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Die Welt im Unten

Der Fotograf Gregor Sailer hat den Umschlag dieser Ausgabe von Quart und die folgende Bildstrecke (S. 28–43) gestaltet. Für seine Arbeiten riskiert er Geld, Leib und Leben und begibt sich mit seiner Fachkamera seit Jahren an die baulichen Ränder der Welt. Sein Motiv sind vergessene, verschollene, verheimlichte Orte politischer und militärischer Macht. Einige dieser globalen Infrastrukturen lauern im Untergrund. Von Wojciech Czaja

Vor wenigen Jahren noch, erzählt Gregor Sailer, seien hier Campingwagen und Fischerboote eingewintert und eingemottet gewesen. Damals, als nicht nur die Winter kalt waren, sondern auch die Kriege. Aber das ist jetzt anders. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine rückte die skandinavische Halbinsel wieder in ungemütliche Nähe zum Erzfeind. Mit dem Wechsel des politischen Aggregatzustands bekundete auch die NATO wieder Interesse an jenen unterirdischen, geschickt versteckten, militärisch strategisch platzierten Höhlensystemen, deren ursprünglicher Zweck – angesiedelt irgendwo im Kräftedreieck zwischen Kontrolle, Feindschaft und Geheimniskrämerei – eigentlich schon längst vergessen schien.
So auch hier in der Olavsvern Naval Base, Norwegen, acht Seemeilen südlich von Tromsø. Was vor kurzer Zeit noch eine für Zivilisten öffentlich zugängliche Auto- und Bootsgarage war, mutiert nun wieder zu einem unterirdischen Seehafen für Kriegsschiffe und U-Boote. Insgesamt umfasst die Marinebasis rund 20.000 Quadratmeter Nutzfläche, dazu zählen etwa Docks, Trockendocks, Werkstätten, Lagerhallen für Munition und Torpedos, Verwaltungsbauten, Stellplätze für Fahrzeuge aller Art sowie Zufahrtsportale auf Land- und Wasserwegen, die so positioniert sind, dass sie in der Tarnung der felsigen Fjordlandschaft nahezu unsichtbar sind.
„Dieser Ort übt eine unglaubliche Faszination auf mich aus“, sagt Gregor Sailer, 42 Jahre alt, der sich schon seit seiner Kindheit mit Fotografie beschäftigt. Dass es ihn eines Tages hierher verschlagen würde, an eine Adresse, deren Besuch jahrelangen Schriftverkehrs mit der NATO und dem nationalen norwegischen Militär sowie eines ganzen Konvoluts an Zutritts- und Ablichtungsgenehmigungen bedarf, ausgehändigt und unterzeichnet von alleroberster Instanz, hätte er damals, ein junger Bub in einer kleinen Gemeinde irgendwo im Inntal, das Studium und Weltenbummeln noch in weiter Ferne, wohl nicht geahnt.
„Und es ist eine Faszination, die mit Ästhetik, Fremdheit und geheimnisvollen Bildern zu tun hat, aber auch mit Angst, Ungewissheit und unbekannten, verschleierten Orten“, sagt der passionierte Fotograf, der weder monetäre Kosten noch logistische Mühen scheut, um seine Entdeckungen aufzusuchen und auf Film zu bannen. „Es sind Orte, über die man nicht spricht, die auf keiner Landkarte aufscheinen und deren Existenz in den meisten Fällen nur einem sehr engen Kreis an Eingeschworenen bekannt ist. Diese Geheimnisse will ich sichtbar und öffentlich machen und zur Diskussion stellen.“
Mal handelt es sich dabei um militärische Stützpunkte wie hier im hohen Norden Skandinaviens, 69,5 Grad nördlicher Breite, 300 Kilometer jenseits des Polarkreises, mal um Kraftwerke, Sendeanlagen, Radarstationen, Schutzbunker, Forschungscamps und Truppenübungsplätze, mal um U-Bahn-Tunnel, unterirdische Archive und vergessene, verschüttete Kriegsschauplätze – immer häufiger aber auch um industrielle Förder- und Produktionsstätten wie etwa Ölfelder, Bohrinseln, heiß umkämpfte Eintrittspforten in die geografischen Schatzkammern seltener Erden und fossiler Brennstoffe.

