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„Keine Angst, hier bewegt sich nichts!“

Das Haus auf dem Hügel auf dem Tunnel auf der Autobahn nahe Klausen, oder: freiwillig wohnen bei 130 km/h. Von Hans Danner

Vor rund zwanzig Jahren – so stelle ich mir das vor – kommt ein Reporter einer englischen Tageszeitung nach Südtirol. Vielleicht macht er Urlaub hier, vielleicht ist er Bergsteiger aus Leidenschaft und will sich kletternd an den schroffen Dolomitengipfeln versuchen. Jedenfalls fährt er über die noch fast neue Autobahn und sieht ein Haus. Auf den ersten Blick handelt es sich um kein besonderes Haus: zwei Balkone mit Geranienbewuchs, von Obstbäumen flankiert, nicht besonders groß, aber stattlich. Der Dachboden außen mit bloßen Holzbrettern verschlagen, ein luftiger Durchzugsort zum Trocknen der Walnüsse. Solche Häuser findet man überall in Südtirol. Und doch ist das Besondere an dem Haus gerade seine Lage. Das Haus steht nämlich auf einem recht steilen, aber nicht sehr hohen Hügel. Und genau durch diesen Hügel führt die Autobahn. Der Reporter ist überwältigt von diesem Ensemble: der blaue Himmel, das Haus, der grüne Hügel, die Tunnelröhren der Autobahn. Er wittert eine Story und fotografiert das Haus. Und wirklich, kurze Zeit später erscheint das Foto, schwarzweiß, in der Herold Tribune.

Dieses Foto gibt es wirklich. Auch wenn ich es nie zu Gesicht bekommen habe.

Der Reporter, dessen Namen ich nicht kenne, ist wahrscheinlich genau da gestanden, wo ich jetzt stehe. Isarco Est. Eine Raststätte an der Autobahn Bozen-Brenner wenige Kilometer vor der Ausfahrt nach Klausen. Der Cappuccino ist lausig hier, aber stark. Wenige Zapfsäulen, eine Cafeteria, ein Kiosk. Motore, amore.

Ich stehe da und probiere den Blick des unbekannten Reporters. Der Autobahntunnel heißt „Kofler“ und sinnigerweise zeigt der Pfeil mit der Längenangabe geradewegs nach oben auf das Haus. „Kofler“, wie denn auch sonst werden die Menschen heißen, die dort leben auf einem Kofel, unter dem zufälligerweise täglich Tausende Touristen und Lastkraftwagenfahrer durchrauschen.

Dieses Bild vom Koflerhaus, wie ich es in meinen Gedanken schon wie von selbst nenne, lässt mich nicht mehr los. Fasziniert stehe ich da und will sie plötzlich kennen die Geschichte, die Story hinter dem Haus über dem Tunnel.

Der Mann im ölverschmierten Arbeitsanzug ist offensichtlich der Besitzer der gelb-schwarz-roten Tankstelle am Ortsausgang von Klausen direkt an der SS 12 nach Bozen. Sein Haar ist schon ein wenig schütter, seine Frau als helfende Hand im Hintergrund. Er mustert mich misstrauisch von oben bis unten. „Warum wollen Sie dorthin?“ Er hält immer noch das neu gemachte Foto vom Koflerhaus in den Händen und starrt angestrengt darauf, so als wolle er den Hochglanzausdruck durchschauen, ihm sein Geheimnis entlocken. „Des isch beim Köfele!“ meldet sich seine Frau im Vorbeihuschen zu Wort. „Sind Sie ein Student?“ Ich erkläre meine Neugier. Etwas belustigt, aber durchaus freundlich weist er mir den Weg zum Haus über der Autobahn. Dass ich die Zufahrt zum Haus trotz seiner genauen Beschreibung nicht auf Anhieb finde, noch einmal umkehren muss und es schließlich über einen schmalen, wild romantischen (dieser Ausdruck drängt sich auf) Weg erreiche, kann er nicht wissen, als ich ihm beim Einsteigen ins Auto ein letztes „Dankeschön!“ zurufe.

„Nein, das ist nicht unser Haus! Die Farbe da stimmt nicht.“ Die weißhaarige Frau, die mir das sagt, nachdem ich am laut bellenden Hofhund vorbeigeschlichen bin, immer bereit, im Notfall alles fallen zu lassen und die Flucht ins rettende Auto zu ergreifen, hat etwas an sich, was nicht in diese Gegend passt. Sie sieht viel eher aus wie eine dieser zumeist adeligen Unternehmersfrauen aus amerikanischen Fernsehserien, die nie Zeit haben, wenn fremde junge Männer etwas wissen wollen, sondern schnell in ihre Vans steigen und – nur mehr eine Staubwolke hinterlassend – auf ihren Gutswegen davonbrausen. Falcon Crest! Ja genau, das ist’s, daher kommt’s.

