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Marginaltext (13): Im Kleinen das Große

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, denen trotz ihrer herausragenden Qualität zu wenig Aufmerksamkeit beschieden ist. Sei es, dass sie schlicht zu wenig bekannt, längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, sei es, dass sie an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden sind. Folge 13: „Aus meinen Tiroler Notizen“ von Viktor Matejka, Schriftsteller und in der unmittelbaren Nachkriegszeit legendärer Wiener Stadtrat für Kultur und Volksbildung der KPÖ. Der Text erschien 1979 in der „Jubiläumsausgabe“ Nr. 25 der Tiroler Kulturzeitschrift „Das Fenster“ unter der Überschrift „Beziehungen und Sentiments von Wienern zu Tirol“:

Für mich sind die Tiroler nie Provinzler, wie die Wiener keine Wasserköpfler sind. Das heißt, Sumper gibt’s da und dort. Man muss sich halt an die hellen Köpfe halten. Man muss sich von ihrem Licht anstrahlen lassen und schön langsam, aber sicher für seine Verbreitung in anderen Bundesländern sorgen.
V. M.

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Als ich aus Stockerau nach Wien einwanderte, waren der Weltkrieg und seine ersten Folgen abgelaufen. In dieser Situation nahmen mich bald zwei Zeitschriften in Anspruch: „Die Fackel“ von Karl Kraus und „Der Brenner“ von Ludwig Ficker. Eine erste Verbindung von Wien nach Tirol hat sich bei mir ergeben, dabei handelt es sich um ganz verschiedenartige Zeitschriften, aber Signale, die stark leuchteten. Bei Kraus merkte ich, daß er für Ficker was übrig hatte. Beide waren originelle Persönlichkeiten, ihr Kontrast hatte den Gleichklang des Alleingangs.
Mir waren Außenseiter schon immer sympathisch, wahrscheinlich habe ich selber was davon. Kraus konnte ich fast regelmäßig in seinen öffentlichen Vorlesungen besuchen, aber Ludwig Ficker war in weiter Ferne.
Erst 1927 war es mir möglich, zum erstenmal ins Bundesland Tirol zu fahren. Hauptziel: den Ficker muß ich sehen und mit ihm sprechen. Wer eine Zeitschrift wie den „Brenner“ in Innsbruck herausbringt, der muß ein bedeutender Zeitgenosse sein. Aufs Geratewohl klopfte ich in der Wohnung Fickers an: „Ich habe eine Wallfahrt zu Ihnen gemacht, und hoffentlich haben Sie für mich ein bisserl Zeit.“ Und er hatte nachmittags bis spät abends für mich Zeit. Ich kam aus dem Erstaunen nicht heraus. Ficker machte seine Zeitschrift eigentlich nebenbei, im Hauptberuf war er in einem Druckereibetrieb beschäftigt. Aus seinem Mund erfuhr ich höchstes Lob für Karl Kraus. Bald brachte ich die Rede auf etwas ganz anderes. Ich hatte nämlich den ersten und den zweiten Band von Hitlers „Mein Kampf“ damals schon gelesen, sozusagen politologisch studiert. Damit war mir klargeworden, daß hier eine große Gefahr heranwachse, die nicht nur Österreich verseuchen könne, sondern auch ganz Europa aufs ärgste bedrohe. Vielleicht wirkte ich in meiner jugendlichen Vehemenz zu stürmisch. Ficker versuchte mich zu beruhigen. Ich kündigte ihm an, ich würde von Innsbruck nach München fahren. Ich wollte mir den großen Gefährlichen im Bürgerbräukeller direkt anhören. Eine einmal erkannte Gefahr müsse man von allen Seiten her beobachten. Da hatte ich den Eindruck, Ficker wolle mir abraten, um mich vor einer Überschätzung zu bewahren. Aber jenseits des Brenners war die Gefahr schon greifbar: dem Faschismus müsse von Anfang an Widerstand geleistet werden. Das war oft Inhalt unserer Korrespondenz in den folgenden Jahren.
