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Eichmann mit Tirolerhut

Viele NS-Kriegsverbrecher entkamen über Südtirol nach Übersee. Dabei halfen ihnen Vertreter von Politik und Kirche, Mitarbeiter des Roten Kreuzes und die lokale Bevölkerung. Von Gerald Steinacher

Im Mai 2007 tauchte in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires das Reisedokument eines gewissen Riccardo Klement aus dem Südtiroler Weinort Tramin auf. Der Ausweis mit der Dokumentennummer 100.940 wurde von einem Beauftragten des Roten Kreuzes 1950 in der italienischen Hafenstadt Genua ausgestellt. Was die Sache brisant machte: Bei Riccardo Klement handelte es sich um Adolf Eichmann, einen der zentralen Organisatoren des Holocausts – des systematischen Massenmordes an den europäischen Juden. Der Fund zog ein weltweites Medienecho nach sich und warf vor allem Fragen nach der Rolle des Roten Kreuzes auf. Ich hingegen stellte mir damals die Frage, warum sich der personifizierte Bürokrat des Holocausts ausgerechnet in einen Südtiroler verwandelte? Was hatte meine Heimatregion mit der Flucht der NS-Täter zu tun? Schon bald sollte sich zeigen, dass Eichmann keine Ausnahme war. Im Gegenteil: Südtirol avancierte in den Jahren zwischen 1946 und 1951 zu einem idealen Nazi-Schlupfloch.

Aber blicken wir zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit. Schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschlossen die Alliierten, dass die NS-Verbrechen – Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und systematischer Massenmord – nicht ungesühnt bleiben sollten. Vor allem dank der USA wurden 22 Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg abgeurteilt. Später etablierten die Amerikaner zwölf weitere Prozesse in Nürnberg gegen die Eliten des Dritten Reiches, wie Militärs, Diplomaten, SS-Führer und Industrielle. Daneben gab es noch Tausende Gerichtsverfahren gegen Faschisten, NS-Täter und deren Kollaborateure in ganz Europa; auch in Österreich. Trotzdem konnten nicht wenige Täter, wie Eichmann, zunächst unter Falschnamen in Deutschland oder Österreich untertauchen. Dabei lebten sie in ständiger Angst vor Entdeckung. Eine Flucht nach Übersee oder Spanien, von wo man kaum an die Alliierten ausgeliefert werden konnte, bot sich bald als Alternative an.

Das Eldorado der Kriegsverbrecher

War es bei Kriegsende praktisch unmöglich, nach Übersee zu fliehen, so änderte sich das ab 1946 rasch. Der einfachste und schnellste Weg von Mitteleuropa nach Übersee führte über Südtirol in die norditalienische Hafenstadt Genua. Der Großteil der flüchtigen SS-Angehörigen und Nationalsozialisten nahm daher diesen Weg. Aber nicht nur Nazis waren auf der Flucht, sondern auch Millionen von Flüchtlingen suchten einen Neuanfang, ein neues Leben in Übersee. Dazu gehörten Holocaust-Überlebende, Zwangsarbeiter, ehemalige Kriegsgefangene, Antikommunisten aus Osteuropa usw. Sie alle wollten Europa verlassen, und für viele führte der kürzeste Weg über die Tiroler Berge zu den norditalienischen Häfen. Die Fluchthelfer an der österreichisch-italienischen Grenze machten keine Unterschiede: Neben deutschen Emigranten, die als Reiseziel oft Südamerika anvisiert hatten, bestand ihre Klientel vielfach aus Juden, die – ebenfalls illegal – auf dem Weg in das britisch kontrollierte Palästina waren. Zynischerweise kreuzten sich auf den Fluchtrouten über die Alpen häufig die Wege der gesuchten Nazi-Verbrecher mit denen ihrer Opfer, die ebenfalls auswandern wollten. Der Wiener Holocaust-Überlebende und „Nazi-Jäger“ Simon Wiesenthal schreibt darüber:
„Ich kenne ein kleines Gasthaus in der Nähe von Meran, wo illegale Nazitransporte und illegale Judentransporte zuweilen die Nacht unter dem gleichen Dach verbrachten, ohne voneinander zu wissen. Die Juden waren im ersten Stock versteckt und angewiesen, sich nicht zu rühren; und die Nazis im Erdgeschoß hatte man dringend gewarnt, sich nicht außerhalb des Hauses sehen zu lassen.“ Es ist letztlich nicht relevant, welches Gasthaus in Meran hier gemeint ist, in jedem Falle beschreibt Wiesenthal damit sehr treffend die damalige Lage in der Grenzregion.

