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Eva mag keine Erika im Topf Landvermessung No. 6, Sequenz 6 Nach Cavalese

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen, in dieser Ausgabe zum letzten Mal, unterschiedliche Autorinnen und Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns abschließend auf der Geraden, die vom Südtiroler Vinschgau ins Trentino führt. Elke Laznia (in Vertretung einer erkrankten Kollegin) geleitet uns durch hohe Bergketten von Innsbruck nach Cavalese und wieder zurück. Dabei erkundet sie mit Großmutters Rucksack auf den Schultern die Grenzen zwischen Ländern und Zeiten sowie ihren Mitmenschen und sich selbst.

1
Alles nicht so tragisch, wird schon werden, schreibst du mir; ich hatte dir geschrieben, ich fühl mich wie eine Schülerin, die die Aufgabe nicht versteht, diese Striche und Kreise gehn mir nicht auf, hab keinen Schimmer davon, weiß nicht, woher sie kommen, wohin sie gehen, warum überhaupt Linien, ein Quadrat schlussendlich, zwei Diagonalen, Seiten im rechten Winkel, auf die Landkarte gezeichnet, wohl eine Quadratrechnung, die ich nicht hinbekomme, und Kreise, ein Kreis im Süden ist meiner: Cavalese, Tesero und Berge, hohe Berge, Ketten, Stirnreihen im ganzen Umkreis; bin deine Krankenvertretung, fahre an deiner Stelle an einen eingekreisten, verwinkelten, also umstellten Ort und werde an deiner Stelle schauen, ob mir was unterkommt, ich was finde oder mich wiederfinde und mir auskomme, das auch, es ist noch nicht lange her, da war ich die Kranke, hatte mir was aufgehalst um es auszubaden, war viele Monate damit beschäftigt, hatte alles absagen müssen, was angestanden war, mich zurückgezogen und vieles ausgestanden und überstanden, das auch, war in die verletzte Vergangenheit gestiegen, hatte nachgeschürft und weitergegraben, das eine und andere ausgegraben, aufgedeckt, hab meine Dinge aufgearbeitet, mich an ihnen abgearbeitet und viel Gutes dabei gelernt, hab meine Krankheit langsam, aber doch liebgewonnen, mich an sie gewöhnt; magst du es machen, hast du gefragt und ich hab ja gesagt, und: wenn du mir das zutraust, und du hast gesagt, red nicht so blöd; ich will wieder gesund bleiben und ich will, dass du gesund wirst, ich will, ich will, was sein muss, muss sein; du hast geschrieben, kannst ja bei der Eva in Innsbruck zukehren, ich hab geantwortet: das stimmt; die Planung einer Reise, die mit Eva beginnt und endet, ist leicht, sie geht mir schnell von der Hand, es gibt eine Umrahmung irgendwie, eine Klammer, eine Umarmung am Anfang und am Ende, ein Ankommen und Weiterfahren und Bleiben, der Aufenthalt in Cavalese, und ein Wieder-Fahren und erneutes Ankommen; ein guter Plan.

