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„Die Welt ist in Ordnung, wenn wir singen.“

Johannes Stecher leitet seit 32 Jahren die Wiltener Sängerknaben in Innsbruck und formte im Laufe der Jahre einen der renommiertesten Knabenchöre Europas. Ein Besuch von Ina Tartler.

Anfang März 2023. Es ist ein sonniger Nachmittag. Väter und Mütter eilen mit ihren Kindern zur Chorprobe in die Leopoldstraße 7. Ich folge ihnen in den neuen Proberaum der Wiltener Sängerknaben über der ENI-Gutmann-Tankstelle gleich neben dem Stift Wilten. Um die zwanzig Buben warten mit ihren Eltern, dass endlich die Türe aufgeht. Aufgeregt drehen sie an den Stangen der beiden Tischkicker. Die Kleinsten sind gleich dran, sie sind fünf, sechs und sieben Jahre alt, manche gehen sogar noch in den Kindergarten. Dann endlich dürfen sie hinein. Chorleiter Johannes Stecher begrüßt sie freundlich, er nennt die Kinder beim Namen, er kennt ihre Geschichten. „Wer ist heute gern auf die Chorprobe gekommen?“, fragt er. Alle Buben heben die Hand. Der Chor zählt heute 185 Mitglieder; seit 2021 baut Johannes Stecher mit seinem Team den Mädchenchor Wilten auf.

Ina Tartler: Wenn Sie an die ersten Tage als Chorleiter der Wiltener Sängerknaben denken – was ist Ihnen in Erinnerung geblieben?

Johannes Stecher: Als ich 1991 die Chorleitung übernommen habe, waren aus dem Konzertchor noch drei Buben und ein paar Kleine übrig. Ich bin dann gleich zum Werben in die Schulen gegangen und es haben sich über vierzig Kinder angemeldet, alles Anfänger. Es war seitens der Öffentlichkeit eine gewaltige Erwartungshaltung da, ich habe aber immer gesagt: Ich kann nichts anderes machen, als mit diesen Kindern liebevoll und geduldig zu singen. Ich glaube nämlich, wir müssen einfach die Tätigkeit an sich lieben. Das Proben, das Singen, das Atmen, das Hören, wir lieben es und finden Erfüllung darin, sowohl als Lehrpersonen als auch als Chormitglied. Wenn man anfängt zu stressen oder Druck auszuüben, bringt das nichts. Positiv ist nur, wenn wir in Ruhe den Moment lieben: Jetzt singen wir, jetzt musizieren wir ein schönes Lied.

I. T.: Welche Vision hatten Sie im Hinterkopf, als Sie mit 26 Jahren den Chor übernommen haben?

J. S.: Natürlich wünscht man sich, dass der Chor wunderschön klingt, dass es tolle Konzerte gibt. Man wünscht sich, dass man schöne Chorliteratur machen kann, die einem selber auch gefällt, die erfüllend ist und Niveau hat. Niveauvolles Musizieren mit Kindern und Jugendlichen, das war mein Ziel. Um Chormitglieder zu motivieren, könnte man zum Beispiel schon sagen: „Wir machen nächstes Jahr die e-Moll-Messe von Bruckner, die ist so toll, bitte bleibt alle dabei.“ So denken Kinder aber nicht. Das ist viel zu weit weg. Das Jetzt ist wichtig. Was tun wir jetzt? Und wie singen wir jetzt? Und macht diese Chorprobe jetzt Spaß oder nicht? Kinder sind viel mehr in der Gegenwart, sie sind einfach da. Und auf das habe ich mich eingelassen. Die besten Lehrer für mich waren die Kinder. Dasein. Jetzt. Jetzt etwas Sinnvolles machen, jetzt an der Stimme arbeiten. Ein Schritt ergibt dann den nächsten. Ich bin keine Person, die sich intellektuell ausmalt, wo sie in zehn Jahren sein will. Ich kann das eigentlich gar nicht, es kommt sowieso anders.

