, where the eternal snow can best quench the hell-fire of their torments.“ (W. A. Baillie-Grohman, Tyrol. 1908, p. 114)
6   „In dieser Stadt ließ er den Schulmeister rufen, um sich mit ihm auf lateinisch unterhalten zu können; aber es war ein Dummkopf, von dem er nichts über die Verhältnisse der Gegend erfahren konnte.“ (Michel de Montaigne, 1580)
7   „Von Brixen aber kamen sie ins Gebirge und erreichten gerade nach Essenszeit Sterzing. Und da die Leute kein Brot zur Hand hatten und die Brüder nicht wußten, wie sie bitten sollten, zogen sie in der Hoffnung, daß sie gegen Abend irgendwohin kämen, wo sie von mildreichen Leuten gelabt würden, weiter bis Mittewalde (= Brenner) …“ (Jordan von Giano, 1221)
8   „… vorbei am heute grausam gesprengten und entstellten Ochsensprung, einer einst sehr malerischen Felspartie …“ (Josef Rampold, Pustertal, 1975)
9   „Sie wären also Engländerinnen gewesen und man könnte in ihnen, die mit so viel Muth, Geschick und Glück vom Rhein bis ins Pustertal durchgedrungen, sogar ein Vorbild jener modernen englischen Touristinnen erblicken, die sich ja auch mit staunenswerther Verwegenheit bis unter die Menschenfresser hineinwagen.“ (Ludwig Steub, Drei Sommer in Tirol, 1848/72, Bd. III, S. 178) Ursula wäre in Wirklichkeit erst durch die – projektierte – Heirat mit dem englischen Fürstensohn Aetherius Engländerin geworden, wurde aber vorher ermordet. „Die Rede von 11.000 Leidensgenossinnen beruht auf einer versehentlichen Multiplikation der tatsächlichen Zahl mit dem Faktor Tausend.“ (Ökumenisches Heiligenlexikon)

 

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