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Von Gomion nach Skjolden

Vom Bergbauernhof im Südtiroler Passeiertal nach Norwegen und zur Philosophie: Alois Pichler, Leiter des Wittgenstein-Archivs und Philosophieprofessor an der Universität Bergen, steht 55 Jahre nach seiner Geburt auf dem Balkon des Wittgenstein-Hauses über dem Eidsvatnet-See in Skjolden und fragt sich: Wie ist das alles gekommen? Was hat mich hierhergeführt?

Kürzlich kaufte ich mir in Wrocław, Polen, den Briefwechsel zwischen dem Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski und seiner Ehefrau Elsie Masson aus den Jahren 1916–35. Malinowski interessiert mich schon seit Jahren, auch wegen der geistigen Verwandtschaften zwischen ihm und Wittgenstein. Ich glaube: Wittgenstein versteht man mit Malinowski besser. Ich war erstaunt zu entdecken, dass die Malinowskis auf dem Ritten ein Haus hatten; die Herausgeberin des Briefwechsels, Tochter Helena Wayne, wurde in Bozen geboren. Einige der wichtigsten Vorträge und Schriften Malinowskis entstanden in Südtirol.
Meine Frau ist Polin aus Wrocław; ich bin Südtiroler aus Gomion bei St. Leonhard im Passeiertal.
Auch Wittgenstein war in Polen, am Anfang als ein vor den Schrecken des Krieges gut beschützter Kanonier in Krakau, als Ingenieur in Werkstätten, als Scheinwerferbediener auf dem Weichsel-Patrouillenboot „Goplana“; später als Soldat direkt an der Front.
Malinowski kam in Krakau auf die Welt und studierte dort. Aber bevor Wittgenstein und Malinowski sich im August 1914 in Krakau hätten treffen können, war letzterer bereits auf dem Weg zu seinen anthropologischen Studien im Westpazifik. Man nimmt an, dass Wittgensteins Logisch-philosophische Abhandlung (1921/22) erst durch die Erfahrungen während der Brussilow-Offensive die existenzielle Neuausrichtung und den berühmten letzten Satz bekam. Die polnische Wittgenstein-Forscherin Urszula Idziak und ihre Mutter haben mich und meine Familie einmal über galizische Gefallenenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg geführt: Tausende Tiroler liegen da. Vielleicht waren einige von ihnen mit Wittgenstein bekannt gewesen. Später kam Wittgenstein an die Italien-Front, war nach einer Verletzung im Lazarett in Bozen und gelangte schließlich in italienische Kriegsgefangenschaft bei Montecassino. 1922 traf er in Innsbruck Bertrand Russell, bevor dieser nach China abreiste … Innsbruck, wo er ohne Erfolg versucht hatte, die Abhandlung in Ludwig von Fickers Brenner herauszubringen. Auch wenn Wittgensteins Abhandlung vom Krieg nicht unberührt geblieben war, so ist seine Sprachphilosophie durchgehend gesäubert von Krieg, Politik, Macht, Klasse, Diskriminierung. Wittgenstein hat versucht, einen Platz für reine, unpolitische Sprachphilosophie zu schaffen. Gut oder schlecht? Sein Freund, der italienische Ökonom Piero Sraffa, von dem Wittgenstein sagte, dass er ihm „die folgereichsten der Ideen“ der Philosophischen Untersuchungen (1953) verdanke, kritisierte ihn dafür.