I. T.: Inwiefern sind Kinder Ihre besten Lehrer?

J. S.: Kinder spüren sehr vieles und bringen Dinge gut auf den Punkt. Ich lasse mich von den Kindern und Jugendlichen wirklich auch führen, von dem, wie sie reagieren, was sie sich wünschen, wie sie klingen. Wenn sie heute Freude haben und einen stimmlichen Fortschritt zeigen, dann war in der letzten Probe etwas gut und richtig. Führung hat bei mir aber auch den Aspekt der Spiritualität. Ich glaube, dass es eine Führung gibt, die von anderswo herkommt. Ich kann das nicht konkretisieren und beweisen, ich glaube, das zu spüren. Und wenn ich mich darauf einlasse, läuft es am besten. Ich denke, dass der Aspekt der Intuition häufig unterschätzt wird. Wenn ich eine gute Idee habe, dann ist das meistens draußen auf dem Acker oder beim Joggen – oder aber sie ergibt sich im Gespräch mit den Kindern.

Johannes Stecher gilt als einer der besten Gesangspädagogen Österreichs. Er beginnt früh am Morgen seinen Tag, bringt die Enkelin in die Kinderkrippe. Dafür braucht er eine halbe oder dreiviertel Stunde, je nachdem wie viel sie unterwegs sehen. Sie besuchen die Schafe und Ziegen, die Kälbchen und Hennen, sie sehen die Baustelle wachsen, die Pflanzen austreiben und die Pfützen am Wegesrand. Und sie singen Lieder beim Gehen. Zurück nach Hause joggt Johannes Stecher, um den Kopf frei zu kriegen, der Chor sei organisatorisch ein Riesending geworden. E-Mails, Finanzierung, Sponsoren, die Betreuung der sozialen Medien, er stemmt vormittags mit seiner Frau das ganze Management. Anschließend fährt er los zum Unterricht, der wochentags um 12.30 Uhr beginnt und bis 21.30 Uhr ohne längere Pause durchgeht. Um 22 Uhr ist er wieder zuhause und bearbeitet E-Mails, die im Laufe des Nachmittags in seinem Postfach eingetroffen sind. Außerdem hat er ein Feld, vielleicht ein halbes Hektar groß, wo er verschiedenste Gemüse- und Obstsorten anbaut. Er hat sogar Hochbeete angelegt mit Erdbeeren, Salat, Kresse und Radieschen. Johannes Stecher empfindet die Pflege des Felds nicht als Arbeit, sondern einfach als wunderschön.

I. T.: Inspiriert Sie Ihre Arbeit in der Natur für die Chorproben?

J. S.: Man muss sowohl in die Arbeit am Feld als auch in die Chorprobe ganz viel Energie einbringen, als Chorleiter sowieso, aber auch als Sänger. Man ist danach zwar ausgepowert, aber mit einer anderen Energie aufgeladen. Singen tut dem vegetativen Nervensystem gut. Man kommt in die Balance durch das Singen, durch das bewusste Atmen, durch das Verlängern der Ausatmung. Das wirkt ausgleichend wie die Arbeit in der Natur. Ein Sängerknabe muss ruhig werden, um richtig zuhören zu können. Das geht nur, wenn die Kinder Bewegung machen, Kontakt zur Natur haben und in einer gesunden Balance sind. Deswegen lasse ich sie in den Chorproben auch hie und da am Stand laufen oder Spaß machen. Im Ferienlager machen wir zwischendurch Sport, spielen Fußball, machen Siebenkampf oder Wimpeln im Wald. Wenn man sich bewegen kann, wenn man um sich Natur hat, fällt es einem viel leichter, ruhig zu werden und zuzuhören. Ein bisschen zu sich zu kommen, sich zu spüren. Dann wirkt Intuition, dann kann man sich konzentrieren, ist aufnahmefähig. Man darf von den Kindern auf keinen Fall nur Stille und Konzentration verlangen, sondern es braucht genauso das Spielen, das Auspowern, das Lebendig-sein-Dürfen, die Natur. Aber dann, wenn es um etwas geht, muss man in der Lage sein, sich zu fokussieren. Das den Kindern zu vermitteln, ist eine wunderschöne Aufgabe.

