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Ostinato

Die Taube im 5/4-Takt oder: Wie unser Alltag musikalisch wird. Von Albert Hosp

Prolog
Unter Ostinato versteht man eine kleine musikalische Formel, die beständig wiederholt wird. Es kommt freilich auf den Grad der „Hartnäckigkeit“ an, dass man sie als „ostinato“ empfindet.

In der Musik liegt das Ostinato sehr oft in der Bassstimme. Die Alte Musik-Szene zeigt in den letzten Jahren eine bedeutende Neigung zu solchen „bassi ostinati“, über denen dann stets eifrig und manchmal wirklich gekonnt improvisiert wird. Manchmal formen sich Akkorde zum – harmonischen – Ostinato. Das ist in der Klassik manchmal, im Jazz viel häufiger und in der Popmusik schon quälend oft anzutreffen. Jeder, der versucht hat, Wolfgang Ambros’ „Schifoan“ auf der Gitarre zu begleiten, wird entdeckt haben, dass er mit denselben Akkorden auch „Where have all the flowers gone“ und überhaupt die Hälfte aller Folksongs spielen kann … Mag es auch schon ein halbes Jahrhundert her sein, dass John Cage meinte: „Everything we do is music“ – die klingende Welt wird nach wie vor in Musik und Geräusche eingeteilt. Aber allen Anhängern dieser Gewaltentrennung sei jetzt trotzdem nicht erspart, dass es in ihrem Alltag musikalische Ostinati gibt, ja dass der Alltag von ihnen strukturiert oder gar geprägt wird. Ihre Beharrlichkeit und dass man sie als musikalisch empfinden kann, das entsteht zwar nur selten aus der ununterbrochenen Folge, denn zwischen einer Formel und ihrer Wiederholung liegt oft ein ganzer Tag. Doch wenn wir die Zeit einmal etwas aus der Vogelperspektive betrachten, entdecken wir: Unser Leben läuft innerhalb einer Fülle von sich wiederholenden Mustern ab. Hier einige Beispiele, anhand eines Tagesablaufs, wie ihn der Autor dieser Zeilen erfährt:

6h30
Angenommen, es ist 6h30. Dann beginnt mein Tag mit dem Gang zur Bäckerin am Eck. „Ein Butterkipferl, ein Mohn mit Salz.“ Mohnweckerl oder -flesserl oder -striezerl sage ich schon lange nicht mehr, erstens weiß die Bäckerin, was ich will, zweitens würden die unterschiedlichen möglichen Worte das Ostinato stören. Als kenne sie meinen Wunsch noch nicht, sieht sie mir, während ich ihn äußere, wissensdurstig in die Augen und greift dann erst in die betreffenden Körbe. Es kostet immer das gleiche. Sie sagt mir den Preis trotzdem. Und dann kommt ihr Morgenlied: Es dauert etwa 3 Sekunden und geht so: „Auf Wiederseh’n, danke!“ Das „Auf“ etwa in der Mittellage, die drei Silben von „Wiederseh’n“ nutzt sie zu einem virtuosen Sprung in die Tiefe, um mittels des abschließenden „Dan-ke“ wieder in die Ausgangsposition zurückzukehren. Ganz, ganz selten fügt sie an das im Staccato vorgetragene „-ke“ auch noch ein etwas länger gezogenes „-schön!“ hinzu; ob sie sich das wirklich immer nur am Samstag gestattet, ist eine der vielen Vermutungen, die ich noch nicht verifizieren konnte. So verlasse ich ihr Geschäft, mit einem Butterkipferl, so elegant geschwungen wie das „Wiederseh’n“, und einem Mohn mit Salz, so knusprig wie das „Danke“.

