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Brennergespräch (26):
„Ich möchte nicht das Exotische zeigen.“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 26: die Filmemacherin und Autorin Ruth Beckermann im Werkstattgepräch mit der Theater- und Opernregisseurin Tina Lanik. Beide Künstlerinnen thematisieren in ihren Arbeiten immer wieder das Aufbrechen und Umkehren von Geschlechtergrenzen: Ruth Beckermann in ihrem jüngsten Film „Mutzenbacher“, der im Wettbewerb Encounters der Berlinale 2022 mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet wurde, Tina Lanik in ihrer aktuell laufenden Inszenierung von „Wie es euch gefällt“ am Wiener Burgtheater. Ein Gespräch über Kinder als Karriere-Falle für Frauen, über das ethnologische Interesse an Männern und die Freude, einfach immer weiterzumachen.

Tina Lanik: Frau Beckermann, unser Treffen findet heute am Weltfrauentag statt. Meine achtjährige Tochter hat mich vorhin gefragt, warum es den gebe. Was würden Sie ihr antworten?

Ruth Beckermann: Weil wir den Weltfrauentag noch brauchen, leider! Es gibt eine U-Bahnstation in Wien, die heißt Herrengasse und wurde heute, anlässlich des Weltfrauentages, in Frauengasse umbenannt. Erst dachte ich mir, das ist witzig, aber der nächste Gedanke war: Was bringt das? Es ist ja nur ein Tag, an diesem einen Tag wird darauf hingewiesen, dass Frauen immer noch weniger verdienen, im Alter armutsgefährdet sind, oft alleinerziehend, also die ganze bekannte Palette. Eine Aktion wie diese ändert nicht wirklich etwas zum Besseren. Eher zum Schlechteren, würde ich sagen.

T. L.: Weltweit werden ja immer noch viele Mädchen in ihrer Freiheit eingeschränkt, sie dürfen nicht in die Schule gehen, dürfen keinen Sport machen …

R. B.: Ich habe über drei Jahre lang einen Film gedreht, den ich gerade schneide, über eine Volksschulklasse im 10. Bezirk in Wien. Volle 100 Prozent der Kinder in dieser Klasse haben einen Migrationshintergrund. Die Mädchen dürfen beispielsweise noch schwimmen gehen, aber man kann jetzt schon vermuten, dass es ihnen ihr Umfeld bald nicht mehr erlauben wird. Das macht eine Situation wie jene klar, in denen ein Mädchen einem anderen ihr Knie zeigt und zwei Buben daraufhin „Pfui!“ rufen. Die Lehrerin diskutiert mit den Buben, der eine sagt: „Eine Frau muss anziehen, was der Mann will!“ Die Mütter gehen mit ihren Töchtern nicht schwimmen. Die Lehrerin ist selber Türkin, aber in Wien aufgewachsen. Die Kinder sprechen alle sehr schlecht Deutsch. Die Politik hat bis jetzt überhaupt nicht verstanden, dass sich die Gesellschaft verändert hat und dass daraus resultierend auch das Schulsystem total verändert werden müsste. Diese Kinder müssten vor dem Schuleintritt Deutsch lernen, und zwar gut Deutsch lernen, denn das ist später kaum mehr aufzuholen. Diese Kinder sprechen nur in der Schule Deutsch, nicht in ihrem privaten Umfeld. Es war und ist ein sehr spannendes Projekt. Ich wollte die „neuen“ Kinder von Wien beobachten – und erzählen, wie sie sind: Wie leben Kinder heute und was hat sich verändert, seit ich in der Volksschule war? Natürlich schwingt da auch mit, dass ich ja ebenfalls nicht der Mehrheitsgesellschaft angehöre. Als ich in der Volksschule war, hing das Kreuz überall und es wurde in der Früh gebetet. Ich habe mich als totale Außenseiterin gefühlt! Bei allem, was man macht, findet man irgendwann einen Widerhall in sich selbst. Auch wenn ich mit Menschen aus Afrika spreche, kann ich etwas über mich erfahren. Mich interessiert immer das, was ähnlich ist. Ich möchte nicht das Exotische zeigen.

T. L.: Wie kommen Sie zu Ihren Themen? Oder kommen die Themen zu Ihnen?

R. B.: Das ist schwer zu beantworten. Einerseits denke ich, dass man alle Themen in sich hat und die meisten wahrscheinlich in der eigenen Kindheit und Jugend begründet sind. Sie schlummern in einem und plötzlich gibt es einen Auslöser und dann kommt eine Idee. Sie bleibt aber nur, wenn sie auch eine Verankerung in einem größeren Zusammenhang findet, der einem schon lange wichtig ist, der auf irgendeine Weise mit einem selbst zu tun hat. Die Idee, die Geschichte der „Mutzenbacher“ zu behandeln, hat sicher etwas damit zu tun, dass ich das Buch als Kind gelesen habe.