I. T.: Kann eigentlich jedes Kind Sängerknabe / Mitglied des Mädchenchors werden?

J. S.: Ja – wenn sie zwischen drei und sieben Jahren zu uns kommen; danach wird es schwieriger. Manchmal kommen Interessenten, die schon dreizehn oder fünfundzwanzig sind, und wollen mittun, dafür bin ich schon auch offen. Das Ganze ist dann – weil wir zum Konservatorium gehören – mit einer Aufnahmeprüfung verbunden und deshalb meistens schwierig. Aber in dem vorher erwähnten zarten Alter kann man das Singen hundertprozentig lernen, so wie eine Fremdsprache. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch Begabungsunterschiede gäbe. Es gibt Kinder, die singen alles nach Gehör blitzsauber nach, tun sich aber schwer mit dem Singen nach Noten. Andere wiederum gehen intellektuell an die Sache heran, lernen vielleicht ein Instrument, lernen das Singen nach Noten, tun sich aber schwerer, große Werke auswendig zu singen. Man muss versuchen, die Kinder dort einzusetzen, wo sie gut sind, und für jedes eine Aufgabe finden, die es meistern kann und wo es sich auch gut dabei fühlt.

I. T.: Warum lassen Sie in der allerersten Chorprobe die Kinder ihre Namen singen?

J. S.: Das mache ich nur in den ersten zwei Chorproben, um die Kinder kennenzulernen. Ich muss ja die Namen lernen und einfach einmal die Stimmen hören. Es ist auch okay, wenn ein Kind seinen Namen nur sagt. Dann singe ich vielleicht den Namen „Josef“ und frage: „Wer mag seinen Namen noch singen?“ Zwei, drei Mutige melden sich immer. Dann sage ich: „Was du für ein toller Bub bist, vor vierzig anderen legst du einfach los. Und so eine schöne, klare, hohe Stimme hast du. Wer mag noch?“ Eigentlich wollen die meisten, und es kann sein, dass einer irgendwie ganz komisch seinen Namen singt und die anderen lachen. Dann sage ich gleich: „Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht mit Lachen, wenn jemand sich äußert.“ Findet die Person das selber auch lustig? Auslachen darf man niemanden, der singt oder sich äußert. Ich lege Wert darauf, dass wir alle versuchen, dem Vorsingen oder Sich-Äußern eines Kindes positiv zu begegnen, es ernst zu nehmen und wertzuschätzen.

I. T.: Wie wichtig ist es, als Chorleiter ein guter Pädagoge zu sein?

J. S.: Wenn Kinder boxen wollen und man als Erwachsener wie ein Vorhang ist, der einfach nachgibt, macht das keinen Spaß. Wenn man sich aber wie ein Boxsack verhält, der Widerstand leistet, der eine Grenze aufzeigt, an der das Kind sich auch orientieren kann, kann das etwas ganz Positives sein. Kinder wollen eine Grenze, eine Linie haben. Da fühlen sie sich dann wohl, aber es muss gerecht sein, es müssen sich alle auf Regeln einlassen, die auch von allen gutgeheißen werden. Im Wesentlichen ist es wirklich wichtig, dass, wenn Kinder folgen und Disziplin lernen sollen, sie verstehen müssen, warum, und dass sie das akzeptieren und selber wollen. Wenn sie es auf Dauer nicht wollen, kann man es vergessen. Kinder sind übrigens viel strenger untereinander als ich mit ihnen. Also, wenn da ein Kind in einer Chorprobe oder in einem Konzert nicht brav ist, wird es von den anderen dafür schon kritisiert.

