zurück zur Startseite

Die verlorenen Inseln des Stillen Ozeans

Wenig anderes erscheint den Alpenbewohnern verlockender als die Vorstellung, die engen Täler und Behausungen hinter sich zu lassen, auf den Weltmeeren frei dahinzusegeln und ferne Gestade zu entdecken. Um Enttäuschungen zu entgehen, sollten sie aber besser daheim bleiben. Denn viele der in Seekarten und Atlanten eingezeichneten Inseln gibt es gar nicht. Von Raoul Schrott

Es gibt fernste Inseln und Inseln als Nabel der Welt, Inseln der Stille, wüste Inseln und heilige Inseln, paradiesische Eilande, touristische oder schlichtweg private Inseln, anthropologisch studierte Inseln und jene, auf denen seit jeher unsere Utopien angesiedelt werden, Naturinseln und Inselreiche, die Inseln Robinsons, Calibans oder Tuiaviis – und die Inseln, die es nicht gibt, all die verlorenen Eilande, die nie je entdeckt, einmal und danach nie mehr wieder gefunden oder schlicht erfunden wurden.
Allein der Stille Ozean kennt davon hunderte: von Nameless über Three bis Tree; Independence, Solitary oder Enfant Perdu; Encarnation und Jesus; St. Bartholomew, St. Francisco, Todos Los Santos und Lots Wife; Arthur und Francis, Sarah Anne und Jane; Golconda, Gallego und Los Abrojos („die blinden Klippen“); Philadelphia, New York, ja sogar eine pazifische Insel namens Atlantic. Es sind Inseln, die auf die Spanier zurückgehen, auf amerikanische Walfänger und Guanosucher, auf Forscher, Hochstapler, Seegarnspinner und Seekartenzeichner – und alle fanden sich einmal auf den Admiralstabskarten der Welt eingetragen, Ort und Name markiert, und das über Jahrhunderte.

Manche waren weniger berühmt denn berüchtigt, wie die Gold- und Silberinseln Rica de Oro und Rica de Plata. Zweihundert Jahre lang, nachdem der Papst 1494 die Weltmeere unter Portugiesen und Spaniern aufgeteilt und ihnen je eine Erdkugelhälfte zugesprochen hatte, die Erde aber trotzdem von den Überlebenden der Magellanschen Expedition umsegelt worden war, kannte man den Pazifik bloß als „Spanischen See“. Denn die einzigen Schiffe, die ihn querten, waren Schatzgalleonen, die jährlich Silber aus den peruanischen Minen von Acapulco aus nach Manila brachten, westwärts den Handelswinden folgend.

Die Schiffsbäuche darauf voll chinesischer Reichtümer war die Rückreise jedoch weit beschwerlicher; sie führte gegen die vorherrschenden Winde nordwärts, an Japan vorbei, das allen Fremden verschlossen blieb, dorthin, wo es keine Häfen oder schützenden Inseln gab, die man beim Sturm hätte anlaufen oder von denen man Frischwasser hätte übernehmen können. Und da hörte nun ein spanischer Lotse namens Francisco Gali 1582 von einem Portugiesen in Macao, dass man von zwei Inseln östlich von Japan wüsste, die nicht nur sicheren Ankergrund, sondern auch schier unerschöpfliche Reichtümer besäßen. Ein Schiff, das den Sand um seinen Kombüsenherd mit dem Humus dieser Inseln austauschte, habe diesen bald zu Gold geschmolzen gefunden. So hieß es; und bald begann ein spanisches Schiff ums andere nach ihnen zu suchen. Der Vizekönig von Mexiko beorderte zu diesem Zweck sogar eine Expedition von ihrer eigentlichen Mission – der Kartierung Kaliforniens – ab und schickte sie lieber auf diese Fahrt ins Blaue. Zwei Jahrhunderte dauerte die Suche, deren einzige Folge es war, dass in dieser Zeit jede weitere Erkundung Kaliforniens unterblieb – was mit ein Grund war, weshalb Mexiko alle jemals auf sein Kalifornien erhobenen Ansprüche später so schnell verlor; alles nur Gold- und Silberinseln wegen, von denen erst Kapitän Crespo von der Galeone „El Rey Carlos“ 1801 behauptete, er habe Rica de Plata auf 34° N / 169° O entdeckt. Er tat dies so glaubhaft, dass sie daraufhin in den Karten der Britischen Admiralität eingezeichnet wurde, in Gestalt eines abnehmenden Mondes – und als solches Gestirn am nautischen Kartenhimmel weiter bis in die Atlasse der 1920er Jahre hinein schimmerte.
Auf der Route von Manila nach Acapulco finden sich auch noch andere, bald wieder verlorene Inseln wie La Mira („der Ausguck“), La Desierta („die Unbewohnte“), La Mesa (vielleicht Hawaii, das unter den Wolken so flach wie ein „Tisch“ aussehen kann?), Los Majos („die Hübschen“) und La Disgraciada („die in Ungnade Gefallene“) – nach denen bereits der französische Explorer La Pérouse umsonst Ausschau gehalten hatte. Am Ende dieser Segelstrecke lag dann Donna Maria Laxara. Sie verdankt ihren Namen einer gewissen Maria de la Jara, die aus Verzweiflung über die monatelangen Entbehrungen und Mühsalen der Reise eines Nachts über Bord sprang – worauf die ganze Region als „Friedhof der Maria de la Jara“ bekannt wurde; denn außer ihr kamen dort noch andere illustre Persönlichkeiten ums Leben: vier Gouverneure, weitere vier hohe Kolonialbeamte sowie der Bischof von Troia auf seiner Odyssee zurück in die Heimat.