Eichmann lebte unter falschem Namen noch bis zum Frühjahr 1950 im Norden Deutschlands, arbeitete im Holzgeschäft und züchtete Hühner. Schließlich hatte er für die Flucht nach Südamerika genug gespart. Auch sein Fluchtweg war vorgezeichnet. In SS-Kreisen hatte sich die Fluchtroute über Südtirol nach Genua längst herumgesprochen. Eichmann nahm im Mai 1950 mit Tiroler Fluchthelfern Kontakt auf, die ihn zunächst von Bayern nach Nordtirol schleusten. Angeblich „bekleidet in Bergkleidung, mit Tiroler Hut und Gamsbart“, wie er Jahre später erzählte, gelangte Eichmann zunächst über die Grenze nach Österreich. In Kufstein – wie in anderen Orten – hatten ihm Schleuser Anlaufstellen und Kontaktleute genannt. Das Schlepperwesen in Tirol, das System der Fluchthilfe und die Fluchtroute hatten sich vielfach bewährt. „Die ‚U-Boot-Route‘ funktionierte wie am Schnürchen“, notierte Eichmann. Er gelangte ohne größere Schwierigkeiten mit einem Taxi nach Innsbruck, einer wichtigen Durchgangsstation auf der Brennerlinie. In der Tiroler Landeshauptstadt wollte er bei einem SS-Kameraden „unterschlüpfen“, der ihn aber sehr unsanft mit den Worten empfing: „Sieh zu, wie du weiter kommst.“ Unweit vom kleinen Grenzort Gries, direkt vor dem Brenner, hatte er erneut eine Anlaufstelle, wo er sich verstecken konnte. Schlepper brachten Eichmann über die Berge auf die italienische Seite des Brenners, wo er bereits vom lokalen Pfarrer empfangen wurde. In seinen Aufzeichnungen schrieb Eichmann über den hilfsbereiten Südtiroler Geistlichen: „[Der Priester] hatte seit Jahren allen möglichen Flüchtlingen geholfen. Einst waren es Juden, jetzt war es – Eichmann! Voller Dankbarkeit nahm ich meinen Koffer von diesem ausgezeichneten, radfahrenden Priester etwa anderthalb Kilometer hinter der italienischen Grenze [wieder] in Empfang und genehmigte mir zur Feier des Gelingens den inzwischen schon zur Tradition gewordenen Schluck Alkohol. Diesmal war es ein roter Südtiroler Wein! Der Priester verwies mich an einen Taxifahrer, der mich zunächst in seine Wohnung mitnahm. Hier ließ ich meine Tiroler Tracht zurück und zog mir nicht so auffällige Straßenkleidung an.“ Die Gleichstellung „Juden – Eichmann“, die er in der Haft während seines Prozesses in Israel 1961 machte, ist obszön und pietätlos, aber typisch für den Juden-Hasser Eichmann. Die hilfreichen Geistlichen auf der Brennerroute riskierten viel, doch die erhoffte Seelenernte war den Priestern anscheinend jedes Opfer wert. Der Sterzinger Stadtpfarrer Johann Corradini und der Bozner Franziskanerpater Franz Pobitzer verhalfen wiederholt Flüchtigen zu einem Neuanfang in Übersee, darunter auch dem Nazi-Kriegsverbrecher Erich Priebke.
Zehntausende von Personen hielten sich als Strandgut des Krieges in Italien auf. Doch Südtirol kam eine Sonderrolle zu, das wurde auch damals schon bemerkt: „Unsere Zeitung hat bis zum Überdruss wieder und wieder berichtet, dass Südtirol in der Nachkriegszeit das Eldorado der Nazi-Faschisten gewesen ist, die hier zu jeder Zeit großzügige und herzliche Gastfreundschaft und Aufnahme gefunden haben. Jetzt hat sich die Situation zwar etwas beruhigt, aber die Zahl der Kriegsverbrecher und Kollaborateure der Faschisten und der Deutschen, die es sich in Bozen gemütlich gemacht haben, ist noch immer sehr hoch“, schrieb eine italienische Tageszeitung 1947. Südtirol war die erste Station in Italien und war für Flüchtige geradezu ideal: Es lag auf der Fluchtroute, war großteils deutschsprachig und die Bevölkerung deutschfreundlich. Auch gab es – im Gegensatz zu Deutschland und Österreich – in Italien bald keine alliierten Kontrollen mehr. Wenn man erst einmal in Südtirol war, konnte man sich recht sicher fühlen. Flüchtige Nazis wurden kaum an die Carabinieri verraten. In Meran versteckte sich auch lange Zeit einer von Eichmanns Tiroler Fluchthelfern: Alois Schintlholzer. Der Innsbrucker SS-Offizier war an der Verhaftung und Misshandlung von jüdischen Bürgern von Innsbruck während des Pogroms vom November 1938 (im Nazi-Jargon als „Kristallnacht“ bezeichnet) beteiligt. Das war nur der Anfang seiner Täterkarriere. In Italien, nicht zuletzt in Meran, verhaftete und mordete er Zivilisten, Widerstandskämpfer und Juden. Bei Kriegsende tauchte Schintlholzer in Südtirol unter, um sich sowohl der österreichischen als auch der italienischen Justiz zu entziehen.