Unser Gespräch schloß damit ab, daß ich ihm versicherte, mich dafür einzusetzen, daß ,,Der Brenner“ in Wien größere Verbreitung finden müßte. Ich könnte heute noch traurig sein: wie das fast vergeblich war. Den Linken war „Der Brenner“ zu schwarz, den Rechten war er nicht orthodox genug. „Der Brenner“ war halt was zum Nachdenken, eine Fackel für die Revision vieler Vorurteile, Oberflächlichkeiten, Heucheleien.
In späteren Jahren mußte ich einsehen, daß eine kritische katholische Grundhaltung des „Brenners“ nicht gerade das war, was ihm in Wien besonders nützen könne. So sehr ich den „Brenner“ für eine Ergänzung der „Fackel“ hielt, weil Österreich nun einmal ohne seine katholische Substanz und Geschichte nicht auskommen könne, so sehr mußte ich im Verlauf der Jahre feststellen, daß ,,Die Fackel“ schon infolge ihrer tagespolitischen Aktualität der Tiroler Zeitschrift überlegen war. Ich rechne mir es als großes Glück an, daß ich mit Ficker korrespondieren konnte. Zeitlebens war ich ein Freund brieflicher Verständigung. Leider ist dieser Briefwechsel durch die Ereignisse des Jahres 1938 wie so vieles verlorengegangen. Fickers diesbezügliche Handschriften fehlen somit in dem ihm gewidmeten Innsbrucker Archiv, über dessen Konsolidierung ich mich als Wiener nur freuen kann.
Knapp vor dem Ende Österreichs spielte sich eine mir deutlich in Erinnerung gebliebene Episode ab, die mit einem Mitglied der Familie Ficker zu tun hat. Anfang Dezember 1937 war ich wieder einmal in Paris, um verschiedene Aktionen und Gespräche zugunsten der Erhaltung der Selbständigkeit Österreichs weiterzutreiben. Einer meiner Stützpunkte dort war Botschaftsrat Norbert Bischof. Er erzählte mir, kürzlich habe der österreichische Maler Wilhelm Thöny den Pariser Kardinal Verdier gemalt. Ich würde unbedingt ein Photo dieses Bildes brauchen, denn für den 23. Dezember sei mir eine Audienz bei Verdier zugesagt. Wie komme ich zu einem Photo? Die Botschaftsbeamten waren ratlos. Da meldete sich eine junge Sekretärin, sie kenne den Maler Thöny und habe das Porträt schon gesehen. Es waren nur noch acht Stunden Zeit, das Photo zu beschaffen. Sie würde das bei Thöny durchsetzen. Am nächsten Tag, zehn Minuten vor vier Uhr nachmittags, war das Fräulein Ficker, wenn ich nicht irre, die jüngste Tochter Ludwig Fickers, vor dem Erzbischöflichen Palais, wo ich sie erwartete. Ich hatte ein starkes Zeichenblatt mitgebracht und das Photo schnell aufgeklebt. Zwei Stunden war ich beim Kardinal. Einziges Thema: Österreichs Existenz und der Widerstand gegen Hitler, der nur in einer breiten Volksfront, national und international, zum Gelingen führen könne. Natürlich komme es dabei auch auf die Kirche an, besonders auf die Vermehrung jener katholischen Kreise, die die Gefahr klar erkannten und zum Widerstand sich bekannten.
In diesem Sinn verfaßte Verdier – über das Thöny-Porträt hinweg eine schriftliche Botschaft an seinen Wiener Kollegen Kardinal Theodor Innitzer. Verdier hatte sich als scharfer Gegner des Nationalsozialismus wiederholt exponiert. Daß meine gezielte Aktion auch optisch wirkungsvoll zum Ausdruck kommen sollte, verdankte ich der vifen und hilfsbereiten Botschaftsangestellten. Mag sein, eine Bagatelle, und was ist schon ein Photo? Der Pariser Kardinal erzählte mir von den Sitzungen beim Österreicher Thöny: beide waren sich der faschistischen Umklammerung Österreichs bewußt. Auf sein Porträt eine Botschaft für Österreich zu schreiben, fand der Kardinal als eine gelungene Kombination.