Meine Geschichte scheint mir eine einfache, schnurgerade zu sein. Kindheit, Volksschule und Mittelschule in Gomion und St. Leonhard, Leben auf dem Bauernhof, in der Nicht-Schulzeit immer mit dabei auf dem Hof. Ich fühle, dass ich mehr als nur eine Zivilisation in meinem kleinen Leben habe. Die Kindheit war geprägt von den Verhältnissen eines Südtiroler Bergbauernhofes aus den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Die Schule war mein Urlaub von der Arbeit zuhause. Ich glaube, dass Wittgenstein-der-Volksschullehrer-in-den-Tälern-von-Niederösterreich etwas von meiner eigenen Kindheit gesehen hat und dass er für seine Schulkinder so etwas wie Empathie empfand. Wittgensteins Volksschullehrerzeit wird oft als eine böse Zeit dargestellt, böse sowohl für ihn als auch für die Kinder. Ich denke aber, dass er die Bedürfnisse seiner Schüler und Schülerinnen sah und ihnen helfen wollte. Durch das Diktat von Wortlisten, die Verschriftlichung von Wörtern, die die Kinder z. T. nur aus ihrer gesprochenen Sprache kannten, aber für das Aufsatzschreiben brauchten, gab er ihnen mehr Sprache. Daraus entstand später sein eigenes kleines Wörterbuch für Volksschulen (1926). Dieses Wörterbuch hätte auch mir beim Aufsatzschreiben geholfen und wäre außerdem meine erste Begegnung mit Wittgenstein gewesen! Natürlich, einige der Wörter, die ich brauchte, um meine Welt zu beschreiben, fehlten auch darin: „worpen“, „Balln reitern“, „gorgern“, „Tragl“, „Pfergl“, „Zelten“ … Das sind alles Wörter, die in meiner damaligen Welt funktionierten, dort ihre Arbeit taten, mir die Welt eröffnet haben, z. T. auch noch heute funktionieren. Wittgenstein würde sagen: Diese Wörter taten und tun ihre Arbeit im Gegensatz zu den Wörtern der Philosophie: der Philosophie, die er bekämpfen will; der Philosophie, die aus sprachlichem Leerlauf eine Tugend zu machen versucht, im Grunde aber die Kommunikation behindert und uns von einer klaren Sicht auf die Welt und uns selbst abbringt. Bei der Arbeit im Stall, im Stadel und auf der Wiese hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich dachte vor allem über Sprache und Sprechen nach; ich glaube, das war mein Einstieg in die Philosophie. Als Kind habe ich viele der Arbeiten auf dem Hof gehasst (ich mochte es, die Graukühe zu „striegeln“ und zu bürsten). Heute denke ich mir, dass ich durch die damaligen Arbeiten viel Disziplin und Durchhaltevermögen gelernt habe, nicht zuletzt auch für meine technischen Editionsaufgaben (z. B. XML-Kodierung). Und ich bin dankbar dafür, dass ich noch diese „andere Zeit“ erlebt habe: Es war eine Zeit, wo man im Spätherbst beim „Laubkehren“ sich nach jedem einzelnen Laubblatt gestreckt hat, damit die Kühe im Winter ja genug „Streibe“ zum Draufliegen hatten. Wittgenstein hätte unser damaliges, in das Arbeiten eingebettete Sprechen ohne weiteres als eines seiner „Sprachspiele“ aufstellen können. Immer wenn ich nach Gomion zurückkomme, kann ich gleich wieder in das Arbeitsleben dort einsteigen. Wittgenstein selbst hat sich mehrere Male als Gärtner betätigt.

Zwischen der Kindheit und der Arbeit auf dem Passeirer Bauernhof und meiner heutigen Arbeit in der Philosophie und am Wittgenstein-Archiv in Bergen sehe ich keine Brüche, und irgendwie war jeder Übergang vom einen zum anderen natürlich. Kindheit im Passeiertal, Jugend im Passeiertal und Johanneum in Dorf Tirol, Studienzeit (Germanistik, Philosophie und Theologie) in Innsbruck und im Passeiertal; dann Umzug nach Norwegen an das neugegründete Wittgenstein-Archiv in Bergen; seitdem mit Philosophie, Wittgenstein und der Wittgenstein-Edition verbunden. Durch meine Wittgenstein-Arbeit habe ich viele liebe Menschen kennengelernt. Alle mögen es, nicht nur von Wittgenstein, sondern auch von Südtirol und meiner Kindheit zu hören. Manche von ihnen leben leider nicht mehr; ich denke an den sonnigen Max Hadersbeck (gest. 2020), der mit mir und seinen Studierenden WiTTFind (http://wittfind.cis.lmu.de/) kreierte, oder den erst kürzlich verstorbenen, kämpferischen Luciano Bazzocchi, mit dem ich einmal eine Summer School zu Wittgenstein in Siena machen durfte.