„Wirklich nicht? Sehen Sie sich das Bild doch noch einmal an!“ Sie zieht eine Lesebrille aus ihrer schwarzen Weste hervor, ihre schlanken Hände zittern dabei kein bisschen. Durch das geschliffene Glas sieht die Welt anders aus. Sie erkennt das eigene Haus auf dem Foto („Ah, das ist nur ein Schatten!“) und verweist mich an ihre Schwiegertochter, sie selbst habe es eilig. Und dabei hat sie plötzlich – ich stutze – einen Schlüsselbund in der Hand und verschwindet in Richtung Großraumgarage mit vier Autos, ein Van ist auch darunter.

So elegant und stilvoll die Schwiegermutter, so offenherzig und pragmatisch Verena Griesser. „Kommen Sie doch nach oben!“ Die steile Fliesentreppe sticht von rechts unten nach links oben ins Haus. „Wollen Sie einen Himbeersaft?“ Die Küche ist frisch umgebaut und karg. Alles sieht so aus, als wäre es leicht zu reinigen, abwischbar. Muss vielleicht sein. Die dreijährige Carmen bekommt auch einen Saft in ihrer Eisbärenkindergartentrinkflasche. Die jüngere Denise sieht mit großen Augen zu, die kleinste Tochter liegt mucksmäuschenstill in der Wiege vor mir.

Vom Balkon aus habe ich endlich den Gegenblick nach unten, das Gegenbild. Ich sehe mich dort unten stehen an der Raststätte Isarco Est und heraufschauen. Ein paar Sekunden lang hänge ich der Vorstellung nach, wie es wäre, an einem unsichtbaren Seil hinunterzugleiten. „Steil ist’s hier, nicht? Aber keine Angst: alles Lehmboden. Als es letzten Sommer so viel geregnet hat, hat sich hier nichts bewegt.“ Die Autobahn bewegt sich unter mir, in mich hinein, aus mir heraus. Als sich die doppeltverglaste Balkontüre hinter mir schließt, wird es dumpf. „Man gewöhnt sich daran. Laut ist es auch an einem Wildbach.“

Seit vier Jahren wohnt Verena mit ihrem Mann Christoph hier im Koflerhaus. Ursprünglich stammt sie aus dem wenige Kilometer entfernten Kastelruth. Auch von einem Hof. Ein Stickbild an der schmucklosen Wand hält den Hochzeitstermin fest. Gegenüber der Abreißkalender mit den Tagesweisheiten: „Das Schaufenster ist das Schlüsselloch in das Schlafzimmer der Begierde.“ Der Brotbackautomat auf der Anrichte schweigt dazu.

„Då is da Tate!“ Auf den Fotos im Album ist immer wieder Christoph Griesser zu sehen. „Då is a da Tate!“ Carmen und Denise überbieten sich im Kommentar. Familienbilder aus den 70er Jahren: braune Latzhosen vor braunvergilbtem Hintergrund, die erste E-Gitarre. Weihnachten. Sommerszenen. Ein Kleinkind kugelt in einer Strickjacke über die Blumenwiese. „Då is scho wieder da Tate!“ Schließlich Fotos von einer großen Baustelle. Damals hat Verena aber noch nicht hier gewohnt.

Inzwischen hat Denise Carmens Trinkflasche an sich gerissen. Nicht für lange. Carmen brüllt, jetzt brüllt Denise. Das Kleinkind in der Wiege macht keinen Mucks. Die Alternativnuckelflasche zeigt nicht die erhoffte Wirkung. Denise will auch den Eisbären. Wer will es ihr verdenken.

Doch da kommt schon der Schwiegervater, der hat es zwar immer „gneatig“, aber vielleicht will er trotzdem etwas erzählen. Er schnauft den von hier aus besehen gar nicht so sanften Hügel herauf in seiner blauen Südtiroler Schürze. Nachdem er seinen Hut abgenommen, die Stiefel ausgezogen hat, gehen wir in seine Küche im Erdgeschoß.

Weitläufiges Braun, die Baustellenfotos im ersten Stock fallen mir wieder ein, und richtig: 1978 wurde das Haus abgerissen und wieder aufgebaut. Das Renovieren hätte sich nicht mehr rentiert, nachdem das Haus schon 1936 abgebrannt und nur notdürftig zusammengeflickt worden war.

