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Marginaltext (14):
Die liebe Kultur, die alle im Munde führen

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, denen trotz ihrer herausragenden Qualität zu wenig Aufmerksamkeit beschieden ist. Sei es, dass sie schlicht zu wenig bekannt, längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, sei es, dass sie an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden sind. Folge 14: das Manuskript zu einem Vortrag, den der Autor, Radiomacher und Regisseur Axel Corti im Juni 1992 in Ritten oberhalb von Bozen gehalten hat.

Und manchmal etwas zu lange. Dann wird sie süßlich. Oder gatschig. Und schmeckt wie Krankenkost. Oder sie zieht Fäden. Wie Kaugummi. Und die geschicktesten Kulturwarte können den Gummi zu verblüffenden Blasen aufpumpen mit der Goschen und mit dem Zigarettenrauchatem. Wenn sich’s um betont ländliche Kultur handelt, muaß a Pfeifele her. Aber der Gummi wird gekaut, trotzdem.
Die liebe Kultur. Manchmal trocknet sie aus. Und dann staubt sie wie ein garantiert biologisches Industriemüsli. Gesund. Aber grauslich.

Drei Geschichten, kleine, die ich erlebt habe und erlebe: Ich wohne teilweise in einem Dorf, in dem, Dank der obersten Baubehörde in Form des Bürgermeisters, viele Jahre hindurch gesichtslose, schablonisierte Kistenbauerei herrschen durfte. Die Neigung des Dachwinkels – penibel genau muß die eingehalten werden. Geschoßanzahl, Höhe, Fensteranzahl – alles nach Vorschrift. Und so sieht es dann aus. Bauernhöfe – die neuen – die wie Schuhfabriken aussehen, manchmal salzburgisch-bajuwarisch leicht gehübscht. Fenster wie Augenhöhlen in Totenköpfen. Und so weiter. Sie kennen das. Und haben solche Bürgermeister auch gewählt. Und dann – es gibt nämlich auch noch schöne Häuser in dem Dorf – kommt eines Tages einer daher, zugegeben einer, der etwas mehr Geld hat als im Dorf alle zusammen (aber die wollen ja bekanntlich auch bloß immer mehr), kommt also und kauft eines der scheußlichsten Häuser des Dorfes. Dicht bei der wunderschönen Kirche und beim historisch bedeutsamen Schulhaus gelegen, und vor einem der zwei allerschönsten Häuser des Dorfes, so daß das ganz verdeckt war. Kauft die grausliche Bude, und nur zu einem Zweck: um sie abzureißen. Ein gesundes, aber ekelhaft häßliches Haus. Und schenkt der Gemeinde den leeren Platz. Als Dorfplatz. Siedelt dort nicht einen superputzigen, urigen, in allen furnierten Stubenbrettern krachenden Wirten an – äußerlich ein Alpinweißrößl. Nein. Schenkt den Platz. Dadurch sieht man die Kirche, die Schule und vor allem das wunderschöne alte Haus. Auf dem Platz parken sonntags, bei der Messe, die Autos der Bauern. Ab und zu ein Auto von Menschen, die die Kirche besuchen wollen. Sonst ist es ein stiller Dorfplatz. Kultur. Ja, Kultur. Zugegeben: der Spender konnte sich’s leisten. Aber: immerhin.

Zweite Geschichte. Rauris, im Salzburgischen. Eines Tages tun sich da ein paar Leute zusammen – ja, von mir aus, auch der Fremdenverkehrsreferent ist dabei – und denken sich etwas aus, das sie die Rauriser Literaturtage nennen. Sie laden Schriftsteller ein, Dichter, aber wirkliche, keine biederen Bravhinterherschreiber, sie haben eine Jury, aus kontroversiellen Persönlichkeiten des literarischen Lebens – die Dichter kommen – manchmal auch nicht, setzen sich in die Gaststuben, zu bestimmten Zeiten, und lesen aus ihren neuesten Werken. Jetzt sitzen sie schon in größeren Sälen, Gemeinde, Schule und so. Aber ursprünglich: in der Wirtsstube. Und die Kritiker kommen. Und allerhand Publikum kommt. Und man weiß auf einmal, daß es Rauris gibt. Ja, ein geplanter Nebeneffekt, aber man hätte sich ja auch was Blöderes einfallen lassen können. Und nach und nach hockt auch manchmal ein Rauriser dabei und hört zu. Und stellt auch gelegentlich einmal eine Frage. Und liest auch einmal ein Buch von diesem seltsamen Schreiberling, der da eben vorgelesen hat. Die Gemeinde – zögerlich, spröde, aber immerhin – beginnt die Sache, über den geplanten Nebeneffekt hinaus, ernst zu nehmen. Und Gefallen daran zu finden, daß es auch noch etwas anderes als Fremdenbetten gibt auf dieser Welt – und wie die etwa zu füllen sind.