Bei Redaktionsschluss hing an der Geschäftstür ein Schild: „Wegen Krankheit bis ... geschlossen“, und das „bis ...“ hat sich beständig verlängert. Vielleicht ist hier ein Ostinato zum Stillstand gekommen …

9h00
Jeden Tag weiß ich, dass es 9h00 ist, weil vor dem Supermarkt am Eck (ein anderes Eck als das der Bäckerin, versteht sich) der kleine Hund bellt. Er ist nicht nur klein, sondern dazu noch weißhaarig und dick. Sein Herrl ist alles das auch. Und es (das Herrl, im Gegensatz zu „er“, der Hund), schert es sich drum? Unlängst versuchte ich, mittels energischen Auftretens im Supermarkt, die Sache zum Finale und Schlussakkord zu bringen, jedoch scheiterte die Verhandlung im Ansatz. Ich: „Der Hund bellt seit einer Viertelstunde.“ – Es: „Stimmt gar nicht, seit zwei Minuten!“ – Ich: „Aber jeden Tag“ – Es: (schweigt) – Ich: „Machen Sie Ihren Hund still!“ – Es: (nimmt das persönlich und schweigt weiter). Es bleibt dabei. Um neune wird gekläfft, vorgeblich zwar mit Zielrichtung ins Innere des Supermarktes, zur Fleisch- und Wurst-Abteilung; doch in Wahrheit gehen die beleidigten Laute natürlich direkt und bewusst an mich, ganz bestimmt. Mit etwas Distanz betrachtet besteht dieses Gebell aus melodisch zwar etwas eintönigem „kläff“, rhythmisch jedoch hochkomplexem Muster: Es erklingt fünfmal die Woche, also werktags, und macht dann zwei Tage Pause. Nur: Die Distanz hab ich nicht. Mir bellt der Hund einen unerträglichen Cantus firmus ins Gemüt.

12h00
Ich verlasse das Haus um 12h00, und schon rasselt die Assoziationskette: „one-two-three-four-five--onetwo- three-four-five--one-two-three-four-five.“ Jack Nickolson sperrt seine Wohnung ab. Zu-auf-zu-aufzu, das ganze dreimal. Besser geht’s nicht. Die Szene, irgendwo knapp nach Beginn des Films „As good as it gets“, erklärt unfreiwillig den deutschen Titel. Besser geht’s nicht. Am Ende wird er immerhin neben Helen Hunt friedlich einhertrotten, einen Fuß im Rinnstein, einen am Gehsteig. Tief-hoch-tief-hochtief- hoch. Als ich den Film sah, erinnerte ich mich an meinen Weg zur Volksschule: Ich entdeckte, dass es am Asphalt Trennlinien aus dunklem Teer gab und dass ich von einer zur nächsten Linie fünf Schritte brauchte. So kam der Fünfertakt in mein Leben. Er ist der einfachste der „schrägen Rhythmen“, um für „unsquare rhythms“ eine hilflose Übersetzung zu verwenden. Später, vielleicht mit fünfzehn, hörte ich zum ersten Mal „take five“ und versuchte in Brubecks Tempo von Teerlinie zu Teerlinie zu eilen. Und im Fernsehen gab es das „Panoptikum“, eine Art Rundschau über Skurrilitäten aus aller Welt. Die Kennmelodie war noch viel schräger, und obwohl da jemand mitklatschte, konnte ich diesen Siebener(!)-Takt nur mühsam mithalten. Als ich dann schließlich die ganze LP „time out“ mit dem schönen Mirò am Cover erwarb, war mir daher der „Unsquare Dance“ (so heißt das „Panoptikum“-Stück) bereits vertraut …

12h35
Um 12h35 überfahre ich mit dem Rad mehrmals eine der fetten trägen Tauben. Beinahe. Leider? Dafür kommt mir ein bezauberndes kleines Stück von Johann Strauß in den Sinn. Es heißt „Die Tauben von San Marco“, Strauß’ opus 414, und angesichts dieser Zahl frage ich mich, ob die Alltags-Ostinati des Walzerkönigs einzig aus Tanzrhythmen bestanden. Nr. 414 also, ist eine elegante Polka francaise im Zweivierteltakt. Hier freilich irrte Strauß. Die Tauben, egal ob auf dem Markusplatz oder auf der Ringstraße, gurren im Fünfertakt: „u / uu uu u / uu uu u / uu uu“, ist gleich „fünf-einzwei-dreivier-fünf-einzweidreivier …“, kurz-laang-laang-kurz-laang-laang-…

