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„Seit ich in Haft bin, hat sich die Welt ziemlich ausgiebig verändert“

Jura Soyfers Fluchtversuch und seine Zeit im Innsbrucker Polizeigefängnis. Von Erwin Uhrmann

Der 13. März 2023 ist ein warmer, sonniger Wintertag im Montafon, dem hoch gelegenen Tal im Vorarlberger Oberland, in dem sich die Bergsilhouetten Österreichs mit denen des Schweizer Prättigau verzahnen. Am Bahnhof Schruns enden die Gleise, keine 15 Kilometer hinter der alten Eisenbahnerstadt Bludenz. Es ist halb neun in der Früh. Einheimische und Skifahrer steigen aus und warten auf Busse, die von hier die umliegenden Orte und Skilifte anfahren. Bus 670 sollte schon zum Einsteigen bereit sein, da fährt ein anderer ein, die Tür geht auf, die Fahrerin schaut heraus. Ein Mann in Skischuhen, er wirkt nervös, geht auf sie zu, fragt, ob das nun der Bus nach Gargellen sei. Die Fahrerin schüttelt den Kopf, steigt aus und richtet sich an alle Umstehenden. Es tue ihr leid, Bus 670 habe eine Panne: Es wird noch dauern. Knapp eine halbe Stunde später fährt der erwartete Bus vor.

Auf den Tag genau vor 85 Jahren waren die beiden Freunde, der Schriftsteller Jura Soyfer und der Jurist Hugo Ebner, hier durchgekommen. Sie waren über Nacht mit dem „Schweizer D-Zug“1 von Wien aus nach Bludenz gefahren, dort umgestiegen und wahrscheinlich schon von Schruns aus auf Skiern in Richtung Gargellen gegangen. Aufgebrochen waren sie am 12. März in Wien, dem Tag des „Anschlusses“, nachdem sie zu dem Entschluss gekommen waren, dass die politische Situation zu gefährlich für sie geworden sei und es gut wäre „zu verschwinden.“2 Der spätere Architekt Victor Grünbaum hatte sie zum Bahnhof begleitet.
Nur wenige Tage vor der Flucht, am 8. März, wurde Ebner zum Doktor der Rechte promoviert; und Jura Soyfer war davor im Zuge der Februaramnestie, die nicht nur Nationalsozialisten, sondern allen politisch Inhaftierten, also auch Marxisten, entgegenkam, aus der Haft entlassen worden; er war unter anderem des Hochverrats wegen kommunistischer Aktivitäten angeklagt gewesen.3 Weil sein Pass abgelaufen war, blieb ihm eine reguläre Ausreise, wie sie in den Tagen nach dem „Anschluss“ von vielen versucht wurde, verwehrt.
Der Fluchtplan war in den hektischen letzten Stunden in Wien entstanden und sah vor: von Vorarlberg aus auf Skiern in die Schweiz, dann weiter nach Paris, wo schon seit 1935 die Brüder von Rosa Marie Kraus (Rosl genannt), Hugo Ebners Freundin, lebten. Ein Plan, den in diesen Tagen vor allem jüdische Menschen, Kommunisten, Sozialisten und andere, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, fassten. Dass die Wahl Ebners und Soyfers ausgerechnet auf Gargellen fiel, hatte damit zu tun, dass Ebner sich in der Gegend auskannte, weil er dort, wie viele Quellen berichten, schon 1937 zum Skifahren gewesen sei – manchmal wird sogar von Skiurlaub geschrieben. Wäre so ein Urlaub realistisch für einen politisch aktiven Antifaschisten in diesen Zeiten? In den Erinnerungen von Rosl Ebner (vormals Rosl Kraus, die beiden heirateten nach dem Krieg) ist mehr über diesen „Urlaub“ zu erfahren, der keineswegs dem Vergnügen gedient hatte. Ebner und Kraus hatten im Februar 1937 eine Gruppe arbeitsloser Genossen über die Grenze in die Schweiz gebracht, damit diese dann bei den Internationalen Brigaden in Spanien gegen den Franco-Faschismus kämpfen konnten. „Wir sollten nach außen hin sozusagen eine harmlose Skifahrergruppe bilden, dafür war ich mitgenommen worden“, so Rosl Ebner4. Hugo Ebner hatte also schon einmal eine Gruppe zur Grenze begleitet. Nur war das Risiko nach dem „Anschluss“ weitaus größer.