Bis zum Zweiten Weltkrieg verzeichnete jede Karte nordöstlich der Marianen auch ein Inselpaar namens Los (Buenos) Jardines. Entdeckt wurden sie 1528 von Cortez’ Cousin, Álvaro de Saavedra, auf einer von Zentralamerika – „Neu-Spanien“ – aus entsandten Expedition zu den Molukken. Sie sichtete ein Archipel von zehn flachen Inseln nordöstlich von Neuguinea, irgendwo zwischen dem 8. und 12. nördlichen Breitengrad, deren tätowierte Eingeborene die Seeleute mit Musik und Gesang willkommen hießen und sie mit 2000 Kokosnüssen überhäuften.
1545 wurden sie von Villalobos’ Schiffen erneut angelaufen; danach jedoch setzte lange niemand mehr einen Fuß auf sie. Etwaige Zweifel an ihrem Vorhandensein wurden zwei Jahrhunderte später wieder ausgeräumt – letztlich dank der Amerikanischen Revolution. Hatten die Briten bis dahin ihre Strafgefangenen zur Zwangsarbeit nach Virginia verbringen können, so waren nun die Gefängnisse an der Themse zum Brechen voll mit aufsässigen Iren, Kindern, die eines Nachbars Pferd ohne Erlaubnis geritten oder Brot gestohlen hatten, und bettelnden Arbeitslosen, die sich als Zigeuner verkleidet hatten, um den strengen Landstreicherei-Gesetzen zu entgehen. Um die Zellen zu leeren, wurden an die 700 von diesen armen Kerlen nach Gambia verschifft; über ihr weiteres Schicksal schweigen sich die Akten aus, was wohl heißt, dass alle elendiglich zugrunde gingen. Um der nächsten Sträflingsfracht in den Augen der Öffentlichkeit ein humaneres Los zu bescheren, wählte man deshalb einen anderen Bestimmungsort: und so segelte 1787 die „erste Flotte“ – wie sie die Australier nennen – von Portsmouth nach Port Jackson.
Die menschliche Ladung einmal von Bord gebracht, machten sich diese Schiffe unter Thomas Gilbert und John Marshall hierauf nach Canton auf, um Tee für die Rückreise zu bunkern. Dabei entdeckten sie Inseln, die sie nach sich benannten und die bis heute noch angeflogen werden können. Hierauf jedoch gerieten sie in widrige Monsunwinde; Skorbut brach aus, die halbe Besatzung lag bereits im Sterben und frische Nahrungsmittel waren vonnöten: also hielt man sich an die alten spanischen Karten, wechselte den Kurs und suchte eine Woche lang nach dem vermeintlichen Garten Eden der Buenos Jardines inmitten des Stillen Ozeans. Sollten sie je dorthin gelangt sein, so haben Gilbert und Marschall es jedenfalls klugerweise für sich behalten. Einzig den später publizierten Logbüchern ist es zu verdanken, dass sie sich weiter auf den Karten hielten, dabei aber weit hinauf nach Norden wanderten, zu den 16 Gilbert-Inseln. Denn einen zwischen 22° Nord und 150° West ersichtlichen Kurswechsel interpretierten die Kartographen als Beweis für die Existenz der Los Jardines in dieser Region; folglich hielt sich dieses Inselpaar weiterhin auf den Seekarten der westlichen Welt.