KULTUR? Womöglich …

Dritte Geschichte: In einer kleinen, aber sehr schönen Stadt in Österreich wollen sie mehr und mehr Kunstausstellungen machen. Die Hauptstadt ist nicht weit, wunderbarer Wein wird bei der kleinen Stadt angebaut, und auch Mohn. Aus dem machen die Bäckereien herrlichwunderbare Zelten. Und sie haben eine alte gotische Kirche, die benützen sie seit langem als Ausstellungshalle. Na gut. Aber jetzt: bauen sie. Und planen sie. Und scharren Subventionen zusammen. Und nehmen die Politiker – tunlichst vor den jeweiligen Wahlen – ins Gebet. Und siehe da: Sie bauen eine riesige Ausstellungshalle dazu. Und sie laden einen ein, von dem sie meinen, der würde ihnen nun was Schlaues über die Kultur in der Provinz – „die aber, bitte sehr, keine Provinz ist“ – erzählen, und wieso man nun die Malerei der ganzen Welt hierher, und nicht dorthin, wird holen wollen. Und überhaupt, hören Sie: „Es ist oder ist im Werden: die größte Kunstausstellungshalle des Landes. Die größte!“ Na bitte, wenn das kein Argument sein soll. Die Bilder? Natürlich die besten. Die Künstler? Natürlich die berühmtesten! Und die Halle? Die Halle ist: die größte.

KULTUR?

Es ist komisch, man kann gar nichts dazu sagen. Bloß lachen könnte man, aus vollem Herzen lachen, wenn es sich nicht genauso abgespielt hätte.
Die Moden werden so bedient. Die Trends werden so gefüttert, einmal mehr. Hinterhergehechelt wird dem Zeitgeist, und zwar dem von gestern. Oder gestern nachmittag … „Er muß schon ein bißl etabliert sein. Man muß schon was drüber gelesen haben. Dann kann man ihn in die ,größte Ausstellungshalle‘ …“.
Aber die Kunst von vor zwanzig Jahren? Passé. Schnee von gestern.
Die Kunst, die sich gerade jetzt hervorwagt? In Bulgarien vielleicht? In Litauen? In Armenien? In Sachsen? Jetzt – gerade eben? Kennt man die? – Wieso denn das?

KULTUR?

Ja. Nein. Betrieb jedenfalls. Und die Grenze, die Wasserscheide zwischen Kultur und Kulturbetrieb ist hauchdünn, ist schmal. Ähnlich wie die zwischen Kunst und Kunstgewerbe. Wieviel Kunstgewerbe möchte aber dringend als Kunst verstanden werden. Und siehe, gerade dieses ist es, was Gnade findet vor den Kulturbeiräten und Förderungsgremien. Vor allem dann, wenn es sich um solche handelt, die mit politischer Feder am Hut amtieren. Die schielen nach dem Wähler. Die wollen es allen recht machen. Die möchten ihre Amtsstuben mit netter Kunst schmücken dürfen. Die wollen niemandem vor den Kopf, undsoweiter.