I. T.: Wie entdecken oder fördern Sie die Begabung der Kinder?

J. S.: Kinder singen bei mir in der Chorprobe grundsätzlich nicht falsch. Wenn ein Kind die Töne gerade nicht trifft und ein bisschen brummelt, kann es schon sein, dass ich frage: „Wer brummelt heut’ zu tief?“ Aber ganz positiv. Dann lasse ich die Kinder einzeln probieren und spiele zum Beispiel ein „b“ am Klavier und sie singen das „b“ nach. Wenn ein Kind den Ton nicht trifft, sage ich nicht, das war falsch, sondern spiele am Klavier genau den Ton des Kindes und sage: „Sing ihn noch einmal.“ Dann singt das Kind ihn noch einmal. Und ich sage: „Schau, du hast genau den Ton vom Klavier, du hast ein gutes Gehör.“ Ich aber habe reagiert auf den Ton des Kindes. Sonst hat das Kind immer das Gefühl, es kann das nicht. Das korrespondiert mit meiner Überzeugung, dass man Kinder „begaben“ soll. Ich versuche, sie so zu nehmen, dass sie das Gefühl haben: Ich kann das, ich bin in Ordnung. Auf jeden Fall kann ich es lernen. Man darf nicht einfach von Begabungen, die vorhanden sind, ausgehen, sondern muss versuchen, dazu beizutragen, dass eine Begabung entsteht oder sich jedenfalls verstärkt.

I. T.: Wie ist der Chor der Wiltener Sängerknaben aufgebaut?

J. S.: Im ersten Jahr singen die Kinder in Chor V, im zweiten in Chor IV, im dritten in Chor III. Ab dem vierten Jahr erhalten sie dann die Tracht und singen zwei Jahre lang in Chor II, diesen nennen wir auch Repertoirechor. Ab dem sechsten Jahr singen sie im Konzertchor, das heißt in Chor I. Die Kinder steigen einfach so auf. Im Kammerchor singen ausgewählte Sänger, die Lust haben, eine Stunde mehr pro Woche zu proben. Das sind die besten Sänger, das heißt ca. 15 Soprane, 15 Altisten, 12 Tenöre und 18 Bässe, das sind insgesamt an die sechzig Personen. Wenn ich nämlich ein Projekt plane, muss ich wissen, wer dann überhaupt noch dabei ist, denn mit 25–30 Jahren scheiden die Männerstimmen langsam aus. Ich muss außerdem damit rechnen, dass jemand in den Stimmwechsel kommt oder vielleicht auf Urlaub ist. Es braucht immer genügend Ersatzmöglichkeiten. Wenn wir beispielsweise die Rolle des Oberto in Händels Oper „Alcina“ mit Cecilia Bartoli am Teatro del Maggio Musicale Fiorentino vorbereiten, lerne ich die Partie mit vier Solisten, man weiß eben nie.

I. T.: Was erleben die Kinder Ihrer Meinung nach beim Singen?

J. S.: Bei den Kleinen läuft vieles unbewusst ab. Sich-Spüren oder Sich-spüren-Lernen sind wichtige Stichworte. Sich-selber-Wahrnehmen als Instrument, das schön klingt, auch als Teil einer Gruppe, die miteinander etwas Schönes erreicht. Kinder freuen sich, wenn sie das Gefühl haben, dass sie in Ordnung sind. Wenn die Stimme klingt, ist das ja etwas sehr Persönliches, und wenn eine positive Rückmeldung kommt, bedeutet das eine große Freude für die Kinder. Ich gebe am Anfang nie einen negativen Kommentar ab, selbst wenn etwas in der Chorprobe beim Vorsingen nicht optimal läuft. Man kann immer noch sagen, dass der Text sehr gut war, dass der Rhythmus eigentlich auch ganz gut gepasst hat und die Haltung, vorne zu stehen, auch schön war. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Kinder besser gelaunt aus der Chorprobe hinausgehen, als sie hereinkommen. Das ist jedenfalls die Rückmeldung, die ich von den Eltern bekomme. Es gibt Kinder, die manchmal in der Schule im Unterricht sitzen, etwas schreiben und ein bisschen singen. Manche müssen sogar eine Strafaufgabe schreiben, weil sie nicht aufgehört haben zu singen. Sie merken es einfach nicht. Singen wirkt beruhigend. Die Kinder bringen Singen mit einem Wohlgefühl in Verbindung: Die Welt ist in Ordnung, wenn wir singen.

