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Brennergespräch (25): „Ich brauche die anderen.“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 25: die weltweit gefragte Komponistin Chaya Czernowin, die im September 2022 beim Festival Klangspuren in Innsbruck unterrichtete. Gunter Schneider, in Tirol lebender Gitarrist, Komponist und viele Jahre Lehrender an der Wiener Musikuniversität, hat sie interviewt. Ein Werkstattgespräch über Pflanzenbilder als Inspirationsquelle, das Pathos des Singens, 2000 Varianten des Atmens und offene Fragen.

Gunter Schneider: Stimmt es, dass du früher in einer Rockband gespielt hast?

Chaya Czernowin: Ja, das waren meine ersten Schritte beim Komponieren. Mit 13 Jahren habe ich angefangen, sehr seltsame modale Gesänge zu schreiben. Dann kam es mit einer Gruppe von vier Freunden zu einer Formation, mit der wir Rock ’n’ Roll oder Pop spielten. Mit der Zeit wurde diese Popmusik – es war progressive Musik, eher Prog-Rock – seltsamer und seltsamer, bis meine Freunde sagten: „Chaya, es gibt keinen Beat mehr, keine Harmonien, keine Melodie … das ist kein Pop mehr! Wo bist du gelandet?“ (lacht) Das war ungefähr, als ich 18 oder 19 Jahre alt war, da wusste ich: Ich will Musik studieren. Es gab damals eine Akademie in Tel Aviv und eine in Jerusalem. In Tel Aviv waren mehrere Lehrer aus Europa. Mein Lehrer hieß Abel Ehrlich. Er kam aus Deutschland und er war ein unglaublicher Musiker, ein unglaublicher Denker und ein ganz verrückter Mensch – was ich sehr geliebt habe. Es gab auch andere, Yizhak Sadai aus Bulgarien zum Beispiel. Alle diese Menschen waren hoch gebildet. Und sie waren zutiefst verwoben mit der Kultur, aus der sie stammten – also war meine musikalische Ausbildung in gewisser Weise total europäisch. Freilich, was die Avantgarde-Musik dieser Zeit anbelangt, war damals nicht viel zu hören in Israel. Als ich studierte, gab es dafür genau einen Ort: Im Tel Aviv Museum war eine Frau, Joan Franks Williams aus Seattle –
alle sagten, sie sei verrückt –, sie hat in Konzerten und Rundfunksendungen avancierteste Musik nach Israel gebracht, Kagel, Lachenmann, Schnebel und Haubenstock-Ramati.

G. S.: Ist Israel für dich immer noch wichtig?

C. C.: Ich bin in Israel geboren und meine Natur ist in manchen Facetten sehr israelisch. Ich bin sehr direkt, ich sage immer, was ich denke, wenn mich jemand kennt, gibt es nicht viele Überraschungen (lacht). Es gibt einen sehr starken Kontakt zu Israel. Dieser Kontakt ist nicht immer nur einfach, man denke nur an die Politik Israels. Ich habe das Land in den 80er Jahren verlassen, aber ich bin immer viel dort, weil meine Familie dort ist, und viele meiner Freunde sind da.

G. S.: Und du wirst auch aufgeführt. Das Jerusalem Symphony Orchestra spielt jetzt ein Stück von dir.

C. C.: Das ist etwas ganz Besonderes. Das ist das erste Mal, dass ein Orchesterstück von mir in Israel gespielt wird [am 28.9.2022 spielte das Jerusalem Symphony Orchestra unter Noam Zur Czernowins „Once I Blinked Nothing was the Same“, Anm.]. Ich werde nicht viel aufgeführt in Israel, aber es wird immer mehr. Am wichtigsten ist mir ohnehin, dass viele junge Komponistinnen und Komponisten in Israel wissen, was ich tue. Ich glaube, für sie ist es sehr wichtig, dass ich existiere. Und dass ich für sie eine Art Identifikationsfigur bin.

G. S.: Du giltst als die Grande Dame der neuen Musik, du bist eine wichtige und auch sehr einflussreiche Komponistin. Warum? Gibt es da etwas in deiner Arbeit, das wie ein Funke auf andere Menschen überspringt?