Ungesehene Orte

Es ist eine Welt ohne Vertrauen, eine Welt mit Kontrolle und bereitgestellten Security-Guards, die Sailer auf Schritt und Tritt folgen, ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. In der Regel muss er für die im Untergrund geschossenen Fotos um Freigabe ersuchen, manchmal passiert es, dass die Zensur zuschnappt und die weite Reise umsonst gewesen ist. „In diesen Sphären, in denen ich mich bewege, bin ich von vielen Faktoren abhängig, die ich nicht beeinflussen kann, die ich einfach zur Kenntnis nehmen muss“, sagt er. „Mal fällt ein Flug aus, mal kommt ein Schneesturm auf, mal wird mir plötzlich der Zutritt verwehrt, weil ich dem diensthabenden Befehlshaber nicht sympathisch bin oder weil sich die politische Grundstimmung von einem Tag auf den anderen verändert hat. Alles kann passieren. Du hast es nicht im Griff.“
Sailers Unseen Places – so hieß seine letzte große Ausstellung im Kunst Haus Wien – sind archaische, mitunter gespenstische Fotoräume, denen nicht nur die Menschen entzogen wurden, sondern auch materielle Versatzstücke, mit denen die Bilder leichter zuordenbar, leichter emotional zu verarbeiten wären. Es fehlen Möbel, Gegenstände, Hinweisschilder, menschliche Spuren, Bewegungsunschärfen, sämtliche wie auch immer gearteten Behelfsmittel zur Lesbarkeit der Nutzung und Maßstäblichkeit. In diesem Fall scheinen die Schiffe, U-Boote und Militär-Jeeps wie wegradiert. Ein einziges Nichts.
„Ja, die Räume sind leer.“ Sailer hält kurz inne. „Aber sie wirken gerade dadurch. Durch das Herausnehmen von bekannten Bezugsgrößen entwickeln die zweidimensionalen Bildmotive eine Heftigkeit, die dem nahe- kommt, was ich empfinde, wenn ich in genau diesem Moment inmitten der Szenerie stehe und mich umschaue.“ Wie groß ist das Munitionsdepot? Wie weit in die Tiefe führt die Höhle hinab? Wie lang ist der Tunnel, der in betonierten Bahnen ohne jegliche Irritation und Unregelmäßigkeit stur von A nach B verläuft?

Die Kälte kennt kein Pardon

Fast scheint es, als wäre die einzig lesbare Konstante, die sich in Sailers Fotoserien immer und immer wieder findet, die Kälte. Die kalte Temperatur, die kalte Materialität, die kalte Atmosphäre, die in voller Härte und Verachtung zuschlägt. „Mit der emotionalen Kälte kannst du umgehen“, sagt Sailer. „Aber auf die Kälte des Wetters musst du dich wirklich penibel vorbereiten. Das Klima kennt kein Pardon.“ Bei seinen Expeditionen in die Arktis, erzählt er, sei er in Grönland, Russland und Kanada mit Temperaturen bis zu 55 Grad unter null konfrontiert gewesen. Zur Grundausstattung gehören professionelle Polarkleidung, gefütterte Handschuhe und eine mit Filter versehene Gesichtsmaske, „ja nicht runterreißen, sonst vereist dir die Lunge“, mit dieser kiloschweren Bekleidung geht es manchmal hunderte Meter über Schnee und Eis.
So wie zum Beispiel am eiskalten Eisschild im Nordosten Grönlands, als er sich 2019 aufmachte, um für seine Serie The Polar Silk Road die Forschungseinrichtung des East Greenland Ice Core Project (EastGRIP) zu fotografieren. Das wissenschaftliche Unterfangen auf über 2.700 Metern Seehöhe hat sich zum Ziel gesetzt, die Eisdecke zu durchbohren und meterlange Eiskerne zu entnehmen, um aus den rund 100.000 Jahresschichten Informationen über die globale Klimageschichte zu gewinnen. „An diesen Orten ist es so kalt, dass du mit einer digitalen Kamera kaum fotografieren kannst, weil der Akku in wenigen Minuten den Geist aufgeben würde. Ein Rollfilm eignet sich auch nur bedingt, denn beim Weiterrollen kann der Film frieren und brechen. Also bleibt nur noch die Filmplatte.“