Toni Griesser ist ein Macher. Drahtig, energisch und dabei doch irgendwie zierlich, Profil und Frisur erinnern stark an Luis Trenker. Wenn er lacht, wendet er sich vorher kurz ab, so als würde er sich schämen, und wenn dann nach ein paar Zehntelsekunden sein Gesicht wieder auftaucht, strahlt es über und über. Ein Liebling der Frauen, schießt es mir durch den Kopf.

Jetzt gerade kommt er von der Arbeit an den Himbeersträuchern. Seiner hauptsächlichen Tätigkeit. Toni Griesser ist nämlich Himbeerbauer. Bei Robert Lemkes Beruferateshow hätte das wohl einige Fünfmarkstücke in das Porzellanschwein gebracht. 500 bis 600 Meter Stauden jedes Jahr, drei Kilo Himbeeren pro Meter, Verkauf in Italien und Österreich. Ob ich einen Saft möchte?

Vor dem Fernseher mit Satellitenanschluss, wo ein spartanisch anmutender Schaukelstuhl steht, sind die kleinen braunen Quadrate des Linoleumfußbodens etwas abgewetzt. Ein vertrockneter Ölzweig am Kruzifix über dem Tisch, darunter die Dolomiten im Abonnement. Vier Wohnungen hat er gebaut, zwei Geschäfte. Von einer Trachtenhandlung in Kastelruth zeigt er mir den Hochglanzprospekt. Seit 1962 alleinige Hofbewirtschaftung, seit 1966 Besitz, in den 60er Jahren Obst- und Gemüsehandel auch jenseits der Grenzen, 1993 Umkultivierung auf Beerenobst. Sieben Kinder, sechs davon Söhne. Heute 70 Jahre alt. – Was sich wie eine Leistungschau anhört, klingt in den Worten des Toni Griesser durchaus charmant. „Wenn mein Vater den Hof heute sehen würde, würde er ihn nicht mehr kennen, soviel hat sich verändert.“ Zum Guten oder zum Schlechten? „Zum Guten, zum Guten!“

Und selbst der Autobahnbau, so sehr man ihn vielleicht heute verwünscht, hatte sein Gutes: Das schönste Feld des Koflerbauern war immerhin 50 Millionen Lire wert. Die wurden in neue Geschäfte investiert. Der Zukauf von Feldern in der Nähe von Mauls. Der Ausbau des Trachtenladens in Kastelruth. Nie habe er Geld von der Bank leihen müssen, erklärt Toni nicht ohne Stolz.  

Mit hundert Schuss Dynamit hat man damals zu Beginn der 70er Jahre den Koflertunnel in den Berg gesprengt. Hundert Mal wurde die ganze Gegend erschüttert, meistens in den frühen Morgenstunden zwischen drei und vier Uhr. „Es war schon wie ein Erdbeben, die Fensterscheiben haben gezittert. Aber wenn man es davor weiß, ist’s nicht so schlimm.“ Wenn man es nur davor wissen könnte. Heute gehört die Autobahn dazu. Wie der Bach, der Zug und die Bundesstraße. Die vier Verkehrswege füllen den ganzen schmalen Talboden aus. Freilich, richtige Nachbarn gibt es seit dem Autobahnbau nicht mehr hier in der Gegend. Ein Hof stand da, wo heute gezapft wird. „Die sind weggezogen. Haben sich woanders ein neues Haus gebaut.“ Wohin, weiß man nicht genau. Die anderen beiden Häuser, die man vom Küchenfenster aus sieht, haben ihre Besitzer gewechselt. „In einem wohnen überhaupt so Kroaten oder Jugoslawen.“ Die letzten Wörter spricht Toni fast tonlos, durch die Zähne. Er schaut stumm auf seine Hände, die ruhig auf der letzten Ausgabe der Dolomiten liegen.

Auch in der Arbeit hat sich einiges getan, seit den 60er Jahren. Früher, als Toni noch Obst- und Gemüsehändler war und nicht nur eigene Produkte vertrieb, verbrachte er die ruhigen Wintertage mit der Herstellung der „Steigen“ für das Grünzeug. Drei Nagelmaschinen und eine Bandsäge standen im Keller. Die Bandsäge gibt es noch, die Nagelmaschinen wurden in den letzten Jahren verkauft.