Erst nach dem total mörderischen „Zwischenspiel Hitler“ – so der von mir erfundene Titel einer von mir beeinflußten Publikation aus dem Herbst 1932, also noch vor der Machtergreifung in Deutschland – sah ich Fräulein Ficker wieder im Jahr 1946, als ich zum erstenmal nach der Befreiung Österreichs Innsbruck besuchte. Ich war und bin ihr mein Leben lang dankbar. Ja, für ein Photo, das ein Kunstwerk festhält zur richtigen Minute.
(…)

***

Mit dem „Zwischenspiel Hitler“, das für Österreich von März 1938 bis April 1945 dauern sollte, konnte ich manchen meiner Landsleute im KZ eine Perspektive eröffnen, die zum sicheren Ende des NS-Regimes führen müsse. Mir fiel das ja leicht, denn ich hab’ mich früh genug mit Hitler zu beschäftigen begonnen. Den Tiroler Hans Gamper will ich in diesem Zusammenhang besonders erwähnen. Wir lernten uns etwa 1930 kennen. Uns bewegten zwei Arbeitsmotive leidenschaftlich, Arbeiterbewegung und Volksbildung. Rechte und linke Grundeinstellungen fanden ihre gemeinsame Basis im Bekenntnis zur Demokratie wie in der Hellhörigkeit für die faschistische Gefahr. Ein Nordtiroler mußte damals eigentlich viel früher den faschistischen Schoß, aus dem noch Ungeheuerliches kroch, als wachsende Gefahr erkennen im Vergleich zu Österreichern in anderen Bundesländern. Nordtirol und auch Südtirol konnten ins faschistische Italien direkt schauen. Leider war dem nicht so, natürlich mit relativ wenigen Ausnahmen. Zu denen gehörte Freund Gamper.
Seine volksbildnerische und kulturpolitische Tätigkeit fand bei mir eine hohe Einschätzung, als er in mühevoller Arbeit ein modernes Tiroler Volkskundemuseum eingerichtet hatte, das Vorbild für ganz Österreich war. In den Endjahren Österreichs ab 1934 trafen wir uns öfter in der gemeinsamen Sorge im Abwehrkampf gegen die Abwürger Österreichs und in der Bemühung für eine Wiederherstellung der im Bürgerkrieg zerstörten Demokratie. Dabei stand immer voran: eine allerwichtigste Grundlage für die Existenz Österreichs ist sein Föderalismus.
Im KZ Dachau nahmen wir uns Zeit zur gründlichen Überlegung, warum es schiefgegangen ist. Unsere Überlegungen gingen auch in Richtung Wiedergeburt Österreichs, an der keiner von uns beiden auch nur im geringsten zweifelte. Grundbedingung für ein neues Österreich müsse der Föderalismus sein, und diese Grundform sei zu erfüllen mit einer völlig erneuerten Demokratie. Unsere Gespräche befaßten sich intensiv mit den Ursachen, die zum Untergang Österreichs geführt haben. Wir sparten in keiner Weise die Kritik an führenden Persönlichkeiten aus allen Lagern aus. Dabei ging es auch um Schuschnigg, jenen Tiroler in Wien, der erst reichlich spät zum Tiroler Aufruf fand: „Mannder, ’s ischt Zeit.“ In der Verurteilung der faschistischen Kräfte, die zum Bürgerkrieg führten, konnte Gamper nicht scharf genug sein Bekenntnis zur Demokratie betonen.
Auch Südtirol kam dran. Hier müsse Österreich unbedingt einen vorläufigen Ausgleich mit Italien finden. Das gehe nur mit geduldiger Verhandlung und niemals mit Mitteln der Gewalt. Ein Ergebnis des Ersten Weltkrieges, die Lostrennung Südtirols, sei vielleicht in einer friedlichen Volksabstimmung zu revidieren. Sollte es aber dazu nicht kommen, weil die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges darüber sich nicht einigen könnten, so sei nur ein mühevoller Verhandlungsweg das einzige Mittel zur Verständigung zwischen Nord- und Südtirol im Sinn von historischer wie geistiger und menschlicher Verbundenheit.