Wien ist nicht London und unsere Rasen nicht englisch. Damit sie also grün bleiben, müssen sie regelmäßig besprengt werden. Schrebergarten, Stadtpark, Fußballplatz: Überall hocken die kleinen Wasserhähne und krähen nicht, sondern zischen und spucken und drehen sich dabei um sich selbst. Immer im Kreis wandert der Wasserstrahl. Einmal pro Umdrehung wird er von einem geheimnisvollen Mechanismus kurz angehalten, der Hahn verschluckt sich kurz und spuckt kürzer, damit auch die nähere Umgebung nass wird: „pfffffft-tschk-pfffffft-tschk-pfffffft-tschk-pfffffft tschk.“ In größeren Grünanlagen sind dementsprechend mehr Hähne bei der Arbeit, und setzt man sich an einem akustisch günstigen Punkt auf eine Bank, entsteht ein polyrhythmisches Geflecht höchster Präzision. Der Komponist György Ligeti hätte daran sicher seine Freude. Ligeti beruft sich immer wieder auf die Feldforschungen von Gerhard Kubik, der in Uganda mehrere Musiker beim Xylophonspiel aufnahm. Dabei spielten alle auf demselben Instrument, standen nebeneinander und einander gegenüber, und jeder musizierte sein Ostinato, scheinbar ohne Rücksicht auf den anderen. Wenigstens uns Mitteleuropäern erscheint es nur dann möglich, dermaßen exakt „gegen“ den Rhythmus eines anderen zu spielen, wenn man nur auf den eigenen hört. Die Wasserhähne im Park sind taub und seelenlos; ihre Perfektion wird bald langweilig.

Ich fahre am Ring entlang, es ist Mittag und daher wenig Verkehr, und daher gebärden sich die wenigen Autofahrer, als wären sie auf der Autobahn. Miles Davis fällt mir ein, wie er zu den Bildern von Louis Malle „sur l’autoroute“ improvisiert. („Ascenseur pour L’echauffeaut“, 1957) Der Jazz ist vielleicht die wichtigste und ganz sicher die typischste Musik des 20. Jahrhunderts, weil er in sich einen Widerspruch trägt, der für das Leben steht: motorische Gleichfömigkeit und größtmögliche Freiheit. Über (oder trotz?) einer beständigen rhythmischen Begleitung äußert ein Mensch (mittels Saxophon, Trompete, Stimme etc.) eigene, freie, spontane Gedanken. Wobei hier jeder Schlagzeuger Einspruch erheben würde.Rhythmisch gleichförmig ist sein Spiel sicher nicht, er gestaltet die Begleitung, lebt also den Widerspruch noch intensiver. Freilich, es gibt auch die bemüht swingenden, die „puritanisch-amerikanisch“ (© N. Harnoncourt!) swingenden Jazzer. Ihnen und allen sei zugerufen: „Jazz braucht groove!“ Hier, wieder einmal, eine Kurzbeschreibung: „groove“ heißt „Furche, Rinne, Rille“. Wer „in the groove“ ist, befindet sich im richtigen Fahrwasser, in bester Form. Wer die „groove“ erst zu graben sucht, während er spielt, ist zu spät dran. Die „groove“ muss vorhanden sein, als gemeinsames Bewusstsein. Dann erst kann die Musik „fahren“, wie in Musikerkreisen oft zu hören ist. Und damit sie fährt, muss das Tempo sicher sein; es muss „stehen.“ Ein schönes Paradoxon, fast so schön wie das mit der Motorik, die unser Leben bestimmt und gegen die wir unsere eigenen Gedanken aufzubringen suchen.

17h30
Um 17h30 bin ich im Ö1-Studio, und meine Sendung beginnt mit der Kennmelodie von Werner Pirchner. Pirchners Alltag wurde, scheint mir, von einer Fülle von Klängen strukturiert. Einfacher ausgedrückt: Sein Leben war voller Musik … Als gewesener Jazzmusiker war er an einen Tagesablauf gewohnt, der eher spät begann und spät endete. Das blieb auch so, als er das Vibraphon endgültig in das oberste Zimmer seines Kompositionsturmes zur Ruhe stellte und nur mehr komponierte. Man erreichte ihn durchschnittlich frühestens ab elf Uhr vormittags und mindestens bis zwei Uhr nachts. (Inwieweit verändert sich meine Erinnerung an ihn durch die schönfärbende Trauer?) Der scheinbar ad acta gelegte Jazz bliebt freilich in seiner Musik erhalten; es war ihm ein großes Anliegen, auch klassischen Musikern die selbstverständliche rhythmische Souveränität beizubringen, die im Jazz eine Grundbedingung ist.