Aber auch heute gibt es immer etwas zu tun rund ums Haus. Wie einer, der untätig dasitzen kann, wirkt mein Gegenüber ganz und gar nicht. „Und wenn jemand jammert, dass er so viel arbeiten muss, das versteh ich nicht.“ Er selbst habe sein Leben lang gearbeitet und es habe ihm nicht geschadet. „Nur wenn Kinder arbeiten müssen, wird was aus ihnen.“ Der älteste Sohn bewirtschaftet mit einem seiner Brüder die Felder in Mauls. Erdbeeren werden dort angebaut. Im großen Stil. Zwei Fernlaster haben sie schon. Nicht nur für die Beeren, sie handeln auch mit zugekauften Waren, die sie international vertreiben. Wie Toni Griesser dereinst selbst.

Christoph Griesser, der „Tate“ vom ersten Stock, unterstützt den Vater auf der heimatlichen Plantage. Wenn er nicht auf den Himbeerfeldern mithilft, fährt er über Land. „Happy Mode – Mode für Damen, Herren und Kinder“ steht auf seinen laminierten Visitenkarten. Darunter ist ein weißer Kleinbus aufgemalt, der so schnell von rechts nach links fährt, dass er nur noch farbige Streifen hinterlässt. Ein Sohn führt die Geschäfte in Kastelruth, einer ist Wirtschaftsberater, einer Mechaniker. Die Tochter ist verheiratet. Es ist aus allen etwas geworden.

Toni Griesser schaut aus dem Fenster. Dann wieder auf seine Hände. Ob er manchmal von hier weg wolle? „Nein, niemals!“ Die Antwort kommt, ohne zu überlegen, wie ein Reflex. Zweimal in siebzig Jahren ist er auf Urlaub gewesen. Einmal eine Woche lang mit seinem Bruder in Hamburg. Der ist Pfarrer in der Nähe von Meran und begeisterter Bergsteiger und Fotograf. Mit Diavorträgen in Deutschland und Österreich hat er das Geld für einen neuen Glockenstuhl erwirtschaftet. „Die Leute geben gern etwas mehr, wenn sie wissen, es ist für einen guten Zweck.“ Und einmal eine Woche lang in Sizilien. Mit dem Bauernbund. Aber nirgends sei es so schön wie in Südtirol. Toni Griessers Frau ist da mobiler: „Die fährt immer wieder einmal irgendwohin.“ Im Augenblick sei sie beim Arzt, werde aber bald wieder heimkommen.

Ach ja, das hätte er fast vergessen: Einmal ist er in Jugoslawien gewesen, wie das damals noch hieß. Mit dem 1. Südtiroler Harmonikaverein, wo er elf Jahre lang im Ausschuss gesessen ist. „Die håben gute Ziachorgelspieler dort!“ konstatiert er anerkennend, und ich habe sofort Slavko Avseniks Oberkrainermusik im Ohr. Ob er denn heute auch noch spiele, frage ich ihn. Und jetzt plötzlich passiert etwas mit dem Griesser Toni, der seinen Blick in den letzten Minuten immer nachdenklicher zwischen Tisch, Küchenfenster und Schürze hat schweifen lassen: Er wächst empor, ein Strahlen füllt ihn von innen ganz aus, und in einem breiten Lächeln zeigt er seine blendend weißen Zähne. Im darauf folgenden Moment nimmt er sich in jahrelang eingeübter Bescheidenheit wieder etwas zurück. „Ja, schon, ab und zu. Heute Abend zum Beispiel in Barbian drüben. Bei so einer Jausenstation.“ Seit zwanzig Jahren, erzählt er mir immer noch lächelnd, spielt er in einem Trio mit wechselnder Besetzung. Zu seiner steirischen Ziehharmonika kommt wahlweise eine Gitarre mit Posaune oder Geige.

Meistens spielen sie in Jausenstationen für Bustouristen aus der ganzen Welt oder zu Silvester in Gröden. Früher habe er auch Es-Trompete gespielt. „Die gibt’s heute gar nicht mehr.“ Als ich ihn frage, ob er denn auch gut spiele, bricht er zum ersten Mal in ein lautes Lachen aus. „Spiel ma oan?“ fragt er mit schelmischem Ausdruck, bei dem nicht ganz klar wird, wie ernst die Frage gemeint ist. Ohnehin zu überrascht, um zu antworten, sehe ich ihn bloß an. Toni Griesser nimmt mir die Entscheidung ab. „Kemmen S’! Spiel ma oan!“ verkündet er mit Begeisterung, schon im Aufstehen. Ich folge dem beschwingen 70-jährigen in die Stube, wo er mir eine Gitarre in die Hand drückt. „Stimmen muss man sie noch!“ Er schnallt sich seine Steirische um und stützt den linken Fuß auf die Ofenbank, auf der auch ich sitze. Die blank polierte Strasser-Harmonika wirft das einfallende Sonnenlicht in einem wilden Tanz an die Stubendecke. Und dann spielen wir einen. Und dann noch einen. Und dann gehen wir beide befriedigt zurück an den Küchentisch.