Den Abschied in Wien überschattete ein kurzer Streit zwischen dem Paar, denn Hugo Ebner hatte seine Freundin Rosl versucht zu überreden, mit ihnen zu fliehen, und es so formuliert, dass es klang, als solle sie zur Tarnung dabei sein, damit es mehr wie ein Skiausflug aussehe.5 Das hatte sie verärgert, denn gefährdet waren sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung – bei Soyfer und Ebner kamen die politischen Aktivitäten als Antifaschisten und Marxisten dazu – schließlich alle drei.

Jura Soyfer wurde am 8. Dezember 1912 in Charkiw, damals Russisches Kaiserreich, geboren. Er stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie, sein Vater war der Industrielle Wladimir Soyfer und seine Mutter Ljubow Soyfer eine bekannte Salondame. 1920 musste die Familie vor den Folgen der Oktoberrevolution und wegen des Antisemitismus fliehen und gelangte über Istanbul nach Österreich. Zunächst lebten die Soyfers in Baden, ab dem Jahr 1923 dann in Wien, wo Jura das Gymnasium in der Hagenmüllergasse im dritten Wiener Bezirk besuchte. Die Zeiten waren stürmisch in Österreich und prägend für Juras Jugend, der sich zunehmend für die Sache der Arbeiter begeisterte. 1927 gipfelten die Auseinandersetzungen zwischen den rechtsgerichteten Frontkämpfern und dem sozialdemokratischen Schutzbund nach dem Schattendorfer Urteil im Brand des Justizpalastes. Im selben Jahr trat Jura dem Verband Sozialistischer Mittelschüler bei, für deren Zeitung „Der Schulkampf“ er schrieb, ebenso wie für das Politische Kabarett der Sozialdemokraten. In der sozialdemokratischen Jugendbewegung, in der Gruppe der „Achtzehner“, entstanden langjährige Freundschaften, auch jene mit Hugo Ebner.

Schon ab seinem 19. Lebensjahr schrieb Jura unter anderem für die Arbeiter-Zeitung – zunächst einen feuilletonistischen Text und kurze Zeit später und bis 1934 jeden Sonntag ein Gedicht. Keine Poesie im klassischen Sinn, sondern politische Dichtung mit offen satirischem Charakter. Er war ein begnadeter Sprachspieler, und obwohl Deutsch nicht seine Muttersprache war – das war Russisch, und er sprach auch Französisch –, beherrschte er den Wiener Ton und das Spiel mit der Sprache, mit Mehrdeutigkeiten und Klängen. In vielen Gedichten thematisierte er den Aufstieg der Nationalsozialisten. Etwa in der Ausgabe der Arbeiter-Zeitung vom 10. Juli 1932, im Gedicht „Hitler stellt sich vor“:
Haben Sie vielleicht getrag’ne Sachen?
Alte Phrasen, nordisch, völkisch-frei?
Wenn sie schäbig sind, soll’s mir nicht machen,
Her damit, ich richt’ sie schon auf neu!
Haben Sie vielleicht von bessern Kreisen
Abgelegten Geist samt Uniform?
Her damit! Ich kauf zu besten Preisen,
Mein Bedarf ist nämlich ganz enorm!
Ich kauf jede Pofelwar’,
Ich kauf Gesinnungen in bar!
Hier Firma NSDAP. –
Handlee! Handlee! Handlee! Handlee!6