Freilich sollte es nach 1945 anders kommen. Als der Tiroler Karl Gruber nach Wien zum Außenminister berufen wurde, meinte Gamper zu mir: „Jetzt haben wir ihn los, und jetzt könnt ihr euch mit ihm abplagen.“ Ich schrieb daraufhin eine Glosse mit dem Satz: „Wer anderen einen Gruber gräbt, fällt selbst herein“. Da wurden die Debatten zwischen Gamper und mir schier endlos. Ich gab ihm einen Rat, den ich vielen Tirolern gegeben habe. Eine geradezu naturgegebene wie historische Lösung biete sich an, wenn man bedenke, daß nach 1945 in Nordtirol und in Südtirol sowie in Italien christdemokratische Kräfte in die Regierung kamen. Es müßte doch eigentlich selbstverständlich sein, daß – noch dazu katholische – Christen in den in Frage kommenden Regierungen gerade bei Fragen der gerechten und vernünftigen Behandlung von Minderheiten sich finden müßten. Christliche Nächstenliebe sozusagen international, zwischenstaatlich, völkerrechtlich … Keine Utopie!!
Nach seiner Pensionierung wollte Gamper ein gründliches Buch über Südtirol schreiben. Er hat mir wiederholt angekündigt, daß er sich mit meinen vorhin erwähnten Lösungsvorschlägen gründlich auseinandersetzen wolle. Aber nicht nur dieses Buch hatte er sich vorgenommen, sondern auch ein sehr kritisches über die Zwischen-Kriegszeit Österreichs, unter dem besonderen Blickwinkel Tirol und Wien. Ich kann nur hoffen, daß sich manches in seinem Nachlaß findet, das in diese seine Auseinandersetzung wenigstens einigermaßen einführt.
(…)

***

Von Paul Flora, dem damals knapp über Zwanzigjährigen, sah ich gelegentlich in einem Innsbrucker Wochenblatt der französischen Besatzungsmacht Karikaturen. Das Blatt kam aber kaum über Tirol hinaus. Der Mann gehört nach Wien, sagte ich mir, denn hier herrschte ein Mangel an politischen Karikaturisten. Einer meiner Wiener Freunde, der den „Zwei Berge-Verlag“ gegründet hatte, war mit ihm schon in Kontakt und wollte ein Flora-Buch herausbringen. Es war zwar damals nicht einfach, eine Ausstellung von Innsbruck nach Wien zu transportieren, aber meine französischen Freunde halfen mir dabei. Eröffnet wurde in der Neuen Galerie in der Grünangergasse. Es wurde mit Flora an jenem Ort begonnen, wo der mittlerweile weltbekannt gewordene Wiener Galerist Nierenstein, der sich schon früh für Schiele einsetzte und sich in Amerika Otto Kallir nannte, 1938 aufhören mußte und emigrierte.