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Eva und ich, wir wiederholen uns, so weit sind wir schon; wenn sie mir erzählt, was sie mir zumindest schon einmal erzählt hat, fragt sie manchmal, hab ich dir das schon erzählt, ja, gestern, sag ich vielleicht, oder ich sag nichts, weil ich sie gern erzählen höre, einmal und mehrmals, von ihren Momenten, Begegnungen, Erinnerungen oder ihren Katzen, oder wie sie mit ihren Katzen spricht, wenn die sich grad anpirschen oder anschmeicheln, auf ihren Schultern sitzen oder auf ihrem Schoß schlafen; der Klang ihrer Stimme ist warm, wie unter der Decke, die Farbe dunkel, grünbraun vielleicht, wie Erde, Boden, die Textur weich, samtig, legt sich ins Ohr und auf die Haut; überhaupt wird ihre Stimme nie hart, schrill, nie wirklich schnell, obwohl sie auch nicht langsam spricht, und sie beendet ihre Sätze immer; sie lacht über sich selbst, leise, flicht das Lachen zwischen die Worte und auch ihr Lächeln hat einen Klang, selbst am Telefon, wenn sie über mich lächelt, über andere oder über sich selbst, dann hör ich es auch, diesen Luftzug, das kurze Ausatmen; wenn ich erzähle, dann lächelt sie; ich bin anders als sie, spreche zu schnell und in Aufregung noch schneller, gestikuliere heftig, ob es jemand sieht oder nicht, beginne Sätze, schließe sie nicht ab, falle mir ins Wort, mache anderswo weiter, schlage Haken mit meinen Gedanken, die flattern meinen gesprochenen Worten voraus oder anderswohin oder flüchten und ich hole sie nicht ein, kann meinem Denken kaum folgen und nicht geradeaus reden, bin immer schon woanders und weiter, und bis ich mit meinen Worten nachkomme, ist manches geschehen; es bleiben oft nur Bruchstücke übrig von einer ganzen Geschichte, Begebenheit, aber Eva versteht, kann mir folgen, als könnte sie meine Gedanken wie Untertitel mitlesen, oder als wäre sie noch schneller als ich und schon dort angekommen, wo ich hinwill, während ich noch auf dem Weg bin, als hätte sie schon verstanden, bevor ich mein Erzähltes ausformuliert, den Faden verloren und wiedergefunden, andere Stränge und Gedanken eingeflochten hab und endlich doch an einem Ende und am Ziel bin; aha, sagt sie dann, und: ich versteh, weiß, was du meinst; und sie unterbricht mich nicht, wenn ich frage, hab ich dir das schon erzählt, sagt sie nur, erzähl; und ich erzähle.

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Sie macht sich die Dinge, Momente, Menschen und Orte schön, macht diese sich lieb, das hab ich lieb, sagt sie immer, oder die hab ich lieb oder den, oder sie beschreibt mir Momente, die sie lieb hat, als sie auf der Wiese saß und das Pferd neben ihr graste, sogar über sie drüberstieg, um das beste Gras zu erreichen, oder als nachts das Katzenkind miaute, weil es in ihr Zimmer wollte, sie hatte diesen Moment lieb und das Katzenkind, oder Coq au vin, Modianos Roman Dora Bruder, das winzige, eine Woche lang gemietete Häuschen in Chevroches in der Bourgogne oder den einen schwarzen Pullover, den ich ihr letztens nachtragen musste, als sie ging, sie war froh darüber, hätte ihn vermisst, hat ihn so lieb; und was sie lieb hat, findet sie auch süß; als ihre Tochter nachfragte, wann sie denn endlich komme, sich so auf sie freute, oder als sie auf dem kleinen Balkon gemeinsam frühstückten, liebevoll waren Kaffee und Orangensaft, das mit Nüssen und Früchten geschmückte Müsli hergerichtet, und auch dass die Kräuter- und Tomatenstauden nur eine gebückte Sitzhaltung zuließen, findet sie süß; und ihre Stimme wird heller, wenn sie diese süßen Momente beschreibt, die sie lieb hat; es ist schön, wenn sie mir mehrmals davon erzählt, weil ich es auch lieb hab, wie sie erzählt, und es süß finde, wenn sie es wiederholt; überhaupt hab ich dieses Lieb-Haben und Süß-Finden von ihr übernommen, ich finde die grantige Kassiererin süß, weil sie immer schlagartig freundlich wird, wenn ich mich nach ihrem Befinden und dem ihres Sohnes erkundige, dann erzählt sie und lässt die Leute hinter mir warten, lächelt schadenfroh, wenn sich wer beschwert; ich hab den alten Mann lieb, der in der Gegend umherstreift und immer wieder lautstark zu zetern anfängt, dass man förmlich die dicke Laus sieht, die ihm über die Leber gelaufen ist, und ihn und seinen Grant versteht, oder das offene Gesicht der jungen Frau, die an mir vorbeigeht und lächelt, und ich weiß nicht, ob es mich meint, das Lächeln, oder sie; diese Augenblicke sind mir lieb, ich hab eine Freud in mir und Eva würde sich auch freuen, das weiß ich, und ich weiß, ich werd es ihr erzählen; wenn ich zu jemandem sage, diesen Moment hab ich lieb, oder das war so süß von dir, wann auch immer, zu wem auch immer, dann sag ich es nie, ohne dabei an sie zu denken und zu hören, wie sie es sagt.    