Der Kampf mit dem Fäustling

Sailer fotografiert mit einer altmodischen Sinar-Fachkamera, Schweizer Produkt. Die richtige Einstellung, das Abwarten des perfekten Lichts, kann schon mal bis zu ein, zwei Stunden dauern. „Dann ist endlich alles perfekt, und dann vereist dir plötzlich die Linse, oder du musst abwarten, bis der bissige Wind nachgelassen hat. Da fluchst schon ordentlich durch die Gegend, halb verschwitzt und halb erfroren, und niemand hört dir zu, weil auch niemand da ist, außer vielleicht dein Security-Guard.“ Und dann kommt der alles entscheidende Moment: Fäustling ausziehen, zittern, Schärfe einstellen, Blende wählen, Belichtungszeit einstellen, zittern, abdrücken und dann schnell wieder in den Fäustling reinschlüpfen. Fertig. Und weiter.
All diesen widrigen Umständen zum Trotz ist die Polare Seidenstraße, an der die wahrscheinlich kältesten und inhaltlich brisantesten Fotos seines gesamten Œuvres entstanden sind, Sailers geheime Leidenschaft. Sie ist nicht nur Hort geheimnisvoller technischer Bauten, die den meisten Augen dieser Welt bislang verborgen geblieben sind, sondern auch Austragungsort bitterer politischer Kämpfe, um Zugang zu Rohstoffen und zu kurzen, lukrativen Handelsrouten zu bekommen. Und so mutiert die Arktis, eine rund 21 Millionen Quadratkilometer große Region jenseits aller Bewohnerdichten, vom Eisbärenparadies zur Arena, in der sich einige Weltmächte und Industrienationen unter den Argusaugen der NATO prügeln wie bei einer Schlacht am noch vereisten Buffet.
„2018“, sagt Sailer, „hat die chinesische Regierung in ihrem sogenannten Arctic White Paper erstmals die Polare Seidenstraße erwähnt. Einerseits sollen die Frachtrouten dadurch um bis zu 40 Prozent verkürzt werden, was den globalen Schiffsverkehr billiger und effizienter machen wird, andererseits wäre diese Route eine attraktive Alternative zum längst überlasteten Suezkanal.“ Als im März 2021 die Ever Given die Sandböschung rammte und den Kanal verstopfte, stand der globale Frachtverkehr wochenlang still. Solche Supergaus möchte China mit der Polaren Seidenstraße, die im Zuge der Erderwärmung bis spätestens 2050 eisfrei befahrbar sein wird, so die Prognosen von Klimaforschern, künftig vermeiden.
„Tatsächlich gibt es viele Instanzen, die von der Klimakrise und Erderwärmung profitieren werden und die aus diesem Grund schon jetzt ihre Reviere in der Arktis markieren“, erzählt Sailer. Die politische und wirtschaftliche Machtgier nimmt bisweilen skurrile Züge an: Nachdem Russland seine Konkurrenten überlisten und die Grenzen des Festlandsockels und die daraus abgeleiteten Ansprüche auf Öl- und Gasvorräte geologisch korrekter verankern und dabei nicht nur auf vereistes Wasser setzen wollte, schickte es im Jahr 2007 ein U-Boot los und rammte am Nordpol in über 4.000 Metern Tiefe eine russische Fahne in den Meeresboden.

Ein Dokument namens Dunkelkammer

Auch in vielen anderen Fotoserien wirft Sailer einen kritischen Blick auf politische und militärische Machenschaften zwischen gestern und heute. In Schwaz in Tirol begab er sich, abermals unter Leib- und Lebensgefahr, ins Höhlen- und Kavernensystem eines ehemaligen, stillgelegten Silberbergwerks aus dem Mittelalter. Im NS-Regime diente das unterirdische Labyrinth zur Herstellung und Deponierung von Waffenkontingenten. Auch die Leitwerke für den Düsenjet ME 262, das erste Kampfflugzeug mit Strahlentriebwerk-Technologie der Welt, wurden hier unten – unter widrigsten und menschenverachtenden Umständen – von Zwangsarbeitern produziert.
Nach Ende des Krieges 1947 wurde die sogenannte Messerschmitthalle – von Sailer ganz nüchtern als The Box betitelt – von den französischen Alliierten gesprengt, 1999 kam es zu einem Bergsturz, seit damals ist das ehemalige Bergwerk Sperrzone. Sailer gelang es dennoch, Zugang zu bekommen und das räumliche Kriegsmahnmal für die Nachwelt festzuhalten. Möglich war dies mit einer Art Bühnenausleuchtung und hunderte Meter langen Kabeln, die für das Shooting durch den Wilhelm-Erbstollen verlegt werden mussten. Das Resultat all der Anstrengungen sind einige wenige Fotos, dramatisch ausgeleuchtet wie in einem düsteren Bühnenbild, die vielleicht zum allerletzten Mal Zeugnis ablegen über die Begebnisse in dieser fast vergessenen Dunkelkammer.