Im besten Sinn des Wortes wurde die Flora-Ausstellung in Wien eine Sensation. Die Galerie leitete die Kunsthistorikerin Vita Künstler. Sie hatte eine auffallend große Kartei von Adressen, so daß die Eröffnung weit überfüllt war. Flora hatte seine Tante mitgebracht. Ich ließ mich in ein Zwiegespräch mit dem rotwangigen, festgebauten Flora ein. Ich hatte den Eindruck, daß ihm die Antworten noch zusätzliches Erröten ins Gesicht trieben. Es war sein erster Auftritt in Wien. Damals waren die meisten Leute hier recht blaß und dürr. Um so erfrischender mußte auf die Wiener der gesunde Wuchs aus Tirol wirken. Ich forderte das Publikum, nachdem es schon die Blätter an der Wand hatte bewundern können, auf, Fragen zu stellen, Meinungen zu äußern. Aber die demokratische Redelust war noch sehr unterentwickelt. Meine Einladung zur Redefreiheit verfing nicht, bis schließlich ein unscheinbares Frauerl tragte: „Darf ich was sagen, ich bin nämlich die Tante vom Paul.“ Der Paul krümmte sich fast, er tat ganz verlegen: Was wird denn die Tante sagen? Die Tante sagte u. a. „Sie werden schon gehört haben, daß manchmal die älteren Leute nicht zufrieden sind, wenn der Bub außerhalb der Schule wie ein leidenschaftlich Besessener zeichnet und zeichnet. Ich aber habe die Zeichnungen, die sonst nicht mehr da wären, gesammelt, sie haben mir gefallen, und dann habe ich mir erlaubt, in einer kleinen Mappe eine Auswahl mitzubringen.“ Da setzte ein Applaus für die frühzeitig hellsichtige Tante ein. Ich bat Frau Künstler, die Eingangstür zuzusperren, und nun eröffnete ich eine zweite Ausstellung, die nur im Herumreichen der abgezählten Blätter absolviert werden konnte. Die Leute standen äußerst gedrängt, und die Galerieleiterin mußte befürchten, es könnte ein Eröffnungsteilnehmer in die Versuchung kommen, sich an einem Blatt so zu begeistern, daß es plötzlich verschwindet. Die weit über hundert Besucher reichten einander die Blätter so lange weiter, bis die improvisierte Ausstellung, die der Courage der Tante zu verdanken war, ihr heiteres Ende fand. Flora sagte nur öfter: „Aber, aber, so was“ und schüttelte den Kopf. So was ist mir in guter Erinnerung geblieben. Ich habe die intensiv erlebte Geschichte oft und oft erzählt und kann die Flora-Tante nicht vergessen. Da kommen mir Erinnerungen an andere junge Maler und Bildhauer aus Tirol und von anderswoher, die in ihrer künstlerischen Früharbeit von ihrer Umgebung nicht gleich kapiert, oft sogar behindert wurden.
Bald darauf kam im Wiener „Zwei Berge-Verlag“ das erste Flora-Buch heraus. Ich hoffte, andere Verleger in Österreich würden bald zugreifen, den fruchtbaren Flora in seiner raschen Entwicklung zum Buchexportartikel zu machen. Zu meinem Leidwesen war ein Schweizer Verlag viel schneller. Aber um so mehr wurde ich in meinem absoluten Glauben an den Aufstieg Floras zum großen österreichischen Zeichner in Karikatur, Satire, Humor, in Gegenwarts- und Vergangenheitsdarstellung von eminenter zyklischer Art bestärkt.
Die in Hamburg erscheinende, man kann sagen, wohl bedeutendste deutschsprachige Wochenzeitschrift „Die Zeit“ verpflichtete Flora zum Monopolzeichner auf der ersten Seite gleich unter dem Titelkopf. Ein Tiroler beherrschte durch viele Jahre mit einer treffsicheren Zeichnung zur Zeitsituation den „Zeit“-Kopf. Da konnten sich wohl im besten Sinn des Wortes seine Tiroler Landsleute was einbilden. Aber nicht nur das. Ein solcher Sprung ist noch keinem anderen Österreicher gelungen, wobei nur die Leistung, die künstlerische und denkerische, den Ausschlag gab. Ergo müßten auch alle Österreicher, die für einen hochgestiegenen Tiroler sich ihren Sinn bewahrt haben, stolz auf eine solche Kunstspitze sein, die in Tirol wurzelt und wuchert.