Auch Josef Mengele, der Arzt des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, hatte seinen Fluchtweg Richtung Italien eingeschlagen. Im Jänner 1945 verließ er Auschwitz, um dem Vormarsch der herannahenden Roten Armee zu entkommen. Als „Fritz Hollmann“ tauchte er in Deutschland bei Bauern unter. Doch er konnte sich auf Dauer dort nicht sicher fühlen. Aus einem Steckbrief geht hervor, dass er gesucht wurde: „Mengele, Joseph, Dr., SS-Hauptsturmführer und Lagerarzt Auschwitz Konzentrationslager, Juni 1940 bis Jänner 1945, Massenmörder und andere Verbrechen.“ Im Herbst 1948 entschloss er sich, Deutschland zu verlassen, um ins deutschfreundliche Argentinien auszuwandern. Am Karfreitag 1949 startete er daher von Innsbruck in Richtung Steinach am Brenner, einer der letzten österreichischen Gemeinden vor dem Brennerpass. Am Ostersonntag brachten ihn Tiroler Schlepper von Vinaders auf die andere Seite der Grenze; einmal italienisches Staatsgebiet erreicht, fand er, auf neue Reisedokumente wartend, Unterkunft im Gasthaus „Goldenes Kreuz“ in Sterzing. Mengeles Familie hatte Geld. Mit den Mengele-Landmaschinen ließ sich in den Nachkriegsjahren viel Geld machen, daher konnte der „Todesengel von Auschwitz“ in Hotels residieren und war nicht wie Eichmann auf die Gastfreundschaft von Südtiroler Geistlichen angewiesen. Die Fluchthilfe für Mengele beschäftigte Medien und Politik noch viele Jahre später. Jakob Strickner, der nach dem Krieg 24 Jahre lang Bürgermeister der kleinen Grenzgemeinde Gries am Brenner gewesen war, prahlte in seinem Gasthaus in Vinaders wiederholt damit, genauestens über die Flucht und die Fluchthelfer des KZ-Arztes Josef Mengele im Bilde zu sein. Ins Rollen kam die Affäre aber erst 1985, nachdem Simon Wiesenthal die NS-Vergangenheit Strickners aufgedeckt hatte. SS-Sturmbannführer Strickner war in den 1930er Jahren Mitbegründer der Tiroler NSDAP und war am versuchten Nazi-Putsch in Österreich 1934 beteiligt. Im Zuge des „Anschlusses“ Österreichs an Nazi-Deutschland bereicherte er sich zudem am Eigentum von jüdischen Opfern. Nach Kriegsende geriet er wegen seiner NS-Vergangenheit für einige Jahre juristisch und finanziell in Schwierigkeiten. Schmuggeln jeglicher Art war damals nicht nur für Tiroler Nazis wie Strickner attraktiv und lukrativ, besonders wenn man die Berge zwischen Nord- und Südtirol gut kannte.