Noch Ende des 19. Jahrhunderts lagen dem Hafenmeister in Honolulu etliche Berichte von Walfängern vor, die behaupteten, dort an Land gegangen zu sein. Als dann aber 1933 die „USS Ramapo“ an der angegebenen Position (21° 35' N / 151° 42' O) Echo-Lotungen vornahm, stieß sie in nur zwei Kilometer Meerestiefe auf einen Doppelgipfel – worauf man darauf schloss, dass die „Guten Gärten“ inzwischen in den Fluten versunken sein mussten wie weiland Atlantis, allen geologischen Erkenntnissen zum Trotz.
Offiziell für verloren erklärt wurden diese Inseln erst 1972 von jener Stelle, die heute für das Kataster der realen Inseln auf dieser Welt zuständig ist: dem Internationalen Hydrographischen Institut in Monaco, das Pierre Grimaldi, Herzog von Valentinois und der Großvater der monegassischen Klatsch- und Tratschprinzessinnen, gegründet hatte. Es erhielt einen Brief des damaligen japanischen Chefhydrographen, der Stein auf Bein schwor, dass es Los Jardines trotz aller reichhaltig ausgeschmückten Geschichten nicht geben könne, ja nie gegeben habe. Da bis dato die meisten Atlasse diese Inseln japanischem Hoheitsgebiet zugeschlagen hatten und keine andere Nation auf sie Anspruch erhob, schenkte man ihm Glauben und tilgte sie aus dem offiziellen Verzeichnis.
Dabei steht inzwischen fest, dass es beide Garteninseln wirklich gibt – sie aber aus anderen Gründen nicht mehr betreten werden sollten. Los Buenos Jardines waren höchstwahrscheinlich jene beiden Atolle, die der von Saavedra ursprünglich angegebenen Position am nächsten liegen und deren einheimische Namen „Oberfläche voller Kokosnüsse“ und „Landstreifen“ heißen: Bikini und Enewetak. Auf ihnen führten die Amerikaner Kernwaffentests durch; und wenn es mit dem Klimawandel so weitergeht, werden sie, wie viele andere Inseln im Pazifik, bald ganz unter dem Meeresspiegel liegen.

Das Öl für die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts lieferte der Walfang (die Investitionen in die amerikanische Walfängerflotte machten ingesamt die Höhe des staatlichen Haushaltsbudgets aus). Im Zuge dieser kommerziellen Exploration wurden nicht nur die Ellice-Inseln, die Tuamoto-Gruppe oder die Marquesas entdeckt, nein – es häuften sich die Berichte über weitere Inseln so sehr, dass 1828 ein Komitee des Weißen Hauses eingesetzt werden musste, um sich darüber einen Überblick zu verschaffen und eine Liste anzulegen, die wiederum über einen Umweg zustande kam, der so kurios war wie alle Irrfahrten, auf denen man Inseln entdeckt, nur um sie wieder aus dem Blick zu verlieren.
Denn damals befand sich gerade John Cleves Symmes auf einer Vortragstour durch die Staaten, um seine Hohle-Welt-Theorie vorzustellen, derzufolge man durch riesige Löcher bei den beiden Polen in eine bewohnbare innere Erde gelangen könnte. Das regte einerseits Edgar Allan Poe zu seinen Denkwürdigen Erlebnissen des Arthur Gordon Pym an, begeisterte andererseits aber auch einen Reporter aus Ohio, der daraufhin in seiner Zeitung eine „U. S. Exploring Expedition“ forderte – zu deren Vorbereitung dann eine Übersicht über die 200 verzeichneten Inseln des Pazifiks zählte.
Von den meisten in dieser Zusammenstellung angeführten Inseln findet sich heutzutage keine Spur mehr, nicht einmal von jenem American Group genannten Archipel zwischen Hawaii und Panama, das Bocca Perda, Roca Coral, Eclipse, Sultan, Bunker und die New Islands umfasste. Was auf der Karte nach der Prophezeiung eines modernen Lunaparks klang, forderte jedoch seine ersten Opfer, als auf der „Hornet“ ein Eimer Lack ausrann, der sich entzündete und den Klipper zu einem Inferno der Flammen werden ließ. Das Rettungsboot, das nur über Proviant für zehn Tage verfügte, nahm Kurs auf die American Group, musste nach fruchtloser Suche aber schließlich umkehren in Richtung Hawaii, 1200 Seemeilen und 43 Tage weit entfernt, was begreiflicherweise nicht alle überlebten.

