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Il Ritorno in Patria

In den Achzigerjahren hat W. G. Sebald Tirol durchquert und im Band „Schwindel. Gefühle“ einen wegweisenden Text über die Strecke Bruneck-Fernpass veröffentlicht (rechte Seiten). Paul Albert Leitner ist Sebalds Weg fotografisch gefolgt (linke Seiten).

Im November 1987, nachdem ich die ausgehenden Sommermonate mit meinen verschiedenen Arbeiten beschäftigt in Verona, die Oktoberwochen aber, weil ich den Winter nicht mehr erwarten konnte, in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel verbracht hatte, faßte ich eines nachmittags, als der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle Weise aus einer grauen Schneewolke auftauchte, den Entschluß, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit nach W. zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war. Weil von Innsbruck aus nur ein einziger Bus, und zwar, soviel ich in Erfahrung bringen vermochte, um sieben Uhr morgens in Richtung Schattwald geht, hatte ich keine andere Wahl, als den für mich mit unguten Erinnerungen verbundenen Nachtexpreß über den Brenner zu nehmen, der so gegen halb fünf in Innsbruck eintrifft. In Innsbruck herrschte wie jedesmal, wenn ich dort, gleich zu welcher Jahreszeit, anlange, das grauenvollste Wetter. Mehr als fünf oder sechs Grad hat es gewiß nicht gehabt, und die Wolken hingen so tief herunter, daß die Häuser in ihnen nicht verschwanden und die Morgendämmerung nicht aufkommen konnte. Zudem regnete es ohne Unterlaß. Es war also ausgeschlossen, in die Stadt hinein oder ein Stück den Inn entlang zu spazieren. Ich schaute auf den verlassen daliegenden Bahnhofsvorplatz hinaus. Ab und zu bewegte sich langsam irgendein Fahrzeug über die schwarz glänzenden Straßen. Letzte Exemplare einer im Aussterben begriffenen amphibischen Art, die nun zurückgezogen in die Tiefe des Wassers. Auch die Schalterhalle war leer bis auf einen kleinen kropfigen Menschen in einem Wetterfleck. Den zusammengeklappten, tropfnassen Regenschirm mit der Spitze nach oben wie einen Karabiner gegen die Schulter haltend, ging er gemessenen Schritts auf und ab und vollführte derart exakte Kehrtwendungen, als bewache er das Grab des Unbekannten Soldaten. Einer nach dem anderen kamen dann die Sandler zum Vorschein, kaum daß man hätte sagen können, von wo. Ein Dutzend Sandler waren es zuletzt insgesamt und eine Sandlerin. Sie bildeten eine bewegte Gruppe um einen Kasten Gösser- Bier, der wundersamerweise, gewissermaßen aus dem Nichts hervorgezaubert, auf einmal in ihrer Mitte stand. Verbunden untereinander durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich diese teils kaum erst aus dem bürgerlichen Leben ausgeschiedenen, teils ganz und gar zerrütteten Innsbrucker Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug. Mit der größtmöglichen Theatralik und Endgültigkeit unterstrichen die Sandler ihre jeweiligen Ausführungen zu dem, was grad zur Debatte stand, und auch wenn einer von ihnen voller Verachtung abwinkte, weil er den Gedanken, den er eben noch im Kopf gehabt hatte, nicht mehr in Worte fassen konnte, kam es mir vor, als entstammten diese Gesten dem Repertoire einer besonderen, auf unseren Bühnen völlig unbekannten Schauspielkunst. Möglicherweise lag das daran, daß die Sandler, die sämtliche in der Rechten ihre Bierflaschen hielten, gewissermaßen einarmig und linkshändig spielten. Und möglicherweise, so schloß ich aufgrund dieser Beobachtung, wäre es also sinnvoll, wenn man allen Schauspielschülern zu Beginn ihrer Ausbildung ein Jahr lang die rechte Hand auf den Rücken binden würde. Mit derlei Betrachtungen verging mir die Zeit, bis die Pendler in zunehmender Zahl durch die Vorhalle strebten und die Sandler sich verzogen. Um Punkt sechs Uhr sperrten die sogenannten Tiroler Stuben auf. Ich setzte mich hinein in diese alle anderen mir bekannten Bahnhofswirtschaften an Trostlosigkeit bei weitem übertreffende Restauration, bestellte mir einen Morgenkaffee und blätterte in den Tiroler Nachrichten. Beide, der Tiroler Morgenkaffee und die Tiroler Nachrichten wirkten sich auf meine Verfassung eher ungünstig aus. Es wunderte mich darum keineswegs, daß die Dinge noch eine schlimmere Wendung nahmen, als die Bedienerin, der gegenüber ich eine meines Erachtens gar nicht unfreundliche Bemerkung über den Tiroler Zichorienkaffee hatte fallen lassen, mir auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul anhängte.