Vor Pirchners Haustür in Thaur hängen zwei Röhrenglocken; eine ist im Ton a gestimmt, die andere in d. Bevor man das Haus betritt, schlägt man „d – a“, geht man wieder, dann umgekehrt … So begann und endete ein Besuch bei Pirchner mit einem feinen, zweitönigen, variierten Ostinato. Pirchner war auch ein genialer Wortakrobat. Kaum ein Werktitel ohne Doppelsinn, jede Tempoangabe oder Spielanweisung eine mögliche Lebenshilfe. Im Takt fünf des ersten Satzes „Ungezähmt“ aus dem Klaviertrio „Wem gehört der Mensch …?“, schreibt er über die Noten: „Spüren statt zählen“ …

18h30
Um 18h30 fahre ich nach Hause. Beim Halt neben einer Straßenbahn höre ich aus der sich öffnenden Türe Ing. Kaida, einen Bediensteten der Wiener Verkehrsbetriebe. Franz Kaidas Stimme erzählt mir seit Jahr und Tag, welche Station die nächste sein wird. Wenn es kalt wird, und das Rad eingekellert ist, wird er mir zum verlässlichen Begleiter aller Wege. Berühmte Haltestellen wie „Stephansplatz“ oder „Schönbrunn“, ausgefallene wie „An den langen Lüssen“ oder „Zentralfriedhof, drittes Tor“ – vor seinem Tonfall sind alle gleich. Egal, ob ich den letzten Zug erwischt habe, allein einen Viererplatz belege oder zwischen zwei Beißkorb-losen Rottweilern eingeklemmt stehe – Kaida lässt seine Stimme keinen Deut mehr ausschwingen, er reiht Umsteigemöglichkeiten gleichwie Hinweise auf ältere Fahrgäste in der immer gleichen Abgeklärtheit aneinander.

Während meiner Aufenthalte in Innsbruck bin ich dann immer wieder von dem kernigen Bariton überrascht, der mir hier das Orts-Ostinato verkündet … Übrigens: Wenn sich die Waldbahn von Wilten nach Lans und Igls hinaufschlängelt, wechselt sie die Klangumgebung: Das Grundgeräusch vom Südring weicht dem Grundrauschen des Waldes. Stationen dieser Klangentwicklung sind zwei Friedhöfe: Wilten und Tummelplatz, gleichsam schweigende Orte als Begleiter. Die zahmen Eichhörnchen beim Teich gleich neben dem Lanser See schauen beim Aufsammeln der von zahllosen Spaziergängern hingeworfenen Nüsse kaum auf, wenn die Bahn ein paar hundert Meter entfernt vorüberrattert, die Schwellen als „groovende“ Grundlage.
Der Klang einer Stadt besteht aus organisierten, „absichtlichen“ Geräuschen. Durch ihre Überlagerung, Überlappung und Vermischung entsteht ein sich ständig wandelndes, waberndes akustisches Gebilde. Jeder hat seine eigene Instrumentation, die Stadt erklingt in so vielen Symphonien, wie sie Einwohner hat.

Ich stelle mein Rad in den Hof, gehe in den zweiten Stock, schließe meine Tür auf (one-two-three-four-five) und öffne das Fenster. Der Supermarkt liegt friedlich da, wird nur umrauscht vom ewig aktiven Kühlapparat seiner Frischwaren. In etwa sieben Stunden, so um zwei Uhr früh, wird in den Milchglasfenstern neben dem Eingang zur Bäckerei das Licht angehen. Hoffentlich. Der Bäcker wird sich dann an den Teig meines Mohn mit Salz machen. Und die Bäckerin – übt sie die verschiedenen kleinen Concerti, zu denen sie ihre Begrüßungen zu formen versteht? Alltags- Ostinati werden nicht geprobt. Sie entstehen auf der Bühne, also im Laden, im Park, auf der Straße. Auf Wiedersehen, danke.
Kläff. One-two-three-four-five. u / uu uu u / uu uu u / uu uu. pfffffft tschk. / d / a / a / d

 

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