T. L.: Wie sind Sie an das Buch gekommen? Es war ja verboten!

R. B.: Na ja, man hat’s gefunden!

T. L.: War das der Playboy Ihrer Generation?

R. B.: „Mutzenbacher“ ist drastischer als der Playboy. Man hat damals nach Informationen gesucht, es gab ja kein Internet.

T. L.: Bevor wir über Ihren neuen Film ausführlicher sprechen – noch eine Frage vorweg: Gab es irgendwann in Ihrer jahrzehntelang andauernden Arbeit Brüche, das Gefühl des Scheiterns? Und wie haben Sie danach weitergemacht? Ich habe es bei mir und anderen Künstlerinnen erlebt, dass sie Scheitern viel stärker auf sich selbst beziehen und nicht so sehr auf die äußeren Umstände, wie ich es bei Männern oft bemerkt habe. Frauen begeben sich eher in die Innenschau und fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben könnten. Verraten Sie mir Ihr Rezept, so lange und so konsequent Ihren Weg gegangen zu sein?

R. B.: Ich habe sehr lange gebraucht, um mich selbst als professionell zu begreifen. Ich dachte, es ist Zufall, dass mir dies oder jenes geglückt ist. Oft dachte ich, nie wieder werde ich was machen, nie wieder wird etwas gut werden. Früher gab es unglaublich viele Krisen, jetzt nicht mehr. Früher sagte ich immer, ich komme nicht in eine Krise, ich lebe ständig in einer Krise. Das hat sich glücklicherweise gebessert. Ich glaube, das Wichtigste ist – gerade für uns Frauen – weiterzumachen, nicht aufzuhören. Trotz der unvermeidlichen Krisen ist es wichtig, in irgendeiner Form dranzubleiben. Man sieht leider immer wieder bei sehr vielen Frauen, dass sie ein, zwei gute Filme realisieren und dann aufhören, weil sie Kinder bekommen, oder weil es mühsam ist, oder man finanziell durchhalten muss. Kinder sind die größte Karriere-Falle für eine Frau.

T. L.: Die Frage ist ja, ob Kinder und Familie mit Ihrem Beruf und vor allem in künstlerischen Berufen generell vereinbar sind oder ob sich das gegenseitig ausschließt?

R. B.: Das ist vor allem eine gesellschaftspolitische Frage. In Frankreich arbeiten die meisten Frauen mit Kindern, weil die ganze Gesellschaft mit Kindern anders umgeht. Ich habe lange in Paris gelebt, auch als mein Sohn klein war. Man sieht da tagsüber keine Frauen mit Kindern. Die Kinder sind in Frankreich von klein auf versorgt und dabei bestimmt nicht unglücklicher als unsere Kinder!

T. L.: Warum erleben Sie diese schöpferischen Krisen jetzt nicht mehr? Sind Sie gelassener geworden? Bestärkt Sie der Erfolg?

R. B.: Ich glaube nicht, dass Erfolg Zufall oder ein Wunder ist, sondern ich weiß mittlerweile, dass die Qualität meiner Arbeit den Ausschlag gibt, und ich habe natürlich mehr Erfahrung, ich kenne die Prozesse. Ich kann auf etwas zurückschauen, was bedeutet, dass auch einmal etwas schiefgehen darf – das ist sogar unvermeidlich! Das wünsche ich mir zwar nicht unbedingt, aber ich kann heute damit anders umgehen.

T. L.: Und früher konnten Sie das nicht so gut: scheitern?

R. B.: Nein, es wurde dann alles gleich so katastrophal, so existentiell. Jetzt freue ich mich einfach darüber, dass ich immer weitermache. Es hat sich durch die Pandemie ergeben, dass ich zurzeit sogar sehr viel arbeite. Da ich ein geplantes Projekt auf Grund der Pandemie nicht umsetzen konnte, habe ich mir das Projekt über die Schule ausgedacht. Der Drehort war in Wien und deshalb konnte ich es trotz Beschränkungen realisieren. Und dann aber kamen die Schul-Lockdowns, was mich wiederum zur Idee brachte, an der „Mutzenbacher“ zu arbeiten. Das war alles ursprünglich so nicht geplant.