Durchfroren und übernächtigt wie ich war, ging mir die Ausgeschämtheit dieser Innsbrucker Bedienerin wie ein Nervengift unter die Haut. Die Buchstaben zitterten und verschwammen vor meinen Augen, und mehrmals hatte ich ein Gefühl, als sei in mir alles am Verstocken. Erst als der Bus aus der Stadt hinausrollte, wurde mir allmählich ein wenig wohler. Nach wie vor kam in Strömen der Regen herunter, dermaßen, daß selbst die unweit der Straße gelegenen Häuser nur schemenhaft zu erkennen, die Berge nicht einmal zu erahnen waren. Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der alten Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. Es kam auf diese Weise bald eine ganze Anzahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem mir aus der Kindheit vertrauten, hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt vornehmlich, ja ausschließlich von dem nicht mehr enden wollenden Regen, der an vielen Orten schon ganze Berghänge in Bewegung gebracht hatte. Von dem auf den Feldern verfaulenden Heu und den im Boden verfaulenden Kartoffeln war die Rede, von den Johannisbeeren, aus denen nun bereits das dritte Jahr nichts geworden war, vom Holder, der heuer erst Anfang August geblüht habe und noch in der Blüte völlig verregnet worden sei, sowie davon, daß man weit und breit nicht einen einzigen eßbaren Apfel habe ernten können. Wie sie weiter die Folgen des offenbar immer minder werdenden Wetters, der mangelnden Wärme und des mangelnden Lichts erörterten, tat es draußen, zuerst nur ganz wenig und dann mehr und mehr, auf. Man konnte den Inn sehen, seine durch weite Steinfelder mäandernden Wasser, und bald schon sah man auch schöne grüne Wiesen. Die Sonne trat hervor, die ganze Landschaft erglänzte, die Tirolerinnen verstummten eine nach der anderen und schauten bloß noch hinaus auf das, was da draußen vorbeizog wie ein Wunder. Mir selber erging es ganz ähnlich. Die frisch gefirnißte Gegend – wir fuhren jetzt aus dem Inntal heraus in Richtung Fernpaß –, die dampfenden Wälder, das blaue Himmelsgewölbe, es war selbst für mich, der ich aus dem Süden heraufkam und die Tiroler Dunkelheit ein paar Stunden bloß hatte aushalten müssen, wie eine Offenbarung. Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lang zu regnen aufgehört hatte, ein für die winzigen weißen Tiere, wie es mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser so weit ins offene Feld sich hinauswagenden kleinen Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen oder Wesen, das mich manchmal so rührt. Nach und nach kamen wir höher hinauf. Die brandroten Lärchenstände leuchteten an den Seiten der Berge, und es zeigte sich, daß es sehr weit heruntergeschneit hatte. Wir überquerten den Fernpaß. Ich verwunderte mich über die Geröllhalden, die von den Bergen herunter in die Wälder hineingriffen so wie Finger ins Haar, und es erstaunte mich wieder die schleierhafte Zeitlupenhaftigkeit der wenigstens solange ich denken konnte unverändert über die Felswände herabstürzenden Bäche. An einer Wegkehre sah ich aus dem sich drehenden Autobus in die Tiefe hinunter und erblickte die dunkeltürkisgrünen Flächen des Fernstein-Sees und des Samaranger Sees, die mir schon in der Kindheit, als wir mit dem 170er Diesel des Schofförs Göhl den ersten Ausflug ins Tirol machten, wie der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit vorgekommen waren.