Nazi-Schlupfloch Südtirol

Auf beiden Seiten des Brenners gab es damals zahlreiche Schlepperbanden, manche waren nur an Geld interessiert, andere hingegen bestanden aus hartgesottenen Nazis und ihren Helfershelfern. Die Gruppe um Karl Nicolussi-Leck und Karl Folie ist dank eines dicken Aktes der Innsbrucker Staatsanwaltschaft gut dokumentiert. Folie war ein gebürtiger Südtiroler, lebte aber in Matrei am Brenner, wo er sich als Schlepper und Schmuggler verdingte. Nicolussi-Leck hingegen war ein führender Südtiroler Nazi und hochdekorierter SS-Offizier. Nach Kriegsende schmuggelten die beiden zusammen mit Verwandten deutsche und österreichische Nazis über die Route Kufstein-Brenner-Bozen und von dort zur Hafenstadt Genua. Die Innsbrucker Behörden nahmen 1949 vollkommen zutreffend an, dass die Gruppe „führende Nationalsozialisten im Wege eines unerlaubten Grenzübertrittes […] in das Ausland führte bzw. zur Flucht verhalf“. Nach erfolgreicher Mission schlug Nicolussi-Leck selbst den Weg nach Argentinien ein, wo er im braunen Netzwerk sehr erfolgreich eine neue Karriere mit dem Vertrieb von Landmaschinen aufbaute. Zu seinen engsten Geschäftspartnern zählte auch der Wiener SS-Brigadeführer Hans Fischböck, der als Kriegsverbrecher gesucht wurde. Dem Aktenbündel über die Tiroler Nazi-Schlepper verpassten die Innsbrucker Behörden später die Aufschrift „Odessa“, also jener sagenumwitterten Geheimorganisation, die laut Film und Roman die Flucht der Nazis organisiert hätte. Auch wenn es die „Odessa“ als allmächtige Organisation nie gegeben hat, NS-Netzwerke gab es durchaus. Und es waren nicht zuletzt Südtiroler Netzwerke, die den schlimmsten Nazi-Massenmördern zu falschen Papieren verhalfen.

