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Fließtext*

von Ana Marwan

Ich weiß, Erinnerung ist etwas, das die Gegenwart abbildet und nicht die Vergangenheit. Meine erste Erinnerung ist die an einen Zirkus, der sein Zelt auf einem Grundstück, das unserem Haus gegenüberlag, aufgeschlagen hatte. Heute würde man dieses Grundstück eine Gstätten nennen. Ich war dort mit meiner Mutter und der einzige Artist, an den ich mich erinnere, balancierte auf riesigen Bällen und ging damit über Bretter auf eine hohe Plattform. Meine zweite Erinnerung ist, dass ich normal sein wollte. Meine Eltern stammten nicht aus dem Dorf, in dem wir lebten. Ich sagte zu meinen Eltern nicht Mama und Papa, sondern nannte sie beim Vornamen. Erst im Alter von 12 oder 13 Jahren begann ich die Situation, in der ich mich befand, zu genießen und auch auszunutzen. Wir hatten eine große Bibliothek, seit dem Jahr 1979 einen Videorekorder, der so viel gekostet hatte, dass auch von meinem Sparbuch Geld für seine Anschaffung abgehoben werden musste. Mein Vater sah den ganzen Tag fern und las Nachrichten, und ich begann, mich in Literatur und Politik einzulesen. Den größten Eindruck auf mich machten zunächst drei Autoren. Ich, der ich ja normal sein wollte, lehnte viele Autoren grundsätzlich ab, weil ich der Meinung war, dass sie eben nicht normal waren. Da wir aber – mein Bruder, der drei Jahre jünger ist als ich, und ich – nur eingeschränkten Zugang zu Büchern und Medien hatten, begannen mich die Schriftsteller doch zu beschäftigen. Ich muss dazu sagen, dass wir Bücher für Erwachsene, Kinderbücher, Comics, klassische Musik, Kabarett, Popmusik, Filme für Erwachsene, Filme für Kinder und was es auch immer gab konsumieren durften. Es gab darin keine Einschränkungen und Verbote. Als Erstes faszinierte mich der Roman Germinal von Émile Zola. Seine Darstellung der Arbeiter in einem Bergwerk akzeptierte ich als Literatur, die über das tatsächliche Leben berichtete. Die anderen beiden Bücher, die früh Eindruck auf mich machten, waren Peter Handkes Die Angst des Tormanns beim Elfmeter und Ernst Jandls Gedichtband Sprechblasen. Ich liebte diese Bücher damals und liebe sie bis heute. Und es ist seltsam an dieser Stelle zu sagen, dass ich die damalige Zeit vermisse. Es war – im Jahr 1984 wurde ich 13 Jahre alt – eine aus heutiger Sicht neokonservative Zeit. Als solche empfand ich sie aber nicht. Im Gegenteil. Ich lebte offensichtlich in einer anderen Welt. Ich lernte die Avantgarde der Nachkriegszeit kennen, ich lernte die Geschichte der solidarischen Bewegungen kennen, mich faszinierten Autorinnen und Autoren, die auf dem Gebiet der Darstellung unserer Lebenswelt neue Formen des Erzählens erschufen. Ich muss die Jahre von 1983 bis 1996 zu den wichtigsten und schönsten meines Lebens zählen. Zumindest dann, wenn damit eine positive, optimistische und interessierte Ausschau auf dieser Welt gemeint sein soll. Ganz gewiss ist damit eine Naivität verbunden, die ich heute nicht mehr aufbringe und die auch den gesellschaftlichen Tatsachen nicht entspricht. Dennoch glaube ich, dass meine Generation (ich bin 1971 geboren), die den Kommunismus in Osteuropa, das Aufkeimen der Ökologiebewegung, das Großwerden des Kapitalismus in Westeuropa, aber auch die Existenz einer für die Gesellschaft maßgebenden Kultur und – durch ihre Großeltern – den Rückblick auf die Monarchie und die zwei ihr folgenden Diktaturen erlebt hat, als wahrscheinlich letzte Generation berichten kann, dass vieles von dem, was heute aufgegeben wird, aus langen und zum Teil unendlich schwierigen Kämpfen erst entstehen musste. Dies ist vor allem die Traurigkeit unserer Gegenwart. Nämlich, dass so vielen jungen Menschen heute nicht bewusst ist, mit welcher Leichtigkeit Dinge weggeworfen und verdammt werden, deren Entstehen erst mutiges und resilientes Auftreten gegen die sogenannte normale Gesellschaft möglich gemacht hatte. Die vielen Investitionen in eine liberale Gesellschaft, in eine demokratische Gesellschaft, und in eine Gesellschaft, die sich endlich ihrer Vergangenheit stellt, scheinen für meine Großeltern und Eltern – wie wohl sie selbst unfähig waren, die völlige Konsequenz davon zu akzeptieren – fruchtlos, ergebnislos, oder einfach zu wenig gewesen zu sein. Die Gesellschaft der großen Rückschritte, die heute an allen Ecken und Enden werkt, mehrheitsfähig zu sein scheint und drauf und dran ist, eine Welt zu schaffen, die die Vergangenheit umschreibt und neu definiert, anstatt sich ihrer Realität zu stellen, erfordert eine neue Art des Umgangs und der Bewältigung. Man kann es meiner Generation anlasten oder aber auch vielleicht zugutehalten, dass sie sich hauptsächlich damit beschäftigt, diese Transformation zu kommentieren, zu dokumentieren und zumindest zu versuchen, sie zu verstehen. Ich bin heute 52 Jahre alt. Ich sitze an meinem Schreibtisch und lese Biographien und Darstellungen des amerikanischen Präsidenten William McKinley, der zwischen 1896 und 1901 amerikanischer Präsident war. Und ich muss mich fragen, wie hätten Menschen zu der Zeit, als mein Kinley ermordet wurde – nämlich im Jahr 1901, die damals mein Alter hatten –, also Menschen, die im Jahr 1849 geboren wurden, über ihre Gegenwart sinniert und gedacht. Diese Vorstellung, die Vorstellung von etwas, das man sich nicht vorstellen kann, erscheint mir in der Literatur zentral. Der Tod, das Leben und der Tod unserer Vorfahren, die Geschichte unserer Gesellschaft, die Diskrepanz zwischen unseren Vorstellungen und den Vorstellungen der Mehrheit in der Gesellschaft – das kann niemanden kaltlassen. Wir alle bewegen uns zwischen diesen Polen. Wir können dem Konflikt aus dem Weg gehen. Wir können den Konflikt kleinreden. Wir können alles Mögliche vorschützen. Doch wenn wir alleine mit uns dasitzen und auch nur den oberflächlichsten Gedanken an den heutigen oder gestrigen Tag verschwenden, oder an etwas, das wir gelesen oder von unseren Eltern erzählt bekommen haben, werden wir zugeben müssen, dass unser Leben ohne diese Vergangenheit nicht möglich wäre.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.  Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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