1839 stürzte irgendwo im Stillen Ozean ein Waisenknabe aus dem Krähennest seines Walfängers aufs Deck, flehte im Sterben aber seinen Kapitän an, ihn nicht bloß in seine Hängematte zu nähen und mit einem Gebet über Bord zu werfen, sondern ordentlich an Land zu begraben. Er erfüllte ihm die Bitte und lief die nächste Insel an, die am Horizont auftauchte – unbekannt und unbenannt, wie sie war, trug er sie unter dem Namen dieses Waisenknaben in die Karten der Meere ein: Sie heißt noch heute Baker. Beim Ausheben des Grabs jedoch stieß er auf eine dicke Schicht Guano – jenen Vogelmist, den Humboldt auf den peruanischen Chincha-Inseln als Dünger für die Landwirtschaft der westlichen Zivilisation entdeckt hatte und der erst viel später von den Phosphaten abgelöst werden sollte.
Damit machte Baker auch die ringsum liegenden Inseln als Amerikanisch Polynesien zu einem Begriff und verhalf den Vereinigten Staaten nicht nur zu einer sich entwickelnden chemischen Industrie, sondern auch erstmals zu einer Rolle als Großmacht auf der imperialistischen Bühne. Eine „U. S. Guano Company“ wurde gegründet – und diese wiederum griff auf die überarbeitete Liste all der pazifischen Inseln zurück, die sie in der New York Tribune veröffentlichte, um der Welt vor Augen zu führen, auf welche pazifischen Inseln Amerikas wirtschaftstreibende Bürger Anspruch erhoben. Dass davon damals die Hälfte schon als für alle Ewigkeit verloren gelten konnte, tat diesem Kalkül keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Ihr Umfang sollte unterstreichen, wie groß die amerikanische Einflusssphäre geworden war; überdies waren auf ihr nicht wenige Gradangaben gezielt verfälscht, um den europäischen Konkurrenten eine Besitzergreifung zu erschweren.
Das führte schließlich dazu, dass sich ein gewisser W. L. Crowther um eine offizielle Guano-Lizenz für Teinhoven, Roggewein und Bauman bewarb, Inseln, die – bereits 1721/22 von den Holländern entdeckt – auf allen Karten verzeichnet waren. Er zahlte zwar die entsprechenden Gebühren, war dann aber vier Jahre erfolglos auf der Suche nach ihnen: worauf die Autoritäten ein Einsehen zeigten und großzügig auf die zu erhebende Pacht verzichteten.    

Dieser noch vor dem Goldrausch einsetzende amerikanische Insel-Rausch beförderte solche Abenteurer wie den notorischen Kapitän Benjamin Morrell, der gerne ein zweiter Cook geworden wäre. Doch statt Eintragungen im Logbuch vorzunehmen, saß er lieber in seiner Kabine und exzerpierte Reiseberichte. Am liebsten jedoch malte er seinen Schiffseignern alle Reichtümer dieser Welt auf geheimen, nur ihm bekannten Eilanden voller Bodenschätze aus – um dann bei der Rückkehr mit leeren Händen dazustehen. Seine phantasievollen Geschichten kauften ihm zwar die Reeder nicht ab – denen er Verluste von 300 000 Euro nach heutigem Wert beschert hatte –, sondern, reich illustriert und in Buchform präsentiert, ein gutgläubigeres Leserpublikum: wodurch er für seine nächste Erkundungsfahrt erneut Sponsoren und Gönner lukrieren konnte.
Zu diesem gesponnenen Seemannsgarn zählte nicht nur seine Beteuerung, er habe vor einer lang verlorenen, doch auf allen Karten eingezeichneten Insel wie Byers Anker geworfen, sondern auch die Entdeckung einer Insel, der er seinen Namen gab, ohne dass auch sie seitdem je wiedergesehen worden wäre:

