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Wie es war

Er hatte mich schon am Telefon gewarnt: „Ich sitz’ dann in der Restauration vom Baden-Badener Bahnhof, da ist’s besonders hässlich, und deshalb sehenswert!“. Treffpunkt um 11.18 Uhr an einem Montagvormittag mit Peter Zwetkoff, dem ich noch nie begegnet war. Von Peter Herbert

Seine Stimme, die mit jedem weiteren Telefonat freundlicher wurde, hatte etwas unheimlich Lebendiges.
– „Erwarten Sie sich nicht zu viel“, sagte er mir in einem dieser Gespräche.
– „Aber Sie haben doch ein Leben lang mit Musik verbracht.“
– „Ach, die Musik, das war nie das Wichtigste in meinem Leben, das Wichtigste war die Politik.“

Das machte mich neugierig – wie auch die Tatsache, dass Zwetkoff 1954 mit seiner Berufung zum Südwestrundfunk (SWR) als Hauskomponist und musikalischer Berater der Hörspielabteilung spur- und klanglos vom Konzertbetrieb verschwand. Auf der Zugfahrt von Bregenz nach Baden-Baden nochmals die beiden CDs mit seiner Musik angehört: die gespenstischen Scheren in „Wie es war“, die tiefen Klaviercluster aus „Am Magnetberg“ oder die schwebenden Kontrabässe im unteren Register in „Je nachdem, wie der Wind weht“ – eine reiche und intelligente musikalische Sprache, der ich mich sehr verbunden fühle (exklusive Verwendung akustischer Geräuschquellen, Absenz akademischer Kompositionstechniken).

Noch einmal die biografischen Daten rekapituliert: 1925 in Bulgarien geboren, ab 1926 bei Hall in Tirol aufgewachsen, als Kommunist aktiv am Widerstand beteiligt, studierte in Innsbruck Klavier, Harmonielehre und Kontrapunkt, am Salzburger Mozarteum und bei Carl Orff Komposition, 1951–54 Klavierlehrer und Leiter des Orff-Schulwerks an der Musikschule Innsbruck; seit 1954 beim SWR. Liederzyklen, Kammermusik, Klaviermusik; Theater-, Film-, und Hörspielmusik. Zahlreiche Preise. Beeindruckendes Resümee. Ob ich mir das alles merke würde? Ich wollte gut vorbereitet zu unserem Gespräch kommen.

Dank der notorischen Verspätungen der DBB erreiche ich schließlich Baden-Baden eine Stunde nach unserem abgemachten Termin. Ich treffe Peter Zwetkoff schnitzelessend in dem wirklich abscheulichen Bahnhofsrestaurant an. Ein kleiner, untersetzter Mann, schneeweiße, fliegende Haare, kleine, unglaublich flinke Augen und ungeduldige, gepflegte Hände. Im Hintergrund heult Whitney Houston aus der Jukebox, flankiert von geschmacklosen Möbeln und an der Wand von einer noch geschmackloseren Plastik: ein Dandy, der einer lasziv gekleideten Dame Feuer gibt. Nicht gerade das Umfeld für eine ernste Begegnung. Ich bestelle auch was zum Essen, Zwetkoff bedauert mehrmals den Umstand, dass wir nicht mehr Zeit haben, um in ein anständiges Lokal zu gehen, ich muss in zwei Stunden weiter zu einem Konzert nach Frankfurt. Hier sitze ich also in dieser lauten Umgebung mit DEM Peter Zwetkoff, dessen Musik mir zu einem Begriff geworden ist, dennoch weiß ich nicht so recht, wo beginnen.

Er erleichtert mir den Einstieg in unser Gespräch: höfliches verbales Beschnuppern (von woher und wohin). Bald frage ich ihn nach seiner Zeit in Tirol. „Das ist lange her“, sagt er, „ich bin ja 1954 weg, aber ich hab’s alles noch in der Nase, das Gute und das Schlechte, das verschwindet ja nicht, hab’s alles in der Nase. Durch die Jugend und die damit verbundene Empfänglichkeit erscheinen mir die schönen Erinnerungen vielleicht wie zu lautes Licht.“

Zwetkoffs Biografie habe ich entnommen, dass er sehr früh politisch aktiv war. „Keine Kinder in die Welt setzen“ – unvermittelt und impulsiv kommen diese Worte aus seinem Mund, während er mit den Fingern imaginär klavierspielend auf die Tischplatte klopft – „wenn andere Menschen einem so was antun können, warum dann?“. Er spricht in Andeutungen: wie er von der Gestapo misshandelt worden ist, damals in Tirol. Seine Geschichte, die frühen, lebensprägenden Erlebnisse, von denen dieser Mann redet, machen mich sprachlos. „Ich habe keine Zeit für Blödeleien“, sagt er, „ich schlafe sehr wenig, nur so circa fünf Stunden pro Tag und bin immer sehr beschäftigt – mit Politik!“