Kultur – die hat sich nicht der Kunst auszusetzen? Hat die nicht zu begreifen, daß die Kunst eines Jahrhunderts – und auch die eines halben Jahrhunderts und eines Jahrzehnts – die unmittelbarste Aussage über ihre Zeit ist? Ist die Kunst nicht das, was bewegt? Und wenn es sich eben nicht um Dekoration für die Stube handelt, dann ist sie womöglich ihrer Zeit ein bißl voraus. Das muß sie sich gar nicht „vornehmen“ und beabsichtigen – das wäre ja schon wieder arg und sich in modernistischen Patschen die Füße wärmend – nein – sie wird es eben sein: Jenseits der augenblicklichen Zeit. Aber ein MOTOR! Sie muß gar nicht gleich konsumierbar sein. Sie muß sich auch nicht prompt subventionierbar gebärden. Sie ist. Kunst darf SUBJEKTIV sein. Und muß das auch. Kunst ist MYSTERIÖS. Und darf sich das erlauben. Und sie hat INTENSIV zu sein, ja! Denn sonst ist sie bloß „geschickt“. Und das wäre allemal die größte Hurerei. Aber: Wer beurteilt das? Wer dreht den Daumen rauf – oder runter? Wer ist schlau von Amtswegen?

Ach, keiner bitte. Wir sollen uns der Kunst aussetzen dürfen, wir sollen uns der Kunst aussetzen können, wir sollen uns der Kunst aussetzen – aber wir sollen nicht auf Abendkurse aus sein, um ihren Vordergrund zu „verstehen“. Der Künstler soll uns nix erklären. Er macht es. Er lebt es. Er leidet, vielleicht, indem er das tut, was man heute halt „machen“ nennt. Dann mag Auseinandersetzung stattfinden. Heute. Jetzt. Hier.
Aber ich muß es erleben dürfen. Ich muß diese Kunst hören, sehen, lesen dürfen. Ihr zuhören. Da kann Kultur in unser Leben eindringen. Da sollen wir ihr die Schleusen öffnen. Und die Türen, meinetwegen.
Die Kultur, die bewahrt, die erhält, die Sauerstoff freimacht für das, was zu zerfallen droht: Hut ab und Kappe dazu. Aber wenn sie nur bewahrt, nur restauriert, nur nach rückwärts blickt, bloß das längst Konsumierbare noch einmal aufkocht und eindickt – die stirbt an Verfettung. Der nächste Schritt ist dann, daß wir den Länderspielen zuzuschauen haben, die sich die Museumwärter mit den Kunsthändlern liefern. Das sind langweilige Kämpfe. Hahnenkämpfe.
Ich weiß schon, KULTUR ist nicht bloß in der Nähe des Nobelpreises angesiedelt. Kultur mag auch sein, wenn ein Bäcker eben noch richtiges Brot bäckt, weil er sich schämte, wenn in seinen Vinschgerln z. B. kein Brotklee mehr und kein Fenchel und zu wenig Anis und nicht der aufgegangene Roggenteig wären – weil er ja weiß, was so und nicht anders gebacken werden muß. Ja, der ist auch ein Kulturträger, schon klar, und einer, der lieber weniger Wein, dafür aber besseren, einer, der lieber kleinere Äpfel, dafür aber solche, die nach etwas schmecken, anbaut – der hat mit Kultur etwas zu tun. Da fängt es an. Er kann nicht im Gremium „Rettet die Kultur der Heimat“, er kann sich auch nicht einmal als „Erwachsener“ bilden lassen wollen, wenn er schizophren lebt. Es wird ihm an Geduld fehlen, dem Erwachsenen, sich der Kultur, nämlich der KUNST, auszusetzen. Er wird den Nutzen suchen. Aber den gibt es nicht! Nicht so prompt. Er wird nach WIRKUNGEN fragen. Aber Kunst will nichts bewirken. Nein und dreimal nein. Wenn sie das vorgibt, lügt sie und schwindelt und ist wie ein Mistkäfer, der eine Kugel aus Scheißdreck vor sich herrollt. Man muß sich der Kunst aussetzen. Ich wiederhole mich, ich weiß schon. Und dann muß man nicht promt das Kreuzworträtsel lösen wollen. Abwarten, eine Woche, ein Jahr, manchmal zehn Jahre. Plötzlich ist man ein Stück weiter im Erkennen.
Erholung soll das sein? Erbauung soll das sein? Bestätigung womöglich des längst Vorgekauten? Zum Mitpfeifen soll sie sein? Den Takt wollen wir mitstampfen. Das Ideal soll abgebildet werden? Welches IDEAL?
Die Kunst, die hat eine Wahrheit von Innen zu sein. Sie ist eine Wahrheit von Innen. Manchmal tut sie weh, kann schon sein. Weil sie eine neue Wirklichkeit ist.
Ich kenne keine bessere Deutung: eine neue Wirklichkeit. Aus der Persönlichkeit.