„Meine Geschichte scheint mir eine einfache, schnurgerade zu sein“: Und doch scheint es mir manchmal geheimnisvoll, dass die Person, die als „kluaner Bua“ auf der Gomioner Wiese nach oben guckte und den Flugzeugen am Himmel nachschaute – eine ganz andere Welt! –, dieselbe Person ist wie die, die das hier schreibt. Ich bin sicher, dass das nicht nur mir so geht: ein ganzes Leben lang, in all den verschiedenen Situationen, dieselbe Person! 55 Jahre nach meiner Geburt stand ich im letzten Jahr auf dem Balkon des Wittgenstein-Hauses über dem Eidsvatnet-See in Skjolden und fragte mich: Wie ist das alles gekommen? Was hat mich hierhergeführt? So einen Balkon hatten wir zuhause auch („Solder“); er wurde zum Trocknen von Nüssen und Kräutern benutzt. Schon damals stand oder saß ich gerne auf ihm. Ich liebte die Tiere, ich liebte die Natur. Aber wie bin ich zu Wittgenstein gekommen? Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur: Dafür, dass ich zu Wittgenstein gekommen bin, waren die Gespräche und Arbeiten mit den Philosophen Edmund Runggaldier und Vladimir Richter, dem Germanisten Hanspeter Ortner und vor allem mit Allan Janik vom Brenner-Archiv – alle an der Universität Innsbruck – entscheidend. Allan Janik war es dann, der mich 1990 von Innsbruck an das neugegründete Wittgenstein-Archiv in Bergen schickte. Ich erinnere mich, wie fremd mir Wittgenstein am Anfang war. Als Studien-Assistent in Innsbruck musste ich helfen, Wittgenstein-Seminare vorzubereiten, und deswegen Wittgenstein selber lesen. Ich liebte Systematik, analytische Darstellung, geradlinige Argumentation in expliziten Thesen und Syllogismen; Wittgenstein stieß mich mit seinen Kreuz-und-quer-Texten vor den Kopf. Bei der ersten Lektüre von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen konnte ich nichts damit anfangen; er und sein Stil sprachen nicht zu mir. Was mich mit Wittgenstein aber immer verbunden hat, war die Aufmerksamkeit auf die Sprache. Worüber ich mich als Kind oft gewundert habe, war, wie viel Zeit Leute mit „phatischer Kommunikation“ (Malinowski) verbringen konnten. Phatische Kommunikation ist – kognitiv gemessen – ein reiner Leerlauf; emotional und sozial gesehen natürlich ein Um und Auf. Wittgenstein war alles andere als ein Freund von phatischem Reden; da war das wortkarge Skjolden viel besser als das phatische Cambridge. Nicht nur gute Philosophie, sondern gute Sprache überhaupt zeichnet sich nach Wittgenstein dadurch aus, dass sie nur das sagt, was auch gesagt werden muss. Meine Deutschlehrerin am Johanneum, Schwester Maurberger, hat mir nach meiner Matura eine von ihr selbst angelegte Sammlung von Reflexionen deutscher Dichter zum Thema „Das Wort“ in die Hand gedrückt. Ich habe sie immer noch nicht gründlich studiert, sie gehört aber wohl zu mir.