C. C.: Ich glaube, ich kann sehr gut zuhören. Ich glaube, man muss in sich zuhören. Das kann ich sehr gut durch meine Musik vermitteln, die anders ist als andere Musik. Sie ändert sich immer, sie wächst wie eine Kreatur. Wenn man meine Musik von den 1990er Jahren hört oder von Anfang 2000 oder von jetzt, fällt es manchmal schwer sich vorzustellen, dass das ein und dieselbe Komponistin ist. Das hat damit zu tun, dass meine Musik eine konstante Suche ist, um zu den Plätzen zu gelangen, die noch nicht berührt sind. Und das ist nicht so einfach; um dorthin zu kommen, muss man die Plätze, die berührt sind, kennen. Man kann zwei verschiedene Richtungen einschlagen, um diese unbekannten Plätze zu finden. Man kann sagen: Ja, wir kennen die Erde, wir müssen jetzt zur Venus gehen oder zum Mars oder Jupiter. Wir müssen weiter entdecken. Oder man sagt: Wir kennen diese Erde überhaupt noch nicht und jeder hat blinde Flecken – wir nennen sie Flecken, aber es sind in Wirklichkeit Universen –, die sind noch zu entdecken! Und die interessieren mich sehr! Mich interessiert es nicht, neue Räume zu erforschen; ich will jene Räume verstehen und hinterfragen – in meinem Inneren, in meiner unmittelbaren Umgebung –, die schwer zugänglich sind. Das ist im Grunde ein Akt des Erwachsenwerdens. So wird man erwachsen.

G. S.: Und man hört nie auf, erwachsen zu werden?

C. C.: Es gibt immer Dinge zu erforschen! Hoffentlich wird man nie ganz erwachsen. Ich hätte dann keine Notwendigkeit, um weiterzugehen. Wenn man einmal ganz „komplett“ ist, dann heißt es: Tschüss, bis später …

G. S.: Auf deiner Website und auch auf deinem Facebook-Account habe ich viele Fotos mit Wurzeln, Bäumen und Pflanzen gesehen. Warum?

C. C.: Für mich sind die Pflanzenbilder Hinweise, Stimuli, kleine Blitze für die Imagination, sodass ich auf andere Möglichkeiten aufmerksam werde, wie Dinge sich verhalten können, existieren oder interagieren … und dann kann ich zu arbeiten beginnen. Ich spekuliere gerne und möchte vielleicht eine ganz neue Welt erfinden, die sich von dem, was ich in einem Bild höre oder sehe, unterscheidet – aber ich benütze dieses Bild als Hilfsmittel, um mit dem Spekulieren zu beginnen. Ich folge ihm nicht, um es zu verstehen; ich nehme mein Verständnis des Bildes und beginne, damit in die Richtung zu gehen, in die ich gehen will. Was interessiert mich daran? Ist es die Farbe, die Struktur, die Geste? Was ist neu daran? Gibt mir das Bild einen Hinweis auf etwas, was ich erforschen möchte – nicht, um es als Modell zu benützen, sondern als ein Sprungbrett für die Erfindung. Und diese Idee eines Sprungbretts hört niemals auf – jede Frage bringt die nächste Frage mit sich.

G. S.: Wann ist die Musik „fertig“, wann ist dieser Prozess zu Ende?

C. C.: Ich denke, das Stück ist dann fertig, wenn die Frage so klar wie möglich gestellt wird. Wir sind nicht auf der Suche nach Antworten, uns interessiert: Wie lautet die Frage? Wir versuchen, die Frage zu verstehen. Sobald man sie verstanden hat, sobald man das Thema oder die Frage komplett verstanden hat, dann kann das Stück enden.

G. S.: Wendest du diese Methode auch beim Unterrichten an?

C. C.: Beim Unterrichten – und das fällt mir nicht immer leicht – versuche ich, ganz offen zu sein. Jede und jeder meiner Studierenden hat eine Stimme, sie sind alle wie die Bilder der Natur und darin liegt ein Hinweis auf ihr Potential. Ich präsentiere Hypothesen und sie reagieren. Durch die Art und Weise, wie sie reagieren, verstehe ich, wo sie sich gerade befinden. Daraufhin präsentiere ich eine andere Hypothese. Wir tanzen sozusagen, um gemeinsam einen Weg zu finden. Sie können testen, wer sie sind. Ich biete ihnen dafür einen Spiegel, denn es geht nicht darum, was ich mag oder was ich suche, sondern darum, was sie suchen.