Und hier erzählt Toni Griesser nun befreit auf. Fünf Ziehorgeln habe er im Haus, zwei seien seine eigenen, drei habe er für seine Söhne gekauft. Die seien alle durchwegs musikalisch. Das komme nicht nur aus seiner Familie, der Vater seiner Frau sei auch Musiker gewesen. (Die Frau, wo bleibt sie eigentlich?) Der jüngste Sohn sei der talentierteste, ihm mangle es nur am Willen. „Schon mit zehn Jahren hat der den Deutschmeistermarsch gespielt. Der ist nicht leicht. Kennen S’ den?“ Und wir reden weiter über Volksmusik, Geselligkeit und die Kastelruther Spatzen („Die Weiberleit fliagn sie hålt ån!“). Schließlich schaut der emsige Himbeerbauer auf die Uhr. Ich verstehe den Wink. Er hat ja Recht: Es ist Zeit, wieder etwas Nützliches zu tun.

Toni Griesser begleitet mich noch zum Auto. Mit einem festen Händedruck verabschiedet er sich herzlich. Ich könne jederzeit wieder vorbei kommen, wenn ich in der Gegend sei. „Und das nächste Mal, bringen S’ noch jemanden mit, dann spieln wir im Trio!“ Die Vorstellung reizt mich, und ich muss lächeln. Während ich ins Auto steige, schaue ich mich noch einmal um. Ich bemerke, dass Tonis Frau inzwischen heimgekehrt ist, die vier Garagenplätze sind wieder besetzt. Vielleicht sitzt sie mit ihrer Schwiegertochter am Küchentisch bei einem Glas Himbeersaft und schaut auf das jüngste Enkelkind.

Inzwischen ist die Sonne hinter den westlichen Bergkuppen verschwunden, der Abend wird langsam kühl, auch hier, südlich des Brenners. Der Autoinnenraum hat noch etwas Tageswärme gespeichert. Ich will noch nicht nach Hause.

Der Weg nach Kastelruth führt steil bergauf. Überall ausgebaute Bauernhöfe mit Zimmervermietung. Oben, am Hochplateau, verweile ich kurz neben der Straße. Reger Pendelverkehr zwischen Grödental und Seiser Alm, das Gegenstück zur A22 im Tal. Die letzten Sonnenstrahlen enthüllen ein eindrucksvolles Panorama, die Natur trägt alles auf ihrem breiten Buckel. Neben der Straße grast eine Schar bunter Hühner.

Spätnachts auf der Fahrt nach Innsbruck. Kaum Verkehr auf der Autobahn Bolzano-Brennero, wenige verirrte LKWs, das monotone Rauschen der Straße unter mir. Ich komme gerade aus Bozen, wohin ich abends von Kastelruth aus aufgebrochen war. Im Theater hat man mir dort die Geschichte vom alten König Lear wieder erzählt. Von dem, der alles an seine Kinder weggab, und dem am Ende nichts mehr blieb. Und während ich heute schon ein zweites Mal wie von selbst an der Raststätte Isarco von der Autobahn abfahre, denke ich an Toni Griesser in seinem grünen Hemd und seiner blauen Obstbauernschürze. Der Koflerhof ist in dieser nachtschwarzen Stunde von hier aus nur zu erahnen. Ein kleiner heller Schimmer, die Reflexion der Tankstellenbeleuchtung. Kopfschüttelnd steige ich wieder ins Auto, nebenan streiten sich zwei Angetrunkene und fluchen, einer stößt mit seinem Fuß gegen eine Mülltonne, dass es kracht.

Und dann fahre ich die 158 Meter durch den Autobahntunnel Kofler. Oben schlafen sie wahrscheinlich. Toni Griesser und seine Frau. Verena Griesser mit ihrem Mann und den drei kleinen Mädchen. Je weiter ich mich von ihrem Haus entferne, desto unwirklicher werden für mich die Gespräche vom Nachmittag. Das Fenster in ein anderes Leben schließt sich wieder langsam. Doch als ich den Brenner überquere, höre ich es noch einmal ganz leise im Ohr: „Und das nächste Mal, bringen S’ noch jemanden mit, dann spieln wir im Trio!“ Der Narr? Der König!

 

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