Jura Soyfers schriftstellerische Tätigkeit war aber nicht nur auf Lyrik beschränkt. Er schrieb neben feuilletonistischen und politisch-programmatischen Texten vor allem für Kleinkunstbühnen und machte Agitprop. Mit der Abschaffung der Demokratie und den Zensurmaßnahmen begann die Kabarettszene in Wien zu blühen. Allerdings verstand sich diese Kabarettform nicht mehr als Unterhaltung, wie noch in den 1920er Jahren, sondern in erster Linie als politischer Protest. Jura Soyfer war in dieser Szene bald eine zentrale Figur. Er wurde Hausautor des Kabarett ABC, das 1934 gegründet wurde. Dafür entstanden neben Programmen und Sketches die fünf Stücke „Weltuntergang“, „Der Lechner-Edi schaut ins Paradies“, „Astoria“, „Vineta, die versunkene Stadt“ und „Broadway Melodie 1492“. Stücke, die allesamt Kritik an den Gefahren von Faschismus, dem aufkommenden Nationalsozialismus und dem Schwinden der Solidarität üben. Ähnlich wie Brecht war Jura Soyfer das Theater nicht ein Ort der Unterhaltung, sondern der politischen Bildung. 1932 schrieb er: „Das Leben des Proletariers ist durch und durch politisch. Soll ihm das Theater mehr bringen als bloße Ablenkung durch die Illusion einer Scheinwelt, so muß es selbst politisch sein! (…) Das Agitationstheater ist eine wirksame Waffe im Klassenkampf. Die Kleinbühne leiht uns ihre satirische Kraft, das Massentheater sein wuchtiges Pathos.“7
1933 wurde das Parlament von den Austrofaschisten ausgeschaltet. Nach den Februarkämpfen von 1934 schloss sich Jura Soyfer den illegalen Kommunisten an. Sowohl als Schriftsteller als auch als Widerstandskämpfer scheute er weder Zensur noch politische Verfolgung. Im November 1937 wird er verhaftet, seine Schriften beschlagnahmt und teilweise vernichtet. Seine letzte kurze Freiheit, zwischen der Februaramnestie und dem Fluchtversuch mit Hugo Ebner, währte gerade einmal 25 Tage.

Vor Gargellen füllt sich der Bus mit Skifahrern. Fast alle Pisten ringsum sind aper, nur für Gargellen hält die von der Tourismuswerbung ausgegebene Schneegarantie – dieser viele Schnee, der wurde auch schon vor 85 Jahren thematisiert: „Gargellen ist zur Zeit gut belegt. Es sind Gäste aus Holland, England, Frankreich und Deutschland anwesend. Die günstige Schneelage gestattet einen vorzüglichen Schisport. Den Personenverkehr nach Gargellen besorgt täglich ein Raupenschlepper der Bundespost“8, schrieb der Bludenzer Anzeiger im Februar 1938. Ob Jura Soyfer und Hugo Ebner wenige Wochen später mit den Skiern schon von Schruns in Richtung Gargellen aufstiegen oder noch ein Stück mit dem Bus fuhren, ist nicht klar. Ebner machte später dazu unterschiedliche Angaben. Fest steht jedoch ihre geplante Fluchtroute, die über Gargellen und das Schlappiner Joch, einen 2.201 Meter hohen Gebirgspass zwischen Vorarlberg und Graubünden, führen sollte.
Ich steige im Ortszentrum aus, gleich gegenüber sehe ich das Hotel Madrisa, neben der Kirche. Es stand schon, als Jura Soyfer und Hugo Ebner hier vorbeikamen – wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zum Hotel umgebaut, als der Sommertourismus einsetzte. Davor war es ein Säumerwirtshaus, eine Raststätte für die Vorbeiziehenden, die das Schlappiner Joch jahrhundertelang als Durchgang nutzten. Es galt als schnellste Verbindung zwischen Vorarlberg und Oberitalien, zwischen Bodensee und Comer See.
Direkt bei der Bushaltestelle, unter einem pyramidenförmigen Apartmenthaus, ist neben Dorfladen und Schmuggler Bar das Tourismusbüro in die Ladenzeile geklemmt. Ich trete ein, der Mann hinterm Tresen telefoniert. Es ist ungewöhnlich gemütlich, am Fenster steht eine gepolsterte Eckbank mit Tisch und geklöppelter Decke, das erinnert mich an eine Bauernstube im Waldviertel. Als der Mann seinem Gegenüber etwas zu den Wanderwegen im Winter erklärt, höre ich zu. Ein Teil des Wegenetzes werde für Wandernde präpariert und sei eigens beschildert. Nachdem er aufgelegt und mich begrüßt hat, will ich wissen, ob es einen Winterwanderweg gibt, der weiter in das Tal hineinführt nach Vergalden. Er faltet eine Karte auseinander. Es sei nicht weit, ein Kilometer etwa. Vergalden ist genau der Ortsteil, in den ich will. Dort steigen die Wege in die Berge auf, in das Valzifenztal und zum Schlappiner Joch. Ich nehme die Wanderkarte, kaufe drei Ansichtskarten, und – schon im Gehen – frage ich den Mann, ob er etwas über den Schriftsteller Jura Soyfer wisse, der 1938 über Gargellen in die Schweiz fliehen wollte. Er wiederholt den Namen: Jura Soyfer. Nein, sagt er freundlich. Wenn ich mich für Geschichte interessiere, meint er, könnten die Montafoner Museen interessant sein. In dem Moment sehe ich ein Fotobuch der Gruppe „Teatro Caprile“ hinter ihm, die in Gargellen die Theaterwanderung „Auf der Flucht“ inszeniert und sich mit Publikum auf die Spuren der Flucht von Jura Soyfer und Hugo Ebner begeben hat. Ich deute darauf. Er holt es. In der Tür sehe ich zwischen den Werbeprospekten Flyer stehen, in denen die Theaterwanderungen der kommenden Saison angekündigt sind, nehme einen mit. Einen Flyer, denke ich, ein Flugblatt, denke ich. Von Flugblättern gibt es auch in Jura Soyfers Werk einiges zu lesen. Etwa ein illegales Flugblatt der KPÖ, in dem Soyfer über den „Mord von Rodaun“ schreibt. Der junge Kommunist Richard Suchy war Ende 1936 verhaftet und kurz darauf erhängt aufgefunden worden. Das hatte Soyfer, der bereits bestens im kommunistischen Widerstand vernetzt war, zutiefst getroffen.