Bei einem Besuch auf der Hungerburg bat ich Flora, mir in mein Heft was zu zeichnen. „Gern, aber Sie müssen genau sagen, was Sie wollen.“ Ich platzte heraus: „Einen Andreas Hofer, wie er baden geht.“ Schon war’s geschehen, und es folgten weitere Blätter. Da ging die Tür auf. Herein kam ein kleiner Bub, der Sohn Floras. „Der soll weiterzeichnen, ich bin schon müde.“ Der Sohn zeichnete, indessen wurde die Jause serviert. Ich weiß nicht, ob sich wer vorstellen kann, was das Heft mit diesen Zeichnungen für mich bedeutet. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir Flora, wie sich das mit der Zeichnung für „Die Zeit“ allwöchentlich abspiele. Am Sonntag in der Früh ging er ins Tal, kaufte sich einige große internationale Blätter, zog sich dann zur Arbeit auf die Hungerburg zurück. Gegen Abend ging er zum Innsbrucker Hauptpostamt und gab den Luftpostbrief nach Hamburg auf. Schöpferische Postarbeit am Sonntag regelmäßig. Am Mittwoch erschien das Blatt mit dem Flora-Kopf.

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Eines Tages brachte mir der junge Max Weiler ein Porträt, das er von seinem Landsmann Vinzenz Oberhammer gemalt hatte. Es gefiel mir so gut, daß ich den Maler bat, es in meinem Büro aufhängen zu dürfen. Und aus dem einen Weiler wurden plötzlich dreizehn Tiroler, die zum erstenmal nach dem Krieg in Wien ausstellten.
So lernte ich auch die Innsbrucker Malerin Gerhild Diesner schätzen. Es war die Zeit der Raumnot, in der Ausstellungen größeren Umfanges in Räumen improvisiert wurden, die eigentlich für andere Zwecke bestimmt waren. Sie hatten aber den Vorteil, daß dorthin aus anderen Gründen Publikum in Massen strömte. Die dreizehn Tiroler präsentierten ihre Bilder im großen Foyer des Wiener Konzerthauses. Es gehört seit jeher zur Dynamik meiner Kulturpolitik, mitzuhelfen, daß die einzelnen Bundesländer sich gegenseitig befruchten und daher beschicken. Damals waren schon durch die Besatzungsmächte die Trennungslinien im allgemeinen noch sehr starr. Daß mit einer Tiroler Malergruppe 1946 ein kulturpolitisches Lieblingsprinzip verwirklicht werden konnte, hat mich in meiner besonderen Vorliebe für Tirol bestärkt. Man muß halt frühzeitig beginnen, und dann erst recht, wenn die Verhältnisse oft noch so kompliziert sind.
Mit der Transferierung Oberhammers nach Wien hatte die Kunststadt Wien einen ersten besonderen Erfolg auf dem Gebiet der bildenden Kunst. Es war für mich somit selbstverständlich, daß die Zeit bald kommen werde, daß ein Tiroler Original wie Max Weiler an die Akademie der bildenden Künste in Wien nach-
rücken müsse. Weiler ist in Wien bald zu einem der bedeutendsten österreichischen Künstler aufgerückt, der meines Erachtens nach wie vor aus seinen Tiroler Wurzeln schöpft: Nach wie vor rinnt das Wasser von den Bergen, die meisten Bilder Weilers heißen „Wie eine Landschaft“, und es ist immer eine Tiroler Landschaft. Es ist ganz gleich, was über die Leinwand strömt, Berge oder Malven, immer ist es Tirol in einer höchst persönlichen, in einer unverkennbaren Art, die für Österreich unentbehrlich ist.
In Tirol selbst hatte es Weiler zeitweise nicht leicht, mit seiner eigenwilligen Malerei allgemein Anerkennung zu finden. Ich komme mir auch heute noch glücklich vor, daß ich in zwei Fällen, wo das besonders kraß zum Ausdruck kam, absoluter Parteigänger Weilers gewesen bin. In der Kirche auf der Hungerburg malte er riesenformatige Leinwandbilder mit oft recht kritischen Ansichten zur Tiroler Situation und Geschichte. Ein Sturm brach los, von Innsbruck bis Rom, die Bilder wurden verhängt. Mir in Wien war das nicht gleichgültig. Ich war aber von Anfang an überzeugt, wenn es auch jahrelang dauern sollte, eines Tages würden die Bilder wieder enthüllt werden.