Um 4 Uhr morgens sahen wir Brecher voraus; wir hielten nach Norden; das Meer war vollkommen glatt – und so liefen wir zwei Stunden lang einem 14 Seemeilen langen Riff entlang, bis wir Land sahen, eine flach liegende Insel, über und über mit Seevögeln bedeckt, und Stränden, auf denen sich die Seelöwen tummeln, während ringsum Suppen- und Seeschildkröten schwimmen. Die Insel liegt auf 29° 57' N / 174° 31' O; sie zeigt alle üblichen Merkmale vulkanischen Ursprungs …

Worauf er sie wieder „ihrer Einsamkeit“ und allen treugläubigen Kartographen überließ, die sie denn auch unter dem Namen Morrell auf ihren Karten hielten und bis 1910 sogar die Datumsgrenze um sie herum verlegten, damit sie in den Genuss derselben Mittagsstunde wie auf Hawaii käme. Zuletzt sehen konnte man sie in 5 mm großen Buchstaben auf den Globussen der Münchner IRO Kartographischen Verlagsgesellschaft, die in den 80er Jahren noch in allen Lufthansa-Büros und in der Lobby vieler Hilton-Hotels standen; außerdem finden sich auf ihnen noch fünf weitere verlorene Inseln aufgedruckt.

Woher all diese Inseln? Zum größten Teil sicherlich daher, dass die Ortsbestimmung bis zur Erfindung exakter Chronometer äußerst ungenau war: Bis Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in ein Logbuch nur geographische Breite, Kurs und zurückgelegte Strecke eingetragen – erst der Kartograph zuhause versuchte aufgrund dieser Daten auch den Längengrad zu bestimmen. Teinhoven, Roggeveen und Baumann sind deshalb wahrscheinlich die nach Osten versetzten Samoischen Inseln; und aus demselben Grund verläuft wohl auch eine sich von Nord nach Süd erstreckende Kette verlorener Inseln – Moor, Group, Guadeloupe, Margaret, Tree – fünf Längengrade östlich von Japan, den Bonins und den Volcano Islands.
Von den Fehlern in der Positionsbestimmung, Kartierung oder Typographie abgesehen, waren etliche auch frei erfunden. Dazu gehört wohl auch Onaseuse oder Hunters Island, nordwestlich von Viti Levu. Sie tauchte 1823 an der Kimm auf, ganz aus Lava und stellenweise aus blankem Metall. Ihr Entdecker, Kapitän Hunter, berichtete, dass die Eingeborenen Kriegskeulen und 40 Fuß hohe Speere trügen, jedoch äußerst friedfertig wären. Alle hätten den linken kleinen Finger am zweiten Glied abgeschnitten und die Frauen dazu, als Schönheitszeichen, durchbohrte Wangen – ein Brauch, der sonst nirgendwo im Pazifik so zu finden ist. Ist sie untergegangen und zur Untiefe der 1856 entdeckten Balmoral-Bank geworden? Wahrscheinlicher ist, dass Hunter sich damit wie Morell selber ein fiktives Denkmal setzen wollte.
Einige dieser Inseln gingen auf jene Kapitäne zurück, deren Schiff auf ein Riff aufgelaufen war und die dann – der Versicherung wegen und um alle Schuld von sich abzuwälzen – behaupteten, sie hätten auf einer unkartierten Insel Schiffbruch erlitten. Dann wiederum gibt es Inseln, welche die kartographischen Anstalten einzig deshalb auf ihre Karten setzten, um die Konkurrenz der Kopie überführen zu können. Und nicht zuletzt ist da jene, die als poetische Hommage an eine Geliebte darauf eingetragen wurde: Das war „die Insel der Frau des Kartographen“.    
Doch was ist mit Tuanahe, einem Archipel dreier Korallenatolle zweihundert Meilen südlich von Rarotonga in der Cook-Gruppe? Den unerschütterlich die Notdurft ihrer Nächstenliebe verrichtenden Missionaren wurde überall von Tuanahe und den Menschen auf ihr erzählt: dass sie die gleiche Sprache sprächen, die gleiche Nahrung zu sich nähmen, die gleiche Kleidung trügen und sie sich mit den gleichen Palmblättern zufächelten wie all die armen Heiden hier auch, ja, dass die Eingeborenen dort bereits gehört hätten, dass der Irrglaube in Rarotonga überwunden worden sei, und sie nun ihrerseits sehnlichst darauf warteten, dass Missionare ihnen den rechten Weg zeigten, weshalb diese sich doch am besten jetzt dorthin aufmachen sollten. Als die Missionare dann aber an Bord gingen, um sie zu suchen, im Jahre 1844 und zuletzt noch 1916, da war diese Insel samt ihrer ungeduldig die christliche Taufe erwartenden Bevölkerung plötzlich im Stillen Ozean untergegangen …
Belegbar ist einzig, dass manche Inseln vulkanischen Ursprungs auftauchen und wieder im Meer versinken. Von Falcon Island in der Tonga-Gruppe (20° 19' S / 175° 25' W) sah man 1865 nur ein Riff in der Brandung. 1877 stieg dort bereits nur mehr Rauch aus den Wellentälern auf; 1885 erhob es sich wieder über die sonst so langmütig blaue See, war 1889 aber zu zwei Dritteln wieder erodiert, sodass man 1894 nur mehr einen schwarzen Felsstreifen sah, der sich nachts nicht mehr vom Dunkel über den Wassern abhob. Am 21. Dezember 1894 jedoch kam es zu einer Eruption und die Insel stieg sage und schreibe 17 Meter über den Meeresspiegel an – wurde 1898 aber wieder zu einer Untiefe, die nur eine harte Brandung verriet. 1921 blieb nur noch eine schmale Felsspitze in einem Meter Tiefe übrig, der Meeresgrund ringsherum überall aufgerissen, wie die Perlentaucher berichteten. Es heißt, der König von Tonga habe sein Herz so sehr an diese Insel gehängt, dass er – als sie das nächste Mal Anstalten machte, unterzugehen – Beton auf diese unterseeische Spitze habe gießen lassen; und dass er sich eine eigene Zeremonie für die Re-Annexion der Insel ausgedacht habe, sobald sie wieder aus den Fluten steigt.