Vor Kurzem dachte ich mir: Die einzige Sprache, die ich wirklich spreche, ist mein Passeirer-Dialekt – der funktioniert aber eigentlich nur in der kleinen Welt (der „Lebensform“, könnte man mit Wittgenstein sagen), in der er zu Hause ist. Deswegen sind meine Kinder auch in einem Mischmasch von Passeirer-Dialekt, Hochdeutsch, Polnisch und Norwegisch aufgewachsen. Ich glaube, es hat ihnen nicht allzu viel geschadet – ich empfand es aber dennoch immer als ein Manko, dass ich so viel zwischen den Sprachen hin und her springen musste. Gleichzeitig entdecke ich manchmal erfreut, dass sich einige meiner Dialektwörter auch im Finnland-Schwedisch finden; „hale“ für „glatt“ (wie „glatt auf dem Eis“) ist ein Beispiel. Tatsächlich ist keine Sprache und keine Lebensform der Welt so isoliert und von den anderen derart abgekapselt, dass es nicht Brücken oder die Möglichkeit eines Brückenbaus gäbe. Durch das Mitmachen beim Leben, Handeln und Sprechen der Anderen kommen wir in die Kultur und Lebensform „der Anderen“ hinein. Das ist das Credo von beiden, von Wittgenstein und Malinowski: die Ablehnung eines linguistischen oder konzeptuellen Kulturrelativismus. Die Grundlagen der Kommunikation sind Handeln und Benehmen, nicht Begriffe, zeigen uns beide. Natürlich gibt es Grenzen, die man nur sehr schwer überwinden kann, sowohl Grenzen der anderen als auch seine eigenen: Einige davon bringt Malinowski in seinem Tagebuch selbst ungeschminkt zum Ausdruck. Aber diese Grenzen sind nicht begrifflicher Art – „Widerstände des Willens sind zu überwinden“, würde Wittgenstein sagen.

Wittgenstein hatte zusammen mit Paul Engelmann in Wien ein Haus für seine Schwester Margaret gebaut. Alle seine Geschwister hatten ihre Häuser und Wohnungen. Am Trinity College in Cambridge hatte er seine eigenen Räume zum Wohnen und zum Unterrichten. Aber sein Haus, sein eigenes Haus lag weit entfernt am Ende des Sognefjords (Lusterfjord-Arm) über dem Eidsvatnet-See in Skjolden, drei bis vier Tage von der Cambridger und Wiener High Society entfernt. Allein die Reise von Bergen dauerte einen Tag (so lange braucht man ungefähr auch noch heute). Skjolden lag aber nicht am Ende der Welt, hier gab es Marmeladen-, Saft- und Kühleis-Produktion; einer der Hauptwege von Bergen nach Oslo führte durch Skjolden über den Sognefjell; Wittgenstein konnte sogar noch mit einem durchgehenden Boot von Bergen bis nach Skjolden reisen. Das Haus selbst war aber tatsächlich abgelegen. So wollte es Wittgenstein; er brauchte Ruhe zum Arbeiten und zog sich hierher zurück, wenn er mit einem Problem fertig werden oder endlich sein zweites philosophisches Buch zusammenstellen wollte. Aber wie konnte er es hier überhaupt aushalten?! Das Wasser musste er sich mit einem Eimer aus dem See holen; es gab keinen Strom; und vor allem: Es gab keine Menschen um ihn herum. Ein bis zwei Wochen ginge vielleicht, aber einen Monat? Sogar mehrere Monate! Wenn er Menschen sehen wollte und im Winter nicht über den See rudern und auch noch nicht über das Eis gehen konnte, gelangte er nur über einen mühsamen mehrstündigen Umweg in das Skjoldener Dorf, wo er auf eine andere menschliche Seele traf. Einsamkeit, Einsamkeit, Einsamkeit. Und fehlte ihm nicht die Musik? Er hatte sie im Kopf. Und dann das Wetter! Oft nur Trübsal, Nebel, Nebel, Regen, Regen, Regen. Wenn er nicht heizte (er hatte einen Ofen, nicht nur einen Herd), war es bei anhaltendem Regenwetter im Haus sofort feucht und nasskalt. Wie hart wartete er auf die Sonne im Frühjahr: „Ich habe jetzt eine große Sehnsucht danach, die Sonne von meinem Haus zu sehen & stelle täglich Schätzungen an wie viele Tage sie noch wegbleiben wird. …“ (Ms-183, S. 211f). Wittgenstein hatte fünf längere Aufenthalte in seinem Haus in Skjolden; ein paar wenige Male Teile davon zusammen mit Freunden aus England oder Österreich.