Der Winterwanderweg in Richtung Vergalden führt an einem Skilift vorbei. Mir wird bange, als ich die Piste queren muss. Mitten im Hang fällt mir auf, dass kaum jemand an mir vorbeifährt. Ein rosa Schild markiert den Wiedereinstieg in den Weg, der ab hier in den Wald führt. Tatsächlich ist er gut präpariert, man geht auf relativ festem Schnee. Nach vielleicht 200 Metern sehe ich oberhalb des Weges eine Hinweistafel: die Julius-Ruhe. Hier wird eines Alpinisten und Fabrikanten gedacht. Wo wird Jura Soyfers gedacht?
Der Schnee glitzert zwischen den sattgrünen Nadelbäumen. Es geht bergauf, und nach einiger Zeit komme ich zu einem Wegschild mit der Aufschrift „Schlappiner Joch“. Danach gelange ich durch eine Senke und über eine Brücke bergauf, direkt an einem Hotel vorbei. Ich bin in Vergalden angelangt und erstmals sehe ich den Durchlass zwischen den Bergen, es muss der Fluchthorizont für Soyfer und Ebner gewesen sein. An den Häusern vorbei folge ich dem Weg, dann kürze ich ab. Der Winterwanderweg würde noch ein Stück bergauf führen und in einer Kehre zurück in das Ortsgebiet. Ich steuere aber auf die große Schneise vor mir zu, stapfe durch den Schnee und gelange zu einer Häuserzeile, an deren Ende das „Berghotel Vergalden“ liegt. Neben dem 1970er-Jahre-Bau sind die Wege ausgeschildert. Ein Schild zeigt: 1.600 Meter Seehöhe, ein anderes mit Pfeil „Schlappina Joch 2 ½ Stunden“. Es wirkt, als habe ein Riese hier einen Durchgang in die Landschaft getrieben, die Täler steigen in die Höhe. Dort oben gibt es einen Durchgang durch diese Alpenfestung mit ihren spitzen Bergzinnen. Ich sehe den Weg, doch ab hier käme ich nur auf Tourenskiern weiter. So nahe ist die Schweiz.