G. S.: Ist das etwas, was du in deiner Studienzeit selbst erlebt hast?

C. C.: Ich habe verschiedenste Erfahrungen gemacht. Ich hatte wie gesagt Abel Ehrlich als Lehrer. Er ließ dich niemals denken, dass er der Lehrer sei und du die Studentin. Er war sehr ermutigend. Yizhak Sadai dagegen sagte in der zweiten Vorlesung zu mir: „Ok, du schreibst ein Stück für Chor, nächstes Mal kommst zu mir und erklärst mir zu jeder Note: Warum? Zu jeder Dynamik, zu jeder Pause – warum?“ Und ich sagte zu ihm: „Ich kann das jetzt gleich machen!“ Weil ich es wusste. Aber das war sehr einengend! Und dann kam ich zu Dieter Schnebel. Der sagte nicht viel. Er schaute nur … machte: Hm, hm … (lacht) und am Ende sagte er zwei Sätze: „Dieses Stück ist extrem politisch und voller Schmerz“. So etwas in dieser Art. Bei Brian Ferneyhough habe ich nur zwei Monate studiert. Zu der Zeit, als ich ihn Ende der 1980er Jahre traf, hatte er viele Epigonen. Er versuchte, mich zu überzeugen, meine Sprache zu ändern. Wir diskutierten viel, ich wollte meine Sprache nicht ändern. Und doch habe ich viel von ihm gelernt, von seiner Musik, von seinem künstlerischen Zugang; er war ein äußerst wichtiger Lehrer. Schließlich war Roger Reynolds mein letzter Lehrer. Er hat einen sehr, sehr hohen Intellekt, kommt direkt auf den Punkt. Und er hat sehr viel Respekt vor der Intuition. Das habe ich wirklich von ihm gelernt – diesen respektvollen Bezug zu dem, was man erfinden kann. Und wie man das Erfundene dann mit sehr einfachen, pragmatischen Mitteln transportieren kann.

G. S.: Ich kann mir vorstellen, wenn ich pragmatisch bin und alles genau ordne, dann spüre ich: Das ist zwar gut, aber es fehlt etwas. Vielleicht fehlt das Wichtigste?

C. C.: Was ich mit dem Pragmatischen meine, das ist der letzte Schritt nach dem Komponieren, die Notation zum Beispiel oder auch die Kommunikation mit den Interpreten. Ich kann das zum Beispiel an „Immaterial“ festmachen, einem „Klangtheater für sechs Stimmen“, das gerade auch hier beim Festival Klangspuren aufgeführt wird. Ich liebe Vokalmusik, eigentlich höre ich ganz wenig Musik – ich komponiere jeden Tag so viel, und ich brauche Stille –, aber wenn ich Musik höre, dann sind es Madrigale von Carlo Gesualdo. In „Immaterial“ zelebriere ich also die Liebe zu diesen Madrigalen. Es fällt mir nicht leicht, für die menschliche Stimme zu schreiben, und ich habe Probleme mit der Oper als Gattung, ich mag das Pathos des Singens nicht. Es liegt in der Tatsache begründet, dass sich jeder mit seiner Stimme identifiziert. Wie kann man dieses Pathos loswerden? Ich wollte für mich selbst eine andere Art von Stimme entdecken und ich dachte: Man kann auch sehr lange ausatmen! Stimme, das ist also nicht nur der schöne Gesang, man kann sie auch als eine Maschine wahrnehmen und erforschen, wie die Maschine arbeitet und wie sie mit dem Körper verbunden ist. Der Großteil des Stücks „Immaterial“ ist Atmen. Das ist alles: bloß atmen. Aber in Wirklichkeit habe ich im Atmen zweitausend Varianten entdeckt. Wenn man wirklich zuhört, kann man so viele kleine Dinge entdecken und so viele Möglichkeiten, eine Kontinuität herzustellen, die einzig auf dem Prinzip beruht: Man atmet ein, man atmet aus. Das ganze Stück ist also in gewisser Weise eine Rebellion. Aber es ist nicht nur das – es ist ein Versuch, in diese Maschine hineinzugehen und aus dem Inneren dieser Maschine zu sprechen.

G. S.: In meinem Verständnis ist die Maschine etwas, was regelmäßig arbeitet, aber du beschreibst genau das Gegenteil: Jeder Atemzug hat seine eigene Länge, seine eigene Tiefe.

