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Fließtext
Von Hanno Millesi

Als die hölzerne Schatulle auf dem Boden auftrifft, ertönt zu meiner Überraschung ein metallener Klang. Hätte der kleine Gegenstand, den ich ungeschickterweise fallen gelassen habe, Aua gerufen – ich wäre kaum weniger erstaunt gewesen. Nachdem ich die Schatulle aufgehoben habe, sehe ich, dass an ihrer Unterseite ein Aufziehmechanismus aus ihrem Boden ragt. Es handelt sich um eine Spieldose. Das habe ich gar nicht gewusst, aber es erklärt, weshalb die Schatulle, die ich vor vielen Jahren bei einem Garagenverkauf erworben habe – nur um sie unverzüglich in einer Lade verschwinden zu lassen –, obwohl nur spärlich gefüllt, ungewöhnlich schwer ist. Sie umzudrehen und ihre Unterseite zu begutachten, ist mir nie eingefallen. Typisch. Als ich den Aufziehmechanismus betätigen will, muss ich feststellen, dass er blockiert. Der irgendwie feierliche und doch auch niedliche, vor allem aber blecherne Klang wird vorerst der einzige Hinweis auf die Melodie, die diese Schatulle beim Öffnen einst angestimmt hat, bleiben. Ich würde zu gerne wissen, worum es sich dabei gehandelt hat. Ich kann förmlich fühlen, dass sich sämtliche Töne immer noch in ihr befinden, wenn auch nicht in ihrem für meine Finger vorgesehenen Fassungsvermögen, sondern unter einer Art doppeltem Boden. Gelegentlich kann ein Schreck dazu führen, dass verloren geglaubtes Wissen zurückkehrt, eine Erinnerung, die bereits verblasst war, neuerlich Kontur annimmt. Vielleicht war dem Holzkistchen nur noch ein einziger Ton geblieben und den hat es beim Aufschlagen auf dem Boden von sich gegeben. Wie eine Seele ist er aus ihm herausgefahren, hat mir Lebwohl gesagt. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Alles nur aufgrund meines oberflächlichen Blicks. Ich stelle die hölzerne Schatulle wieder auf das Tischchen und beschließe, mir die Unterseiten aller Gegenstände, mit denen ich sonst noch zusammenlebe, anzusehen. Als Erstes nehme ich mir die Unterseite des Bettes, auf dem ich gerade sitze, vor. Im Gegensatz zur tadellosen Oberfläche – frisch überzogen, eine Tagesdecke in einer satten Farbe darübergeworfen –, präsentiert sich die Unterseite einigermaßen verwahrlost. Die hölzernen Streben weisen Sprünge auf, die Matratze ist an mehreren Stellen eingerissen. Als würde ich einem Menschen in die Seele schauen, denke ich und meine natürlich niemand anderen als mich selbst. Auf dem Boden entdecke ich eine tote Fliege. Ansonsten ist da unten nichts als Schmutz. Dafür gibt das ein gutes Versteck ab, sage ich mir. Die Unterseite des Wasserglases auf dem Tischchen weist nicht die geringste Spur auf. Glücklicherweise ist es leer gewesen, als ich es umgedreht habe. Ich muss schmunzeln. In diesem Moment dringt ein weiterer Ton aus dem Inneren der hölzernen Schatulle – als gelte es, mein Schmunzeln zu unterstreichen. Azzurro fällt mir spontan ein. Haben Spieldosen das im Programm? Komisch ist nur, dass ich – weit davon entfernt, etwas herausgefunden zu haben – bei dem vorangegangenen, dem allerersten Ton intuitiv an Yesterday habe denken müssen. Ob ich weiterkomme, wenn ich den ersten und den zweiten Ton aneinanderfüge? Wahrscheinlich ja. Vorausgesetzt natürlich, das Kistchen hat sie in der vorgesehenen Reihenfolge von sich gegeben. Nur kann ich mich an den ersten jetzt nicht mehr genau erinnern. Es ist, als würde der zweite ihn mit seinem Erklingen verändert haben. Über dem Bett hängt ein Ölbild vom Flohmarkt, das einen schneebedeckten Berg zeigt. Aus dem Internet weiß ich, dass es sich um das Matterhorn handelt. Die Rückseite des Gemäldes offenbart nichts als die sandfarbene Struktur der unbehandelten Leinwand. In Anbetracht des Motivs auf der Vorderseite muss ich an den Blick aus einem Helikopter beim Überfliegen einer Wüste denken. Ich bewege mich zwar nicht, aber schließlich stellt in der Luft stehen zu können ja auch die Spezialität eines Helikopters dar. Wo das Bild eben noch hing, zeichnet sich ein von seiner Umgebung abgehobenes weißeres Rechteck an der weißen Wand ab. Ein nicht gegenständliches, monochromes Bild, das hier zu hinterlassen das Flohmarktgemälde im Begriff ist. Während ich das nicht sonderlich gut auf seine Vorderseite gemalte Matterhorn betrachte, bildet sich, dem fotografischen Prozess nicht unähnlich, dahinter die Tatsache des Hier-Hängens des Bildes ab. An der Unterseite der Leselampe hat das Herumstehen Spuren hinterlassen, an jener des Aschenbechers nicht. Dafür bleibt dort, wo er eben noch stand, ein regelmäßiger Kreis in der Staubschicht zurück. Da – noch ein Ton. Soll das etwa heißen, die musizierende Holzkiste erwacht wieder zum Leben? Wohne ich einem nicht mehr für möglich gehaltenen Comeback bei? Ob ich das Holzkistchen in die Hand nehmen soll, um es zu schütteln, wie es mit einem Verdächtigen, der nicht singen will, gemacht wird. Nein, ich werde nichts dergleichen tun, sondern es sich selbst überlassen und warten, bis, was momentan noch chaotisch in ihm herumschwirrt, Gestalt annimmt. Ist das nicht der Beginn von Über 7 Brücken musst du gehen? Unsinn. An der Unterseite des Nachtkästchens sind überraschend hässliche Schrauben dran. Quer über die Unterseite der herzförmigen Porzellanschale verläuft ein Sprung. Ich drehe sie mehrfach hin und her, als wolle ich es nicht wahrhaben, muss jedoch feststellen, dass das gesamte Gefäß eine Verletzung aufweist. An der Unterseite fällt sie lediglich stärker ins Auge. Wieder ein Ton aus dem Kistchen. Er klingt leicht verbogen, als hätte er getrunken. Kann es sein, dass der Mechanismus der Spieldose, da er jahrzehntelang nicht in Betrieb genommen wurde, so lange braucht, um sich zu erinnern, was ihn einst charakterisiert hat? Das Blatt Papier hat keine Unter-, sondern nur eine Rückseite, die jedoch in dem Moment zur Vorderseite wird, sobald man die zunächst vordere zur unteren, hinteren macht. Man sieht die Unterseite eigentlich nur durch die obere hindurch, wenn man diese gegens Licht hält.

 

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