Ja, sehr schön. Und nun mach mal … Sie läßt sich nicht lehren. Sie läßt sich nicht im Bildungskurs erlernen. Sie läßt sich nur treffen. Antreffen. Und sie ist ein Risiko.
Immer kommt man nicht rauf. Man muß sich mühen. Manchmal Haken einschlagen. Das Seil nachlassen. Wieder anziehen. Man kann abstürzen, wenn man ungeduldig ist. Wenn man die falsche Route geht.
Man kann Schwindelsucht begegnen. Aber auch Schwindelkulturarbeitern.
Kultur – das ist zuerst einmal EINER. Der muß sich lustvoll mühen wollen. EINER. Der muß nicht gleich ein VER-EINER sein. Und sich unters schützende Dach eines Vereines drücken, damit er nicht naß wird, wenn etwa ein Risiko zu hageln begänne.
RISIKO ist dabei, wenn man sich der Kultur nähern will. Die wohnt nicht im Zoo. Da gibt es keine Gräben. Die kann einen anspringen.

Gut so. Sie soll uns nahe kommen. Uns was angehen. Die Wunden, die wir vielleicht abbekommen, die bringen uns weiter. Wenn wir erst unberührbar sind, unverwundbar in unserem Winterschlaffett – dann bricht die Funktionärskultur über uns herein. Und dann Gnade uns Gott! Wenn die politische Macht sich der Kultur anbiedert, wenn die Eröffner kommen, die „Indiesemsinne“-Redner, die Protektoren, die Wegweiser, die Risikominimierer, die Ausgewogenen. Dann wird’s bieder. Dann wird’s fett – aber nicht RUND!
Sehnen wir uns nicht alle nach unkonventionellen Lehrern für unsere Kinder – die das auch sein dürfen? Musische Lehrer, die nicht bloß die Kosten-Nutzen-Rechnung vorstammeln, sondern auch der Unnütz-Rechnung Platz lassen. Die einen Traum zu träumen imstande sind – und die die Dichter lieben und die Maler und die Musiker und davon was erzählen können. Und das Wichtige vor das Nützliche setzen. Sehnen wir uns nicht nach einem Priester, der lachen kann – auch während der Predigt? Der sich traut, Fragen zu stellen, auch sich selbst, und nicht bloß die Antworten aus dem Beutel kramt (…)* nicht fürchtete davor, daß Gott ein Träumer ist, ein Gott ist, der weinen kann und lachen, und der mit dem Rechnen nicht so gut zurecht kommt – was wäre das für eine RISIKO-Kultur, die aus dem Bauch der Kirche strahlte. Aus dem Bauch, nicht aus den Bäuchen.
Aber:
Wir alle haben die Kultur, die wir verdienen.
Die Lehrer, die wir verdienen.
Die Geistlichen, die wir verdienen.
Die Politiker, Kulturpolitiker, die wir verdienen.
Und auch die Zeitungen, die wir verdienen. Die uns unseren Nabel zeigen, immer wieder unseren Nabel. Und uns klein halten. Womit wir uns zufrieden geben, was wir schlucken und wieder schlucken. Was wir einatmen und nicht aushusten, was wir wählen und nicht auslachen, das vergiftet uns.
Die Kultur ist ein Anhängsel. Ein Schlagobershauberl. Ein Zuckerveilchen. So lassen wir’s zu.
Keiner, der sich mit den Künsten eingelassen hat, kein Schriftsteller, kein Künstler soll bei uns je das Sagen haben. Der soll uns behübschen. Vaclav Havel – na gut, a Narr, da hinten in der Tschechei. Aber wir!! Aber WIR? Wir haben Fachleute.

* beschädigte Textstelle

Erstveröffentlichung in: Feldforschung Nr. 01/1995
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Cecily Corti

 

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