Vor meiner Reise hatte ich versucht, festzustellen, wo genau Jura Soyfer und Hugo Ebner auf die Gendarmen trafen, hatte aber nichts Genaues finden können. Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, der im Jahr 2022 das Projekt „Über die Grenze“9 leitete, sagte mir am Vortag noch am Telefon, dass das wahrscheinlich niemand weiß. An einer der 52 Hörstationen, in denen die Fluchtgeschichten Verfolgter zwischen 1938 und 1945 entlang eines Radweges zwischen Österreich, der Schweiz und Liechtenstein angehört werden können, wird auch jene des Fluchtversuches von Jura Soyfer und Hugo Ebner erzählt. Eine der wichtigsten Quellen ist ein Interview mit Hugo Ebner, das der Historiker Hans Schaffranek im September und Oktober 1984 geführt hatte. Darin macht Ebner zum Ort der Festnahme keine allzu konkreten Angaben: „Hinter Gargellen wurden wir von einer Gendarmeriepatrouille kontrolliert …“10 Ich schlug den Weg nach Vergalden ein und vermutete, es müsse wohl irgendwo zwischen hier und Gargellen passiert sein.
Von den Umständen der Festnahme weiß man mehr. Hugo Ebner berichtete von drei Gendarmen, „einem, dem die ganze Sache nicht sehr angenehm war, einem zweiten, an den ich mich nicht mehr erinnere, und einem dritten, der offenbar ein Nazi war“11. Ein Stück Zeitung, in das eine Sardinendose eingewickelt war, die Ebner als Wegzehrung eingepackt hatte, machte die beiden für den Nazi verdächtig – obwohl es eine, wie Ebner anmerkte, „legale Gewerkschaftszeitung aus dem Jahr 1936, also eine vaterländische“12 war. Soyfers und Ebners politische Gesinnung hatte nichts mit dem unmittelbaren Grund der Verhaftung zu tun. Rosl Kraus berichtete später davon, dass sie die Sardinendose als Proviant beim „Greißler Tillinger in der Währingerstraße“13 in Wien gekauft hatte. Der Greißler selbst hatte die Dose in das besagte Stück Zeitungspapier eingewickelt. Dass die beiden unter einem harmlosen Vorwand festgehalten werden konnten, hatte damit zu tun, dass noch am Tag des „Anschlusses“ Verfolgung und Terror einsetzten. Himmler verordnete sofort, dass Gestapo, SS und Polizei auch außerhalb des gesetzlichen Rahmens für sie als verdächtig geltende oder missliebige Personen verhaften durften. Ebner berichtete, dass bereits während der Zugfahrt nach Vorarlberg Nazis Kontrollen durchführten und „einige, die ihnen besonders jüdisch vorkamen, herausfischten …“14 In Vorarlberg waren die Vorbereitungen für den „Anschluss“ schon Tage davor in vollem Gange gewesen, die Grenzen von einheimischen Nationalsozialisten teilweise schon abgeriegelt, bevor noch die deutschen Soldaten einmarschiert waren.

Auf dem Rückweg vom Ortsteil Vergalden drehe ich mich noch ein paar Mal um und schaue in Richtung Schlappiner Joch. Selbst wenn Soyfer und Ebner es geschafft hätten, wäre es noch immer unsicher gewesen, ob sie dort weitergekommen wären, weil die Schweiz mit den Flüchtlingen in dieser Zeit rigoros vorging und die Bedingungen laufend verschärfte, schon am 1. April 1938 wurde eine Visumspflicht eingeführt.
Kaum jemand sitzt im Bus, als ich Gargellen wieder verlasse.