I. T.: Wie umfangreich ist inzwischen das Repertoire der Wiltener Sängerknaben?

J. S.: Wir singen niveauvolle Chormusik, aber auch authentische Volkslieder in Tiroler Dialekt, klassische Chorliteratur quer durch die ganze Musikgeschichte, von der gregorianischen bis zur zeitgenössischen Musik, mit Schwerpunkt auf Barock und Klassik. Ein großer Teil davon ist geistliche Chormusik. Wenn jemand schon zehn Jahre bei den Wiltener Sängerknaben dabei ist und die großen Werke schon ein paar Mal gesungen hat, hat dieser Jugendliche auswendig viele Stunden Musik im Kopf.

I. T.: Verstehen Kinder und Jugendliche die Inhalte der geistlichen Chorliteratur?

J. S.: Ich versuche immer Gedanken der Religion, der Toleranz, der Menschenrechte, des gegenseitigen Respekts einzubringen. Nirgends sind wir in der Ökumene so weit wie in der Musik, kommt mir vor, ganz egal, ob der Komponist orthodox, katholisch, protestantisch war oder Atheist ist. Wir singen gute Chormusik und klären offene Fragen. Oder wir singen ein Lied aus China und reden über andere Mentalitäten und Kulturen. Wir singen Schubert und Schumann, wir singen Brahms und kommen quer durch die Literaturgeschichte mit Texten und Gedichten in Verbindung. Es ist doch schon irrsinnig bereichernd, wenn man nur ein einziges gutes Gedicht singen und verstehen kann.

I. T.: Kann man durch das Singen ein anderer Mensch werden?

J. S.: Ich glaube, dass es nicht zu hundert Prozent so ist, dass man durch das Musizieren im Allgemeinen ein anderer oder besserer Mensch wird, aber ich glaube schon, dass die Chance dazu besteht, wenn wir das Singen und Musizieren in Verbindung bringen mit Herz, mit menschlichen Werten unseres Zusammenlebens, mit Demokratie, Gleichberechtigung, Emanzipation, mit Toleranz anderen Religionen gegenüber, anderen Geschlechtern. Diese Themen finden wir in der Musik die ganze Zeit. Wir haben auch im Chor Kinder, die afrikanische, asiatische, russische oder ukrainische Eltern haben oder aus Lateinamerika stammen. Es ist ganz wichtig, dass wir eine große Familie sein können und uns alle mit Toleranz und Respekt begegnen. Auch wenn man eine andere sexuelle Orientierung hat, darf das keine Rolle spielen. Wenn wir Meisterwerke musizieren, so waren das geniale Menschen, die das komponiert haben, große Humanisten, denen wir nachspüren und von denen wir uns inspirieren lassen.

I. T.: Wie nähern sich die Kinder und Jugendlichen Bach, Bruckner oder Arvo Pärt an?

J. S.: Es gibt verschiedene Herangehensweisen an Musik: Man kann sie intellektuell analysieren oder aus dem Bauch heraus empfinden, man kann fast wie in Trance einfach mittun und eigentlich gar nicht wissen, wie einem geschieht. Manche Kinder sehen Farben oder träumen von Geschichten, während sie singen. Das ist bei jedem Kind verschieden, und ich bewerte das nicht. Wenn jemand sagt: „Mir gefällt das ,Magnificat‘ von Arvo Pärt so gut“, dann lobe ich natürlich und sage: „Du hast aber einen tollen Geschmack. Das ist wirklich ein Meisterwerk, eine geniale Komposition.“ Und um solche Chorliteratur zu lieben, muss man schon sehr weit drinnen sein in der Musik und auch mit Ruhe zuhören können. Und wenn andere daneben sitzen und nichts sagen zu Arvo Pärt, dann sagen sie eben nichts. Sie finden das ganz okay, sind aber vielleicht Fans von Bach. Manchmal lernen sie Musik erst im Laufe der Zeit lieben!