T. L.: Wie haben Sie die Männer in „Mutzenbacher“ dazu gebracht, so zu agieren? Sich so frei oder, sagen wir mal – ungezwungen – vor der Kamera zu bewegen? Teilweise entstand der Eindruck, dass die Männer die Umkehrung der Situation gar nicht richtig wahrgenommen haben: Die Herren befinden sich auf der klassischen Besetzungscouch und Sie sind in der Rolle der Fragenden. Das war schon sehr bemerkenswert und faszinierend.

R. B.: Männer sind simpel. Wir haben eine Vorführung für die Männer und deren Frauen organisiert und da war ich dann schon ein wenig aufgeregt, vor allem wegen der Frauen. Aber die Frauen haben den Film geliebt, sehr viel gelacht und fanden das Ergebnis super. Überhaupt lieben Frauen den Film. Manche Männer identifizieren sich mit den Männern und fühlen sich angegriffen. Und sie schämen sich für die Männer. Auch das Konzept ist simpel: Wir haben ein Casting veranstaltet, die Texte als Trigger verwendet, ließen die Männer Texte aus „Mutzenbacher“ lesen und über sich sprechen. Ich wusste natürlich vorher nicht, ob das funktionieren würde.

T. L.: Sie haben in einem Interview zum Film gesagt, dass Frauen sich doch auch wieder mit Männern auseinandersetzen sollten, es gab und gibt so viel Männer, die über Frauen geschrieben, sie gemalt, Filme über sie gedreht haben. Ein interessanter Gedanke. Sind wir erst gleichberechtigt, wenn wir uns auch wieder „dem Anderen“ zuwenden können?

R. B.: Das beschäftigt mich sehr. Ich kenne keinen Roman von einer Frau, die einen Mann als Hauptfigur hat, der so gestaltet ist in seiner Qualität und Tiefe wie beispielsweise „Anna Karenina“ oder „Madame Bovary“. Das ist wirklich sehr schwer! Im Theater oder im Film ist es vielleicht ein bisschen einfacher, weil man sozusagen einen männlichen Körper vor sich hat, einen Mann zu „schreiben“ ist nicht so einfach, aber es ist politisch wichtig und ich finde es angebracht, dass wir Frauen über Männer nachdenken. Wir leben ja in einer Gesellschaft mit Männern, egal ob wir privat in einer Beziehung mit einem Mann oder einer Frau leben. In der Welt leben wir mit Männern und unbestritten ist es eine große Kraft, die diese Männer haben. Sie gestalten einen Großteil der Welt und prägen damit ein Frauenbild. Frauen sollten diese Kraft auch haben, das bedeutet mir viel. Alles ist von Männern gestaltet, die Architektur, die Büroräume, die Medizin, alles! Mich interessieren die Männer auch als „das Andere“. Es wäre für mich nicht spannend gewesen, Frauen die „Mutzenbacher“-Texte lesen zu lassen, weil ich mir vorstellen kann – vielleicht irre ich mich auch –, wie Frauen darauf reagiert hätten. Mich hat mehr interessiert, was Männer tun: Wie setzen sie sich hin, wie gestikulieren, lesen und reden sie? Ich schaue mir die Männer wie fremde Kulturen an. Ich wollte ohne jedes Vorurteil an diese Männer herangehen, einfach ein ethnologisches Interesse daran haben, mir die Männer wirklich anschauen, ohne gleich zu denken, der ist ein Macho, der ist sexistisch oder dies oder jenes. Natürlich gibt es das alles! Aber mich interessiert immer mehr die Comédie humaine, also: mir die Menschen genau anzuschauen, über Vielfalt nachzudenken und nicht militant alles zu beurteilen. Ich bin keine Anhängerin dieser Identitätspolitik, in der jeder nur noch das beschreiben darf oder kann, was er selber ist und kennt, das eigene Geschlecht, die eigene Zugehörigkeit, die eigene Kultur. Wenn man angefeindet wird, nur weil man einen Film über Afrika drehen will. Jeder hat seinen subjektiven Blick. Mich würde ein Film über Wien interessieren, den eine afrikanische Frau gedreht hat. Immer nur im eigenen Saft zu braten ist langweilig.

T. L.: Einer Ihrer Filme, „Die Geträumten“ – in dem die Popsängerin Anja Plaschg und der Schauspieler Laurence Rupp Briefe von Ingeborg Bachmann und Paul Celan lesen –, wäre ja eine gute Bewerbung fürs Theater! Ich würde Sie sofort engagieren.