Es gibt Archipele und Atolle, Inseln des Lichts und des Sommers, die Welt, wie sie in der Antike eine Insel im Ozean war, und die Erde, wie sie heute eine Insel im All ist; es gibt verlassene und unbewohnte Inseln – seit einem Jahrhundert jedoch gibt es keine unentdeckten Inseln mehr: Es wird sie nie mehr geben, genauso wenig, wie die heute verlorenen Inseln noch in den Karten geführt werden. Was jedoch weiterhin existieren wird, zumindest solange es noch Leser gibt, sind imaginierte Inseln. Und jene Inseln, die vielleicht bloß einer optischen Illusion entstammen, wie folgender Eintrag ins Logbuch glauben machen könnte:
Frische Brise von NW mit starken Böen. Schwere See. Eisregen erst, dann Schneetreiben. Erster Offizier meldet aufgeregt Land in Sicht. Ich renne an Deck, der Bootsmann ist vom Ausguck herab und berichtet von tiefliegendem Land und Brandung und drei Landspitzen an Steuer- und an Backbord. Ich lasse Ruder herumwerfen, sehe durch mein Fernglas jedoch nur weiß schäumende Wogen. Einige Seevögel, aber niedere Wolken und waagrechtes Schneetreiben verhindern eine bessere Sicht. Nach zweieinhalb Meilen S bei W gehe ich wieder auf alten Kurs. Himmel klart etwas auf, aber von der Insel ist nichts mehr zu sehen. Die Besatzung behauptet, die Insel deutlich gesehen zu haben. Dachte, dass es die Insel gewesen sein müsste, nach der schon John Rodgers gesucht hat. Hatte gehofft, eine Entdeckung gemacht zu haben. Nehme man jetzt aber an, es waren nur die schneeigen Böen; schwarze Cumuli, tief über dem Wasser.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.