Soyfer und Ebner wurden nach ihrer Verhaftung in Gargellen ins neun Kilometer entfernte St. Gallenkirch gebracht, wo sie eine Nacht im Gemeindekotter verbringen mussten. Man nahm ihnen ihre Skier, die Instrumente ihrer Flucht, ab. Am 14. März wurden sie in das Gefängnis von Bludenz überstellt. Hugo Ebner beschrieb das Gefängnis später als „klein, angenehm und freundlich“15, man gab ihnen Filzpatschen, damit sie den Boden nicht schmutzig machten. Doch schon nach zwei Tagen, am 16. März, wurden sie ins Gerichtsgefängnis Feldkirch überstellt und an die Gestapo übergeben, die durch ein Telefonat mit den Wiener Behörden herausgefunden hatte, dass Soyfer und Ebner „Politische“ waren. Man steckte die beiden in Einzelzellen und verhörte sie ebenso einzeln stundenlang im Keller des Gefängnisses.
Dann traf Jura Soyfer beim Ausgang im Hof einen alten Bekannten wieder, Max Hoffenberg. Er war seit 1933 Mitglied der KPÖ und während der austrofaschistischen Diktatur zwei Jahre lange in Haft gewesen. Hoffenberg hatte ebenso die Flucht über Gargellen versucht. Sein Ziel war Spanien, wo er sich, wie auch viele andere, den Internationalen Brigaden im Kampf gegen den Franco-Faschismus anschließen hatte wollen. Mit einem gefälschten Alpenvereinsausweis war er wenige Meter vor der Grenze festgenommen worden. Laut unterschiedlichen Angaben von Ebner16 und Hoffenberg17 wurden Jura Soyfer und Hugo Ebner im April oder Mai ins Polizeigefängnis Innsbruck überstellt, Hoffenberg einige Wochen darauf. Soyfer-Biograf Horst Jarka nennt als genaues Datum für die Überstellung nach Innsbruck den 3. Juni 1938.18

In Innsbruck waren Jura Soyfer und Hugo Ebner im Polizeigefängnis inhaftiert. Es befand sich an der Ecke Südtiroler Platz und Salurner Straße. Heute ist dort ein Nachkriegsgebäude, in dem sich der ÖGB, eine Postfiliale und ein Café befinden. Einst war dort das Hotel Goldene Sonne. Nachdem es 1924 zugesperrt hatte, wurde es „von der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaft genutzt“19, bis diese vom austrofaschistischen Regime 1934 verboten wurden. Ab 1936 mietete die Bundespolizeidirektion das Gebäude von der Stadt und baute es u. a. zu einem Gefängnis um. Nach dem „Anschluss“ hielten die Nationalsozialisten in der „Sonne“, wie das Gefängnis umgangssprachlich genannt wurde, Kommunistinnen und Kommunisten, Jüdinnen und Juden, und viele andere, die sie als „Staatsfeinde“ betrachteten, fest.
Max Hoffenberg erzählte später in einem Interview mit Fritz Herrmann, der über Soyfer schon 1949 eine Dissertation schrieb, von der Zeit im Gefängnis in Innsbruck. Im Gespräch mit den Polizisten hätten sie eine „gewisse Desillusionierung der Bevölkerung seit den Märztagen feststellen“ können und weiter: „Aber, so dumm es klingen mag, auch wir hatten noch Illusionen.“20
Hugo Ebner wiederum schilderte Begegnungen im Gefängnishof, etwa mit der „Tiroler und Vorarlberger ÖVP-Elite“21, namentlich dem Politiker und späteren Landeshauptmannstellvertreter Hans Gamper und dem früheren Bundeskanzler Otto Ender: „Da hat auch schon die wahrscheinliche Überstellung in ein KZ eine Rolle gespielt.“22 Besonders Gamper sei optimistisch gewesen und habe gemeint, dass alle drei Monate überprüft würde, ob noch ein Haftgrund vorliege, und selbst wenn man nach Dachau komme, würde es nicht so lange dauern. Diese Erzählung deckt sich mit jener Hoffenbergs, derzufolge Hans Gamper gesagt habe, er wisse von seinem Bruder, einem SS-Offizier, dass es in den Konzentrationslagern „nicht mehr so schlimm bestellt wäre.“
Das gab den drei Freunden Zuversicht und wirkte sich letztlich fatal aus. Hoffenberg schildert, dass es im Gefängnishof einen Ausgang gab, der nahezu immer offen war. „Es wäre nicht übermäßig schwierig gewesen, uns bei passender Gelegenheit durch diesen Ausgang zu entfernen. Die Grenze war nicht weit. Doch wir versuchten nicht die Flucht.“ Jura Soyfer hätte außerdem wissen wollen, „wie ein KZ aussehe, um es später schildern zu können.“23 Die Gerüchte, die im Gefängnishof kursierten, verschleierten die immense Gefahr, in der sich die Gefangenen befanden.
Am 15. Juni schrieb Jura Soyfer einen Brief an seine Freundin Helli Ultmann, die damals vorhatte, nach England auszureisen: „Wir hätten uns die letzten Wochen sehr schön gemacht, nicht wahr, und hätten versucht, möglichst viel von dem Glück einzufangen, das wir versäumten und versäumen werden.“24 Damit kommt er auf ein mögliches Wiedersehen zu sprechen und schreibt ein paar Sätze später: „Abschied auf Distanz … Auf wie lange? Ich kann weder mir noch dir einen Begriff davon machen, Liebste. Denn in dem Vierteljahr, seit ich in Haft bin, hat sich die Welt ziemlich ausgiebig geändert. Erst wenn ich mich in Freiheit einige Tage umgesehen haben werde, werde ich eine Ahnung haben, wohin mit mir, mit Dir, mit uns beiden und uns allen. Solange ich in meinen vier Wänden bin, stehen mir nur Erinnerungen und Träume zur Verfügung … Weißt, der Faust, den zu lesen Du dich so hartnäckig gesträubt hast, der sagt einmal: ‚Es sei, wie es wolle, es war schön –.‘ Hat er nicht recht?“