Einmal in Italien angekommen, konnten sich Eichmann und Mengele recht sicher fühlen, aber für die Auswanderung nach Übersee brauchten sie und ihre Mittäter neue Papiere. In Südtirol erhielt Josef Mengele einen Personalausweis auf den Namen „Helmut Gregor“, geboren in Tramin am 6. August 1911, von Beruf Mechaniker. Seine Südtiroler Komplizen beschafften auch eine Wohnsitzbescheinigung der Gemeinde Tramin, aus der hervorging, dass er dort seit 1944 in der Montellostraße 22 wohnhaft war. Eine Sichtung der Taufeinträge für 1911 ergab keinen Nachweis eines „Helmut Gregor“, die Identität war daher frei erfunden. Es ist auffallend, dass neben Eichmann und Mengele sich noch eine Reihe anderer NS-Täter in Südtirol neue Identitäten zulegten. SS-Gruppenführer Ludolf von Alvensleben etwa, ein enger Mitarbeiter des SS-Chefs Heinrich Himmler, oder der Goebbels-Mitarbeiter Erich Müller. Sie alle bekamen einen Personalausweis der Gemeinde Tramin. Aber warum ausgerechnet Tramin? Das Dorf im Süden von Bozen war bekannt als eine Hochburg Südtiroler Nationalsozialisten. Der Südtiroler Historiker Christoph von Hartungen vermutete, dass ein Beamter des Meldeamtes von Tramin mit der SS sympathisierte und daher Blanko-Ausweisformulare für Mengele und Kumpanen zur Verfügung stellte und unterschrieb. Laut Auskunft der Gemeinde Tramin verwahrt das Archiv die ausgefüllten Antragsformulare für Identitätskarten seit 1927 – aber es gibt Lücken. Das Jahr 1948 fehlt komplett: „[Ich] kann Ihnen mitteilen, dass in den letzten 20 Jahren immer wieder nachgefragt wurde, ob den von Ihnen gesuchten Personen im Jahre 1948 von der Gemeinde Tramin eine Identitätskarte ausgestellt wurde. Die zuständigen Beamten des Meldeamtes haben in diesen Jahren immer wieder die im Gemeindearchiv aufbewahrten Verzeichnisse über die ausgestellten Identitätskarten durchgesehen, mussten aber jedes Mal, auch in Ihrem Fall, feststellen, dass die Verzeichnisse des Jahres 1948 unvollständig beziehungsweise nicht auffindbar sind.“ Tramin ist aber keine Ausnahme, auch andere Gemeinden in Südtirol scheinen in diesem Zusammenhang auf. So etwa im Falle des SS-Gruppenführers Otto Wächter, der wegen zahlreicher NS-Verbrechen in Polen gesucht wurde. In Südtirol besorgte der Holocaust-Täter sich einen neuen Personalausweis der Gemeinde Eppan, der wahrscheinlich von seinen Kontaktleuten in Südtirol gefälscht wurde. Das ist wenig überraschend; denn bei Razzien bei untergetauchten Nazis in Südtirol stellte die Polizei immer wieder Stempel der Gemeindeämter und Blankoformulare für Identitätskarten sicher.

Doch die in Südtirol ausgestellten Personalausweise waren nicht als internationale Reisepässe anerkannt, die man für die Auswanderung nach Übersee benötigte. Diese besorgten sich die Nazis auf der Flucht beim Internationalen Roten Kreuz, welches damals „Ersatzreisepässe“ für staatenlose „Volksdeutsche“ und andere Vertriebene aus Osteuropa ausstellte. Kontrollen gab es kaum, was dem Missbrauch Tür und Tor öffnete. Bis Mitte 1951 fertigte das Rote Kreuz etwa 120.000 solcher Reisedokumente aus. Neben Flüchtlingen und Kriegsopfern gelangten so auch sehr viele Nazi-Täter in den Genuss dieser humanitären Hilfe. Südtiroler galten damals oft als staatenlose „Volksdeutsche“, was wiederum die Vorbedingung für ein Reisedokument des Roten Kreuzes war. Nachdem Mengele seine neue Südtiroler Identität als „Helmut Gregor“ erlangt hatte, begab er sich nach Genua, wo er bei der lokalen Vertretung des Roten Kreuzes einen Antrag auf das begehrte Reisedokument stellte. Auf dem Anfrageformular schrieb er als Staatsbürgerschaft „italienisch“ und „deutsch“ als Folge der geplanten Aussiedlung der Südtiroler in das Deutsche Reich (die sogenannte „Option“ von 1939). Als Beleg seiner Angaben legte Mengele dem Rot-Kreuz-Beamten die Identitätskarte der Gemeinde Tramin vom April 1948 vor. Sobald Mengele den „Reisepass“ des Roten Kreuzes erhalten hatte, bestieg er ein Schiff nach Argentinien. Die Südtiroler Fluchthelfer hatten das perfekte System für Nazis auf der Flucht entwickelt.