Abermals brach ein Sturm los, als Weiler in der Innsbrucker Bahnhofshalle Fresken an die Wand gemalt hatte. Da war vieles ins Bild gekommen, das den Spießern ein Greuel schien. Aber der Auftraggeber, die Bundesbahndirektion, ließ sich nicht erschüttern. Zum Glück waren die Fresken so hoch angelegt, daß ihnen keinerlei Tätlichkeit schaden konnte. Es hat Jahre gedauert, und die Fresken sind bis heute gut erhalten, bis dem Sturm die Toleranz folgte.
(…)

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Wie erfuhr ich zum erstenmal vom Innsbrucker Landesmuseumsdirektor Vinzenz Oberhammer? Gleich hatte er bei mir den Namen Lichtbringer. In einer Zeit, in der es im Wiener Kunsthistorischen Museum noch finster war, dachte er schon daran, im Tiroler Landesmuseum moderne Beleuchtungskörper einbauen zu lassen. Wie er das seinen vorgesetzten Dienststellen beibrachte, daß auch am Abend ein Museum zugänglich sein muß, weiß ich heute nicht mehr. Aber es gehört zum Wünschenswerten für jeden kulturbeflissenen Österreicher, daß seine Museen auch nach der Arbeit besucht werden können. Die modernen Beleuchtungsanlagen in Innsbruck wurden im Hinblick auf eine umfassende internationale Ritterrüstungsausstellung eingebaut. Als ich den Glanz dieser Ausstellung im künstlichen Licht bewundern konnte, sagte ich mir, dieser Oberhammer müßte nach Wien kommen, damit auch im Kunsthistorischen Museum endlich ein Licht am Abend aufgehe. Und so kam es auch. Nur ein Tiroler als Direktor des Kunsthistorischen Museums hat es zustande gebracht, daß auch in der größten und kostbarsten Wiener Kunstsammlung das längst fällige Licht leuchtet. Vielleicht schreibt für die Innsbrucker und im besonderen für die Wiener der nun schon pensionierte Professor Vinzenz Oberhammer einmal auf, wie ihm die Lichtbringung schließlich doch gelungen ist, denn vor ihm wurde darüber nur geredet und geredet. Seine Tat ist große Kulturpolitik.

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(…)
Über Alfons Walde, den vielfältig unterschätzten und zeitweise sogar verlästerten Maler, habe ich im „Fenster“ Nr. 14 bereits dank der Aufforderung durch den Tiroler Erneuerer Pfaundler einen revisionistischen Bericht geschrieben. Seither, darf ich wohl sagen, ist die allgemeine Wertschätzung für dieses Tiroler Original in vielen Kreisen sehr gestiegen. Das kommt auch zum Ausdruck, daß öffentliche Kunstauktionen ihn in jene Höhe bringen, die er eigentlich schon längst verdient hätte. Seine Wiedergeburt ist nicht zuletzt auch seiner Schwester Berta Margarete Walde in Kitzbühel, von wo Walde in alle Welt ausstrahlte, zu danken. Die nimmermüde Frau, eine pensionierte Lehrerin in hohem Alter, sorgt in ergreifender Weise beispielhaft dafür, daß der Nachruhm eines großen Tirolers kein Ende nimmt. Vor dem Schulhaus wurde dem Sohn der weltberühmten Stadt ein Denkmal errichtet.
Ich kann nur wünschen und hoffen, daß die von der Landesregierung hilfreich in Angriff genommene Monographie über das gesamte Werk des Malers und Architekten bald das Licht der Welt erblickt. Auch der Architekt Walde, der in Wien seine diesbezüglichen Studien absolviert hat, findet die längst verdiente Beachtung, wie mir Österreichs versiertester Architekturkritiker Friedrich Achleitner, Professor an der Wiener Hochschule für angewandte Kunst, in den letzten Jahren immer wieder versicherte. Der Fall Walde darf als geradezu klassisches Beispiel dafür angesehen werden, wie lange Kunstkritik und Kunstwissenschaft oft brauchen, bis sie nachziehen, wo ein kunstliebendes Volk längst gesehen und erkannt hat, daß Popularität eines Künstlers kein Einwand gegen seine künstlerische Potenz ist.

 

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