R. B.: Oh ja, ich möchte gerne einmal Theater machen!

T. L.: Die Herangehensweise war großartig, diese Mischung aus dem Lesen der Briefe, aber dann doch auch dem Spiel in einem dokumentarischen Format.

R. B.: Ich weiß nicht, ob man die Spontanität dieser beiden Darsteller so auf die Bühne bringen könnte – also das, was zwischen den beiden passiert, was passierte, wenn sie nicht gelesen haben, zwischen den Briefen, ihre Spontanität, die ja nicht „hergestellt“ war. Ich würde es vermutlich für die Bühne anders umsetzen und eine Mischung aus Dokumentarischem, Gespieltem und Fiktionalem auf die Bühne bringen, wie es beispielsweise oft bei den Arbeiten von „Rimini Protokoll“ zu sehen ist.

T. L.: Mich hat an dem Film fasziniert, dass es so fließend und unangestrengt zwischen Fiktion und Realität hin- und hergeht. Es wäre spannend, dafür eine Entsprechung auf der Bühne zu finden.

R. B.: Ich habe ja schon einige Installationen gemacht. Das mache ich sehr gerne.

T. L.: Bei den Salzburger Festspielen habe ich Ihre Installation über James Joyce gesehen, der 1928 einige Wochen in Salzburg verbracht hat. Ich fand Ihren Zugang sehr interessant: Der Ausgangspunkt, wenn ich es richtig verstanden habe, war die Angst des Autors vor Gewittern?

R. B.: Der Ausgangspunkt ist immer das Spannendste, ich brauche viel Zeit, um einen spezifischen Zugang zu einem Thema zu finden. Ich lasse mich sehr gerne frei auf ein Thema ein, recherchiere und lese viel und dann gibt es einen Zugang, für den ich mich schließlich entscheide – beispielsweise das Gewitter bei Joyce. Oder eben das alte Wiener Funkhaus als Setting bei „Die Geträumten“, um zu zeigen, wie zwei Menschen mit diesen Briefen umgehen. Die Phase, bis man ein konzises Konzept hat, ist aufregend. Was passiert, weiß man vorher nicht, weil auch da immer unvorhersehbare Dinge passieren können. Den Inhalt kennt man ja, aber die richtige Form für die Inhalte, die einem besonders wichtig sind oder wo man den Finger darauflegen will, oder wo man fokussieren muss – die Form dafür zu finden ist der schwierigste Prozess.

T. L.: Wie lange beschäftigen Sie sich mit einem Thema?
 
R. B.: Im Schnitt arbeite ich drei Jahre oder länger an einem Projekt. Es kann sehr lange dauern. „Mutzenbacher“ hat jedoch nur ein Jahr gebraucht.

T. L.: Wie läuft die Finanzierung?

R. B.: Wir könnten ohne Finanzierung durch die öffentliche Hand keine Filme machen. Es gibt Geld für die Stoff- und Projektentwicklung, für Vordreharbeiten, für die Besichtigung von Drehorten, für Castings, und dann geht es weiter mit der Herstellungsfinanzierung, anders würde das nicht funktionieren.

T. L.: Das heißt, auch Sie mit Ihrem Renommee müssen jedes Projekt neu finanzieren und beantragen?

R. B.: Ja. Die Konzepte werden bei verschiedenen Stellen eingereicht und man bekommt hoffentlich Geld für die Umsetzung. Seit dem Jahr 2000 bin ich auch meine eigene Produzentin.

T. L.: Das ist einerseits eine Form von künstlerischer Autonomie, die sicher sehr befreiend ist. Andererseits muss man ja dann alles aus sich selbst schöpfen. Wäre es nicht manchmal auch schön, wenn ein Stoff, eine Produktion an Sie herangetragen werden würde?

R. B.: Oh ja! Beispielsweise die Installation zu James Joyce war ein Auftragswerk der Salzburger Festspiele.

T. L.: Sie sind das, was man gemeinhin eine Kosmopolitin nennt, und Sie haben in sehr vielen Städten und Ländern gelebt. Warum sind Sie nach Ihrem Studium nicht in New York geblieben? Oder in Paris? Hat es Sie immer zurück nach Hause gezogen?

R. B.: Ich wollte in New York nur für meine Dissertation recherchieren, aber ich hatte von vornherein geplant, dort nicht zu bleiben. Ich hätte auch gar nicht bleiben können, habe eher überlegt in Paris zu leben, aber es zieht einen dann doch dahin zurück, wo man alle Nuancen kennt und die eigenen Wurzeln findet.

 

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