Gegen Mittag – die Tirolerinnen waren längst alle in Reutte, in Weißenbach, in Haller, Tannheim und Schattwald ausgestiegen – erreichte der Bus mit mir als dem letzten Fahrgast das Zollamt von Oberjoch. Das Wetter hatte inzwischen wieder umgeschlagen. Eine dunkle, ins Schwarzfarbene übergehende Wolkendecke lag über dem ganzen Tannheimer Tal, das einen niedergedrückten, lichtlosen und gottverlassenen Eindruck machte. Nirgends rührte sich das geringste. Nicht einmal ein einziges Automobil war zu sehen auf der weit hinten in der Tiefe des Tals sich verlierenden Strecke. Auf der einen Seite stiegen die Berge in den Nebel hinein, auf der anderen dehnte sich eine nasse Moorwiese, und dahinter erhob sich aus dem Vilsgrund herauf der kegelförmige, aus nichts als aus schwarzblauen Fichten bestehende Pfrontner Wald. Der diensthabende Zöllner, der, wie er mir sagte, in Maria Rain zu Hause war, versprach mir, meine Tasche nach Feierabend, wenn er auf der Heimfahrt durch W. komme, für mich im Engelwirt abzuladen. Ich konnte also, nachdem ich ein paar weitere Worte mit ihm über die elende Jahreszeit gewechselt hatte, bloß mit dem kleinen ledernen Rucksack über der Schulter durch die ans Niemandsland grenzenden Moorwiesen und den Alpsteigtobel hinab nach Krummenbach und von dort über das Unterjoch, die Pfeiffermühle und das Enge Plätt nach W. hinausgehen. Der Tobel war erfüllt von einer Dunkelheit, wie ich sie mitten am Tag nicht für möglich gehalten hätte. Nur zu meiner Linken, über dem vom Weg aus nicht sichtbaren Bachlauf schwebte ein wenig schütteres Licht. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Selbst diejenigen, die zuunterst aus dem Tobelgrund emporwuchsen, hatten erst weit überhalb des Niveaus, auf welchem der Weg fortlief, schwarzgrüne Wipfel. Immer wieder, wenn die Luft dort droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise, wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. Keinen Laut gab es in dem Tobel als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei, nichts. In zunehmendem Maße verspürte ich ein Gefühl der Beklemmung in meiner Brust, und es war mir auch, als ob es, je weiter ich hinunterkam, desto kälter und finsterer werde. An einem der wenigen halbwegs offenen Plätze, wo man von einer Art Kanzel sowohl auf den Wasserfall und Gumpen hinab- als auch hoch in den Himmel hinaufschauen konnte, ohne daß sich hätte sagen lassen, welche Blickrichtung die unheimlichere war, sah ich durch die, wie es schien, endlos aufragenden Bäume, daß in der bleigrauen Höhe ein Schneegestöber ausgebrochen war, von dem jedoch nichts bis in den Tobel hereindrang. Als nach einer weiteren halben Wegstunde das Tobel zu Ende ging und der Wiesengrund von Krummenbach sich auftat, blieb ich lang unter den letzten Bäumen stehen und schaute mir, aus dem Dunkel heraus, das wunderbare weißgraue Schneien an, von dessen Lautlosigkeit die wenige fahle Farbe in den nassen, verlassenen Feldern vollends ausgelöscht wurde. Unweit des Waldrands steht die Krummenbacher Kapelle, die so klein ist, daß mehr als ein Dutzend auf einmal darin gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Ich setzte mich eine Zeitlang hinein in dieses gemauerte Gehäuse. Draußen vor dem winzigen Fenster trieben die Schneeflocken vorbei, und bald kam es mir vor, als befände ich mich in einem Kahn auf der Fahrt und überquerte ein großes Wasser. Der feuchte Kalkgeruch verwandelte sich in Seeluft; ich spürte den Zug des Fahrtwinds an der Stirn und das Schwanken des Bodens unter meinen Füßen und überließ mich der Vorstellung einer Schiffsreise aus dem überschwemmten Gebirge hinaus.

1   Friedhof, Bruneck, Pustertal, Südtirol
2   Friedhof, Bruneck, Pustertal, Südtirol
3   Bruneck, Pustertal, Südtirol
4   Bruneck, Pustertal, Südtirol
5   Brenner Paß, Südtirol
6   Außerfern, Tirol
7   Busbahnhof, Innsbruck, Tirol
8   Busstop Fernstein See, Tirol
9   Busstop Zollamt Oberjochpaß, Tirol – Bayern
13   Nassereith, Tirol
14   Nassereith, Tirol
15   Grän, Tirol
16   Grenzstein Land Tirol – Bayern
17   Tannheimer Tal, Tirol
18   Außerfern, Tirol
19   bei Nesselwängle, Außerfern, Tirol
20   bei Nesselwängle, Außerfern, Tirol
21   Kapelle in Krummenbach, Bayern
22   Kapelle in Krummenbach, Bayern
23   Haus am Alpsteig, vis-à-vis Kapelle in Krummenbach, Bayern

Text: © Eichborn AG, Frankfurt am Main, 1990

 

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