Es ist daher wenig überraschend, dass besonders viele Tiroler Täter die Flucht über Italien nach Übersee antraten. Darunter war auch Friedrich (Fritz) Lantschner, der ehemalige Gauamtsleiter von Tirol. Der Innsbrucker war ein wichtiger Drahtzieher des Juli-Putsches 1934 gegen die Dollfuß-Regierung. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 kehrte er im Schlepptau der Deutschen Wehrmacht nach Tirol zurück und übernahm kommissarisch die Leitung der Tiroler Bauernkammer. Lantschner spielte in der „Reichskristallnacht“ 1938 und danach eine unrühmliche Rolle bei der Beschlagnahmung jüdischen Eigentums. Bis Kriegsende war er Regierungsdirektor der Abteilung „Landwirtschaft, Wirtschaft, Arbeit“ in der Gauverwaltung von Tirol-Vorarlberg und eine Zeit lang sogar die rechte Hand des Tiroler Gauleiters. 1948 flüchtete er über eingespielte Wege über Südtirol nach Argentinien, wo er ein Bauunternehmen gründete. Das Landesgericht Innsbruck stellte 1961 erneut einen Haftbefehl für Fritz Lantschner aus. Der Aufenthalt von Lantschner in Südamerika „San Carlos de Bariloche, Rio Negro /Argentinien“ war nun auch dem Gericht bekannt. Der Wintersportort in den Anden, der an Kitzbühel oder Cortina d’Ampezzo erinnert, wurde bald zur neuen Heimat vieler Nazis aus Österreich, Südtirol und Deutschland. In Bariloche gab es Häuser im Tiroler Stil, österreichische Skilehrer erschlossen die Gegend in den 1930er Jahren für den Wintersport, das Hotel „Residencial Tirol“, das Hotel „Edelweiss“ oder die Pension „Kaltschmidt“ luden zum Verweilen ein. Der Grödner Dominik Moroder und der Kärntner Gerhard Lausegger landeten ebenfalls dort. Moroder war ein brutaler SS-Scherge und mordete italienische Zivilisten und Juden. Bei Kriegsende verkroch er sich in einem Südtiroler Kloster unter der Obhut von Pater Pobitzer und dem österreichischen Bischof Alois Hudal, die ihm in einer konzertierten Aktion auch zur Flucht nach Übersee verhalfen.
Während des Pogroms vom November 1938 leitete Lausegger das Kommando, das den Vorsteher der jüdischen Kultusgemeinde von Innsbruck, Richard Berger, auf brutalste Weise ermordete. Bei Kriegsende wurde Lausegger zwar kurzfristig gefasst, konnte sich aber durch Flucht über Südtirol nach Argentinien der Justiz entziehen. Dort fühlten sich die Täter zunächst vor einer Auslieferung sicher. Doch nicht wenige Nazis kamen Ende der 1950er Jahre wieder zurück nach Europa, darunter auch Nicolussi-Leck, der im Sommer 2008 als bekannter Kunstsammler in Bozen verstarb. In dem ihm gewidmeten längeren Nachruf der Südtiroler Zeitschrift „Der Schlern“ findet sich weder eine Erwähnung seiner Vergangenheit als Nazi-Propagandist, Waffen-SS-Offizier und Nazi-Schmuggler noch der „Tiroler Abende“ in Argentinien.

Fast wäre mit den Unterlagen aus dem Gemeindearchiv Tramin auch eines der dunkelsten Kapitel Gesamt-
tiroler Zeitgeschichte aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden.

Mehr zu dieser Thematik und zu den Quellen siehe Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht: Wie NS-Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Das Buch ist 2008 im Innsbrucker Studienverlag erschienen.

 

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