„Und die Musik“, frage ich. „Ja, sehen Sie, ich war quasi ein Gebrauchsgraphiker, ich habe Texte oder Inhalte mit Musik illustriert und damit mein Geld verdient.“ Eine bemerkenswerte Selbsteinschätzung angesichts eines beeindruckend umfangreichen Werkes (darunter Musik zu ca. 250 Hörspielen und fast 60 Spielfilmen). Ich frage, ob es ihn nie interessiert hätte, eine Oper zu schreiben. Wer einen derartigen Sinn für musikalische Dramaturgie hat, ist prädestiniert für die Königsdisziplin der Komponisten.
– „Ja, eine Oper, die war schon im Entstehen, wurde dann aber doch nicht realisiert.“
– „Und woran ist das Unterfangen gescheitert?“
– „An mir, nein, eigentlich am Flippern. Sehen Sie, ich hatte eine Periode von circa zehn Jahren, wo ich sehr viel getrunken habe, und ich liebte flippern. Ich hab’ so viel geflippert, in dieser Zeit hat Balzac wahrscheinlich sein Lebenswerk geschrieben.“

Wie sympathisch, denke ich, gibt es doch auch in meinem gegenwärtigen Kollegenkreis diese exzessiven Naturen, die Großartiges schaffen und gleichzeitig diese tägliche Überdosis brauchen, als gäbe es kein Morgen. Gesundheitliche Gründe zwangen Zwetkoff, seinen Lebensstil zu ändern. Während ich einen Schluck von meinem mittelmäßigen Côtes du Rhône nehme, bedauert er einmal mehr, dass wir uns um die Mittagszeit treffen, da könne er noch nichts trinken, erst abends. „What a mensch“, denke ich (wobei der Begriff „mensch“, wie er im Jiddischen in New York verwendet wird, viel mehr bezeichnet – nämlich jemanden mit Statur, Charakter und Großzügigkeit im weitesten Sinn.)

„Ich mag keine Menschen mehr kennenlernen, ich mag diese Öffentlichkeit nicht“, fährt Zwetkoff fort. Ob das wohl der Grund für seinen plötzlichen Rückzug aus dem Konzertbetrieb war?
– „Da sitzen die Menschen im Konzert und sagen, ach, wie schön haben sie diesen Beethoven gespielt, wie zauberhaft diesen Brahms interpretiert … das interessiert mich alles nicht. Mein bester Freund Otto Grünmandl sagte: ‚Wir alle schmieren uns Senf um’s Maul und flöten: Ach wie süß ist heuer der Honig!‘“
– „Aber im Radio gibt’s doch auch ein Publikum –“
– „Ja, aber das sehe ich ja nicht.“

Wir reden über meine Vision der eigenen Stimme am
Instrument und meine Versuche als konzertierender
Musiker, das vor Publikum zu übermitteln. Zwetkoff
kennt mich und meine Musik nicht. Ein paar Tage
später wird er mich anrufen und mir zu der CD mit
Musik für Streichquartett und Kontrabass gratulieren,
die ich ihm gegeben habe. „Wunderbar, sehr
viel Kraft“, wird er sagen. Das sind Komplimente, die
zählen.

In Gedanken an den Abgabetermin für diesen Text und meine ungünstige Eigenschaft, immer bis zur letzten Minute an allem zu arbeiten, frage ich mich, ob er mit Faxgerät oder e-mail vertraut sei, da ich ihm den Text gerne noch vor Drucklegung zukommen lassen würde. „Nein, das brauche ich alles nicht“, sagt er. „Wissen Sie, jetzt im Alter hab’ ich die Arabeske entdeckt: Wenn ich von A nach B gehe, habe ich oft das Gefühl, zu schnell gegangen zu sein. Es gibt doch immer so viel zu entdecken.“ – „Eine andere Erkenntnis ist das ewige Problem der Dialektik. Man kann eine Sache von zwei entgegengesetzten Standpunkten aus vertreten. Man muss nur aufpassen, dass sich in der Erkenntnis dieser Realität keine Resignation einstellt.“ – Von wegen Resignation. Mein Gegenüber ist ein Junggebliebener, ein Interessierter, wacher Mensch mit kleinen, funkelnden Augen und ungeduldigen, klavierspielenden Händen.

So kann man alt werden, denke ich mir.

Beim Kaffee sprechen wir über die politische Farce in Österreich und in den Vereinigten Staaten, die viel globalere Auswirkungen hat, über das Klavierspielen, das er studiert hat und ich in meiner Jugend motivationslos lernen musste, ich erzähle ihm von meinen Kletterjahren, bevor ich mich entschloss, Musiker zu werden, er klagt über die Phantasielosigkeit der heutigen Zeit – und dass ihn die Müdigkeit übermanne und er jetzt gehen werde.

„Aber jetzt trinken wir noch einen Topinambur“, sagt er, „kennen sie den? Das ist der einzige Schnaps, den man auch als Diabetiker trinken kann, und den gibt’s hier!“ Er bestellt zwei davon und die Rechnung bei der freundlichen, alten Kellnerin, während eine gebrechliche alte Dame am Nebentisch Platz nimmt und mit kaum hörbarer Stimme einen Kaffee bestellt.
– „Auf Ihr Wohl!“
Er lehnt sich weit zurück, kippt den milden Schnaps in einem Zug hinunter, lässt es sich nicht nehmen, die ganze Rechnung zu begleichen (auch den Kaffee der Dame vom Nebentisch spendiert er), verabschiedet sich mit einem kräftigen Händedruck eine halbe Stunde, bevor mein Zug abfährt.

Mit einem langen Seufzer der Genugtuung hat er das Schnapsglas geräuschvoll abgestellt und gemeint: „Wann sind Sie in Wien, im Dezember? Da treffen wir uns, im Anzengruber, da kann man gut essen, abends, dann kann ich auch was trinken, und dann erzähl’ ich Ihnen mehr von meiner Geschichte.“

 

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