Wenige Tage, nachdem Jura Soyfer diese Zeilen geschrieben hatte, am 23. Juni, „rissen Polizisten die Türen auf und schrien, wir müssten uns innerhalb von 10 Minuten zum Abtransport fertig machen“25. Zunächst, so Hoffenberg, seien Jura Soyfer und er nicht sonderlich aufgeregt gewesen, doch dann hätten sie im Hof „ein Rudel ausgesuchter, zackiger Leute der SS-Verfügungstruppe“ gesehen, „ihre Bewegungen und ihre Kommandos waren so ganz und gar das Gegenteil von dem, was wir bisher von unseren Polizei-Gefängniswärtern gewohnt waren.“26 Daraufhin wurden sie paarweise im Hof aufgestellt, ein SS-Mann drohte jedem, „der sich muckse“, eine Strafe an. „Jura und ich saßen nebeneinander (…) Plötzlich wurde Jura weggeholt. Sie taten ihm zwar nichts, aber ich erinnere mich an seinen seltsamen Gesichtsausdruck, als er zurückkam. Später erzählte er mir, man habe ihm gesagt, daß man jede Disziplinlosigkeit während der Fahrt mit Erschießen bestrafen würde.“27
Jura Soyfer, Max Hoffenberg und Hugo Ebner wurden ins Konzentrationslager Dachau deportiert, erlebten dort Zwangsarbeit, Folter und Erniedrigung. In den folgenden Wochen schrieb Jura Soyfer das Dachau-Lied. Im September transportierte man die drei in das KZ Buchenwald. Im letzten von ihm erhaltenen Brief im Oktober 1938 an die Familie bedankt Jura Soyfer sich für das Organisieren seiner Auswanderungspapiere und bittet, alles so rasch wie möglich zu erledigen. Schon im vorigen Brief hatte er angemerkt, man möge weder Bitten noch Wünsche an die Lagerleitung richten. Die Situation war höchst gefährlich. Doch angesichts der Eltern, die ihm gültige Papiere organisierten, hatte er Zuversicht. Im KZ Buchenwald musste er im Leichenträgerkommando arbeiten und infizierte sich mit Typhus. Als das Ausreisevisum endlich fertig war, erkrankte er schwer. Nur wenige Tage trennten ihn von der Freiheit, als er am 16. Februar 1939, im Alter von 26 Jahren, starb.

Ebenso wie Max Hoffenberg überlebte Hugo Ebner das KZ. Er heiratete Rosl Kraus, kehrte nach Österreich zurück und gründete eine Rechtsanwaltskanzlei, mit der er sich für die Pensionen jüdischer Vertriebener einsetzte. Er starb 1997 im Alter von 84 Jahren.