I. T.: Was ist nun ganz konkret Ihr Konzept der Stimmbildung?

J. S.: Was die Stimmbildung anlangt, hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein Konzept entwickelt, das sehr erfolgreich ist. Ich achte zum Beispiel darauf, dass alle Register der Stimme gepflegt werden. Es gibt die Bruststimme unten, die Kopfstimme in der Mitte, das Falsetto oben, all diese verschiedenen Lagen gehören gepflegt. Es wäre ein schwerer Fehler, wenn man ein Kind nur in der Bruststimme singen lassen würde, weil es eine gute Tiefe hat. Auch die Altisten singen bei uns immer wieder hinauf bis zum hohen C und singen von oben nach unten. All diese Register müssen gepflegt und miteinander verwoben werden. Ich schaue darauf, dass Zwerchfell und Kehlkopf ganz natürlich miteinander korrespondieren, das ist unter anderem das Thema Vibrato, das heißt, die Kehle, der Kehlkopf muss tief sein, muss gekippt sein, und das Zwerchfell und der Kehlkopf schwingen miteinander in einem Regelkreis. Auch bei Kindern gibt es ein Vibrato, ein wie von selbst natürlich entstehendes. Ich achte darauf, dass sie einen richtig guten Stimmschluss haben, dass also keine Stimme luftig klingt. Denn wenn sie das als Kinder machen, haben sie als Erwachsene auch luftige Stimmen. Stimmschluss bedeutet, dass im Kehlkopf Muskeln arbeiten müssen, die die gesamte Luft, die von unten kommt, ausschließlich in Klang verwandeln. Es darf keine hörbare, wilde Luft dabei sein, das würde die Stimmen rau machen.

I. T.: Wie gehen Sie mit dem Stimmwechsel der Knaben um?

J. S.: Wenn man mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen arbeitet, stellt man fest, dass jedes Lebensalter ganz anders klingt. Man muss wegkommen von der Meinung, dass mit dem Stimmwechsel alles aus ist. Die Stimmen ändern sich immer, ein Leben lang. Natürlich ist die Pubertät vielleicht der größte Einschnitt, die größte Veränderung, aber es ist keine Krankheit. Die Pubertät ist eine sensible Phase, in der man auf die Stimme gut aufpassen muss, aber auch eine Riesenchance. In dieser Zeit ist so viel Wachstum, so viel hormonelle und psychische Veränderung da, und wenn wir da Stimmbildung machen können, dann ist da nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Riesenchance, dass man alles in die richtige Richtung lenken kann. Die Jugendlichen singen bei uns einfach durch, es gibt keine Pause in der Pubertät. Ich muss möglichst konkret eine Hilfsstellung geben, wenn jemand im Stimmwechsel ist und eine bestimmte Lage wegbleibt, dann muss ich helfen, die Stimme ganz sanft von oben nach unten ziehen. Das zu üben, muss auch in der Chorprobe Platz haben, weil die anderen dabei ebenfalls etwas lernen.

I. T.: Wie würden Sie den Klang der Wiltener Sängerknaben beschreiben?

J. S.: Er ist strahlend, klar, wenn notwendig sehr obertonreich und damit laut. Und er ist vor allem im Piano und Pianissimo leuchtend. Die Männerstimmen, die Tenöre verwenden nach oben hin das Falsetto, die Countertenöre (das sind die tiefen Altisten) singen im Falsetto weit hinunter, und die Tenöre verwenden schon relativ früh das Falsetto. Auf diese Weise begegnen sich Alt und Tenor in einem eigentlich ganz ähnlichen Klang, was sonst bei Chören oft ganz anders ist. Bei uns geht das ineinander über. Die hohen Männerstimmen und die tiefen Bubenstimmen reichen sich die Hand. Das würde ich zum Beispiel sofort hören. Auch sonst kann ich jede Stimme aus dem Konzertchor mit geschlossenen Augen erkennen.