C. C.: Mit dem Mikrophon – ein Mikrophon ist ein Mikroskop für den Klang – können wir alle Nuancen entdecken, unter anderem auch etwas, was äußerst „immateriell“ ist. Ich gehe in diese Welt hinein und versuche von da aus, die Sprache der Maschine zu finden. Diese Maschine weist mich auf eine musikalische Kontinuität hin, die ich noch nicht kannte, bevor die Maschine begonnen hat, mit mir zu sprechen. Und das ist der Punkt, an dem das Pathos verschwindet. Ich bin gleichzeitig Beobachterin und Betroffene. Ich kann beobachten und ich darf meinen Abstand behalten. Sobald ich versuche, zu denken: Was sagt es mir? Wohin geht es?, dann ist das der Moment, in dem ich erfinden kann. Ich kann also den Traum von der Maschine träumen und gleichzeitig ist das eine Sache, die außerhalb von mir ist. Es ist genau so, wie wenn ich mit einem Schüler arbeite. Ich kann versuchen, mich in seine oder ihre Welt zu versenken, um zu verstehen: Was ist das ganz Besondere hier, das man behüten soll? – Ich denke, mein Weg ist wichtig und ich habe etwas beigetragen, aber ich denke auch, ich bin nicht die absolut Einzige, mein Weg ist nicht die absolute Wahrheit, sondern nur mein Weg. Es gibt auch bei mir dieses Ego, ich kann das nicht verleugnen, ich bin sehr ambitioniert, ich kann sehr überzeugend sein, weil ich diese sehr klare Selbst-Überzeugung habe, dafür bin ich allen meinen Lehrern sehr dankbar. Aber meine Haltung ist eine andere. Ich brauche die anderen. Um selber zu wachsen, muss ich nicht erobern, sondern ich muss in Interaktion treten. Ich will nicht dominieren, ich will in Interaktion sein. Und das ist eine sehr, sehr große Änderung gegenüber den großen europäischen Komponistenfiguren. Auch als Lehrerin habe ich ein anderes Verständnis: Ich erziehe keine Epigonen, ich bin nicht wichtig im Unterricht, sondern die Studentinnen und Studenten sind wichtig. Und dieses neue Rollenverständnis ist auch in der Zusammenarbeit mit den Interpreten heute sehr, sehr interessant. Das war nicht immer so einfach, aber heute ist es so viel besser. Ich konnte zum Beispiel letztes Jahr mit dem Chor des Südwest-Rundfunks und Yuval Weinberg eine Woche an meinem Stück für Donaueschingen arbeiten [Unhistoric Acts für Streichquartett und Vokalensemble, Anm.]. Das war etwas vom Schönsten, was ich je erlebt habe, weil wir alle zusammen Lösungen gesucht haben. Das dialogische Prinzip: Ich glaube, das ist so eine wichtige Sache in diesen Tagen.

G. S.: In der gemeinsamen Arbeit von Komponistin und Interpreten entsteht ein Miteinander. Es ist nicht so, dass du sagst: So muss es sein. Du fragst: Wie könnte das werden?

C. C.: Genau! Weil wir jetzt gemeinsam – Komponistin und Musiker – gefragt sind. Das Material muss so stark sein, dass du dich selber darin finden kannst. Und nicht nur – wie ich vorhin schon gesagt habe – eine Version ist richtig. Das Material öffnet sich in verschiedene Richtungen, man kann sich Fragen auf vielerlei verschiedene Arten stellen – und sie werden alle stimmen. Jede Frage wird vielleicht eine andere Richtung erläutern. Aber das Wichtigste ist, dass es in der Frage Relationen gibt und eine Vorstellung, die offen genug ist, um alle diese Fragen zu erzeugen …

G. S.: … die Einsicht, dass es nicht die Wahrheit gibt.

C. C.: Es gibt Momente, in denen du hörst und fühlst: Ja, das ist jetzt das absolut und einzig Richtige, es gibt nichts anderes in der Welt. Aber dann kommst du zurück und sagst: Ja schon, aber es gibt ein Morgen. Und morgen ist ein anderer Tag. (lacht) Ich lebe hier sehr stark mit meiner ganzen Überzeugung – und so werde ich es auch morgen machen.

 

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