In seinem Haus in Skjolden hat Wittgenstein Texte geschrieben, die zum Besten der Philosophie des 20. Jahrhunderts gehören. So ist hier im Spätherbst 1936 die Urfassung der Philosophischen Untersuchungen entstanden. Der finnische Philosoph Georg Henrik von Wright, der 1951 einer von drei Wittgenstein-Nachlassverwaltern und -Herausgebern wurde, hat 1936 noch gar nicht gewusst, dass der berühmte Philosoph Wittgenstein in Skjolden ein Haus hatte – in dem gerade eines der Hauptwerke der Philosophie entstand. Von Wright befand sich zu dem Zeitpunkt, als Wittgenstein 1929 zur Philosophie in Cambridge zurückkehrte, auf einem Kuraufenthalt in Meran; er hat seine Zeit dort als die Zeit „intellektuellen Erwachens“ beschrieben. 1934 begann er sein Philosophiestudium in Helsinki; für 1939 hatte er einen Aufenthalt an der Universität Wien geplant, aber wegen der dortigen Entwicklungen ging er stattdessen nach Cambridge. Überrascht zu hören, dass Wittgenstein in Cambridge Vorlesungen hielt, ging er gleich in eine hinein. Wittgenstein warf ihn mehr oder weniger hinaus, da er keine „Touristen“-Besucher wollte. Die beiden versöhnten sich nachher bei einer Tasse Tee und einem Gespräch über Norwegen und Architektur.
Bei meinem ersten Treffen mit von Wright in Helsinki im Herbst 1990 war Meran gleich ein Thema; von Wright hatte sich darüber gefreut, dass er es beim Besuch aus Bergen mit einem Meraner zu tun hatte. Leider musste ich ihm sagen, dass ich mit Meran nicht viel mehr zu tun hatte als eine Spitalgeburt. Natürlich haben von Wright und ich dennoch eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Ich habe ihm später einen Bildband mit Meraner Fotos aus den frühen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts geschenkt, über den er sich sehr gefreut hat. Von Wright hat gemeint, dass Wittgenstein einmal zu den besten deutschen Verfassern – „Dichtern“, wie man früher gesagt hat – zählen würde. Tatsächlich gibt es bei Wittgenstein eine innige Verbindung von philosophischer Argumentation und Dichtung, und jedes seiner philosophischen Werke erhielt von ihm eine dem Werk spezifische dichterische Form. Die Abhandlung ist eine Leiter, die Untersuchungen sind ein Album – so Wittgensteins eigene Worte.

Bei allem augenscheinlichen Schnurgerade meines „Werdegangs“ war das Ganze zutiefst vom Zufall geprägt. Alles hätte anders kommen können. In der Abhandlung wird bestritten, dass es eine Kausalität in der Welt gibt; und in den Untersuchungen stellt Wittgenstein uns die Frage, was uns dazu bringt zu denken, dass die Maschine alle ihre Bewegungen schon irgendwie in sich habe (§ 194). Etwas vom Wichtigsten, das wir von Wittgenstein haben, ist sein Beharren darauf, dass Einheit und Kontinuität oft in nichts anderem bestehen als in verstreuten „Familienähnlichkeiten“, die wir zu Sinn und Identität gestalten. Philosophen, wir alle, denken oft, dass „das Gemeinsame“ in einem roten Faden oder einem festen Kern besteht. Wittgenstein gibt uns in den Untersuchungen ein einfaches Gegenbeispiel – das der Spiele: Es gibt nichts außer uns selbst, was ein Spiel zu einem Spiel macht (§ 66–67).

Meines Wissens haben sich Wittgenstein und Malinowski nie getroffen. Meines Wissens hat weder Wittgenstein Malinowski je erwähnt noch Malinowski Wittgenstein. Dabei hatten sie gemeinsame Freunde und Kollegen. Bertrand Russell und Charles Kay Ogden gehörten dazu. Sie reisten vielleicht oft auf demselben Boot vom Kontinent zurück nach England. Oder sie waren sogar im selben Zug zur Überfahrt über den Kanal. Vielleicht haben sie einander gesehen, aber nicht haltgemacht. Vielleicht haben sie ein paar phatische Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht. Nichts ist von einer Begegnung bekannt und gar nichts davon, dass sie miteinander ordentlich zu reden begonnen hätten. Ich finde es erstaunlich, dass sich die beiden derart aus dem Weg gehen konnten.

 

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