I. T.: Seit wann gibt es den Mädchenchor Wilten?

J. S.: Ich habe immer gesagt, ich möchte bei den Wiltener Sängerknaben keine Mädchen nehmen, aus zwei Gründen: Erstens ist das ein anderer Klang, nicht besser, nicht schlechter, einfach nur anders. Und zweitens ist es mir ein Anliegen, dass die Tradition der Knabenchöre, die aus der Musikgeschichte kommt, erhalten bleibt. Seit wir Teil des Landeskonservatoriums sind, haben die Buben dort eine sehr gute Ausbildungsmöglichkeit, im Pre-College ein Vorbereitungsstudium zu machen. Selbstverständlich gehört den Mädchen das gleiche Angebot gemacht! Im Jahr 2021 habe ich daher an die Eltern der Sängerknaben geschrieben und gefragt, ob sie Töchter zwischen vier und zehn Jahren hätten, die gerne singen möchten. Schwuppdiwupp waren dreißig Mädchen da. Mit diesen dreißig Mädchen singen wir nun seit eineinhalb Jahren. Die Mädchen profitieren vom Konzept der Stimmbildung, das sich über all die Jahre entwickelt hat, weil es bei ihnen genauso wirkt. Und sie klingen nach eineinhalb Jahren schon sehr schön, noch singen wir aber ein- bis zweistimmig.

I. T.: Welche größeren Projekte stehen in nächster Zukunft an?

J. S.: Die Opernsängerin Jessye Norman, die ich sehr verehre, hat immer gesagt: Wir musizieren nicht, um berühmt zu sein, um viel Geld zu verdienen, um bejubelt zu werden. Wir müssen das, was wir machen, einfach gerne tun. Wir müssen gerne proben, wir müssen uns gerne mit der Musik beschäftigen. Wir müssen das genießen, dann springt der Funke auch über, dann machen es auch die Kinder gern. Die „Matthäuspassion“ dauert vielleicht drei Stunden, und wie viel proben wir dafür? Hundert Stunden? Ich habe sie nie gezählt.

Ende März 2023. Ein kühler Samstagnachmittag mitten in der Fastenzeit. Väter und Mütter, Großeltern und Musikfreunde warten vor der Wiltener Basilika, dass das Konzert beginnt. Die Wiltener Sängerknaben präsentieren heuer wieder Bachs „Matthäuspassion“, am Pult Johannes Stecher. Da sind sie also: Ganz vorn die Kleinsten, dahinter die zwei Kammerchöre, der Konzertchor, Solisten aus den eigenen Reihen der Knaben- und Männerstimmen treten abwechselnd aus den Reihen. Ich bin aufgeregt. Heute erlebe ich den leuchtenden Klang der Wiltener Sängerknaben in seiner ganzen Fülle. Die Knaben und Männer singen die Passion schon viele Jahre. Sie singen sie auswendig. Manche Sängerknaben sind heute noch dabei, einige haben erfolgreiche Solokarrieren gestartet, neue Stimmen sind hinzugekommen. Sie haben das Licht der Abendsonne auf ihren Gesichtern. Es kann nichts mehr schiefgehen. Und ich sehe es: Nach so mancher Arie schenken sie trotz des traurigen Inhalts dem Maestro am Pult ein schnelles, vielleicht dankbares Lächeln. Der Applaus ist überwältigend. Johannes Stecher verneigt sich nur in Gedanken, der Dank des Publikums geht an seine Kinder und altgewordenen Kinder und an das von ihm gegründete Tiroler Barockorchester Academia Jacobus Stainer. Ich verlasse die Wiltener Basilika gerührt und voller Musik wie die Knaben den Proberaum. Eltern haben mir erzählt, dass ihre Kinder singend in alle Himmelsrichtungen verschwinden und nicht merken, dass sie Töne im Mund haben.

 

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