Ich suche mir einen ruhigen Ort am viel befahrenen Südtiroler Platz in Innsbruck, lese noch einmal Jura Soyfers Brief an Helli Ultmann, den er im Polizeigefängnis geschrieben hatte. Es sind sehr persönliche Worte, die er an seine Freundin richtet. Irgend etwas sollte an diesem Ort – von dem aus Jura Soyfer in die nationalsozialistische Todesmaschinerie deportiert wurde – an ihn erinnern.

Ich danke Niko Hofinger, dem Haushistoriker der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg und Archivar im Stadtmuseum Innsbruck, Hanno Loewy, dem Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, dem Literaturvermittler Robert Renk sowie Lisa Köll von der Landespolizeidirektion Tirol für ihre Hilfe.

1 Kuretsidis-Haider, Claudia: Österreichische Pensionen für jüdische Vertriebene. Die Rechtsanwaltskanzlei Hugo Ebner: Akteure – Netzwerke – Akten, S. 241, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien, 2018
2 Ebd.
3 Reiter-Zatloukal, Ilse: Die Begnadigungspolitik der Regierung Schuschnigg. Von der Weihnachtsamnestie 1934 bis zur Februaramnestie 1938, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, 2. Jahrgang, Band 2, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaft, 2012, S. 355
4 Stumpf-Fischer, Edith / Erker, Linda / Drechsel-Burkhard, Anna (Hrsg.): Rosl Ebner: „… daß du die Stimmung der Jahrzehnte spürst“, Neue Ergebnisse der Frauenbiografieforschung 21, PRaeSENS, 2019, S. 73
5 Stumpf-Fischer / Erker / Drechsel-Burkhard, S. 84
6 Soyfer, Jura: Dichtungen, Jura Soyfer Edition 2012, Band 3, Jura Soyfer Gesellschaft, Wien, 2012, S. 132/133
7 Soyfer, Jura: Prosa, Jura Soyfer Edition 2012, Band 3, Jura Soyfer Gesellschaft, Wien, 2012, S. 202
8 Bludenzer Anzeiger, 26.02.1938, S. 3
9 www.ueber-die-grenze.at. Alle Hörstationen können auch online abgerufen werden, als Text und zum Hören, darüber hinaus wird auch historisches Bildmaterial gezeigt.
10 Kuretsidis-Haider, S. 241
11 Ebd., S. 242
12 Ebd., S. 242
13 DÖW-Bibliothek 21.003, Erinnerungen von Rosl Ebner, S. 298
14 Kuretsidis-Haider, S. 241
15 Kuretsidis-Haider, S. 242
16 Kuretsidis-Haider, S. 246: Ebner nennt April oder Mai als Zeitpunkt der Überstellung nach Innsbruck.
17 Herrmann, Fritz: Jura Soyfer. Die Anfänge eines volksverbundenen österreichischen Dichters, Dissertation, Universität Wien, 1949, S. 178. Hoffenberg meint, Soyfer sei im Mai nach Innsbruck transportiert worden.
18 Jarka, Horst: Jura Soyfer. Leben. Werk, Zeit, Löcker, Wien, 1987, S. 543. Jarka zitiert hier eine Haftbestätigung über Hugo Ebner, ausgestellt vom Gefangenenhaus des Landesgerichts Feldkirch am 16.12.1952; laut Ebner gelten diese Daten auch für Jura Soyfer.
19 Pirker, Peter: Institutionen und Tat-Orte. Justiz und Polizei in Innsbruck während der NS-Herrschaft, 1938–1945, unter: www.treuundredlichkeit.at
20 Herrmann, S. 177
21 Kuretsidis-Haider, S. 246
22 Ebd.
23 Herrmann, Fritz: Jura Soyfer. Die Anfänge eines volksverbundenen österreichischen Dichters, Dissertation, Universität Wien, 1949, S. 178
24 Soyfer, Jura: Briefe, Jura Soyfer Edition 2012, Band 3, Jura Soyfer Gesellschaft, Wien, 2012, S. 177
25 Herrmann, S. 170
26 Herrmann, S. 170/171
27 Herrmann, S. 170/171

 

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