Zwischen Angst und Attrappe

Am Ende der unterirdischen Entdeckungsreise entführt uns Gregor Sailer in einen U-Bahn-Schacht, der keiner ist, in eine eckige, im Querschnitt fast quadratische Betonröhre mit Gleisen, Schotterbett und formal angedeutetem Bahnsteig. Bloß ist hier noch nie eine Bahn hindurchgefahren und wird es auch nie tun. Es handelt sich um das Stadtimitat Schnöggersburg in Sachsen-Anhalt, genauer genommen um eine Truppenübungsstadt der Deutschen Bundeswehr, in der die Soldaten im verpflichtenden Wehrdienst in unterschiedlichen urbanen Settings auf den militärischen Ernstfall vorbereitet werden.
„Militärische Übungsplätze gibt es in vielen Ländern dieser Welt“, sagt Sailer, „aber dieser hier ist der größte und modernste seiner Art in ganz Europa. Es gibt Straßen, Plätze, Häuser, Versatzstücke von Fassaden, imitierte Kircheninnenräume, Friedhöfe, Tankstellen, Brücken, Bahnhöfe, U-Bahn-Schächte und sogar falsche, aber funktionstüchtige Flughäfen mit Tower, Hangar und Landepiste.“ Neben Deutschland besuchte Sailer militärische Übungsplätze in Frankreich, Schweden und Großbritannien sowie Fort Irwin in der Mojave-Wüste, Kalifornien. In Anspielung auf die historisch wohl bekanntesten Attrappendörfer im russischen Zarenreich trägt die Serie den Titel The Potemkin Village.
„Während die meisten Nationen – sogar die US Army –
mit weitaus weniger Detailgenauigkeit auskommen und oft mit Attrappen in Leichtbauweise arbeiten, ist in Schnöggersburg die gesamte Kulisse bis ins kleinste Detail massiv in Beton gegossen“, sagt Sailer. „Es ist unglaublich, was für ein immenser Aufwand hier betrieben wird, einzig und allein mit dem Ziel, eine möglichst realitätsnahe Illusion zu schaffen. Die Stimmung ist mehr als surreal.“ Insgesamt umfasst die Übungsstadt, die ein wenig an ein zu groß geratenes Modelleisenbahnstädtchen erinnert, mehr als 500 Einzelbauwerke. Für die exorbitant gestiegenen Baukosten in der Höhe von 152 Millionen Euro geriet die deutsche Bundesregierung stark in die Kritik der Öffentlichkeit.

Arbeit im Untergrund

„Die Arbeit an den versteckten Orten politischer Macht bringt mich nicht nur in den Untergrund“, sagt Gregor Sailer, „sondern in gewisser Weise auch in die Untergründe unserer Gesellschaft, in die verborgenen Infrastrukturen und Gefäßsysteme, die unter der Oberfläche existieren, die unser Zusammenleben am Laufen halten – sei es im Zivil- oder Militärbereich, sei es in Friedens- oder auch in Konfliktzeiten.“ Mit jeder Reise, mit jedem einzelnen Foto geht Sailer an die Grenzen. An die eigenen emotionalen und physischen Grenzen, aber auch an die Grenzen des gerade noch Herzeigbaren. Stets im Spannungsfeld zwischen Kunst, Dokumentation und visuellem Whistleblowing. Diese unentwegte, niemals pausierende Enthüllungsarbeit normativer Verhüllungsstrategien macht seine Arbeit unbezahlbar. Klirrende Kälte, eingefrorene Blicke, Gänsehaut.

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