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Wir sprechen oft von früher, weil viele Jahre vergangen sind und wir uns lange kennen, wir älter werden und einander liebevoll dabei zuschauen, davon erzählen, von den Fältchen, Markierungen, Strichen und Flecken am Körper, die die Jahre zeichnen, oder den Schwachstellen, was schwerer wird, mühsamer vielleicht, aber auch schöner und leichter, und dass alles gut so ist, wie es ist, weil wir es lieb haben, und uns selbst und einander und die Zeit, die vergangen ist und die grad ist, und auch die Zeit, die noch kommt, lieb haben; ich mag, wie sich ihr Körper verändert, die Falten um ihre Augen, an ihren Wangen und Schläfen, an ihrem Hals, ich seh, wie sich ihre Oberarme verwandeln, die Knie, die Spannung der Haut und des Gewebes nachlässt, in diesen Jahren, der Bauch weicher wird, und das ist schön, nicht trotz des Alterns, sondern in diesem Älter-Werden, durch dieses Älter-Werden, ihre Schönheit kommt immer klarer hervor, vor 30, 40 Jahren, als sie jung war, war diese Schönheit noch überdeckt von ihrer glatten Haut, ihrem feinen Gesicht, ihrer ebenmäßigen Figur, jetzt bricht sie durch die Haut, durch ihren Körper hervor und ist ganz unvermittelt da, wenn man sie anschaut; diese Schönheit wird immer klarer, je älter sie wird, als erblühte die Schönheit erst jetzt, als entfaltete sich das Gestern und Heute und Morgen zugleich; diese Schönheit birgt alles, was Eva liebte, lebte und beglückte, auch was sie quälte, und öffnet alles Gegenwärtige und was noch kommt, das auch; die Zeit, die sie ausmacht, steht ihr ins Gesicht geschrieben und liegt in ihrem Blick, ihren Gesten und ihren Worten und ist die Art und Weise, wie sie mit den Menschen und Dingen, die sie liebt, umgeht; und ich seh mein Älter-Werden in Evas Älter-Werden und mein Gesicht und meinen Körper durch ihre Augen und bin beruhigt, hab keine Angst vor dem Heute, den Tagen und Jahren, und vor einer Zukunft, der wir entgegengehen, weil es unser beider Zukunft ist, wir einander haben und die Zeit, so unbegreiflich sie ist, lieb haben.  

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Diese Reise nach Cavalese hab ich von Anfang an lieb; alles nicht so tragisch, hast du gesagt, wird schon werden; die Quadratrechnungen lege ich zur Seite, muss nichts verstehen, nichts abmessen, nur ermessen, was mir unterkommt oder mich überkommt, und will versuchen, es zu begreifen und festzuhalten, fahre drauflos; als ich in Innsbruck bei Eva ankomme, hat sie das Essen schon vorbereitet, und als ich morgens weiterfahre, krieg ich eine Jause nach Südtirol mit, es sind von Innsbruck drei Stunden nach Cavalese, Stirnreihe Nordkette, über den Brenner, über dem Tunnelrand hängen die Lichtschleier eines klaren Morgens; ich höre Musik, lasse mir Zeit, merke es nur an den mich überholenden Autos, fahre schlussendlich über das Trudener Horn, Haarnadelkurven durch Wälder, die gesund ausschauen, überall Erika, die sich wie ein vio­letter Schatten über den ganzen Wald ausbreiten, weiter oben wird der Waldboden weiß, je höher ich komme, desto weniger Bäume, mehr Schnee, oben: zwei Meter Schnee; beim Herunterfahren erkenne ich schon von ferne Cavalese, als käme ich nachhause, hab viel über die Gegend gelesen und angeschaut, werde nichts davon je brauchen können, trotzdem ist das vertraute Gefühl gut, diese Ahnung; ich hab einen Schimmer.

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Streife zu Fuß durch Cavalese, kleine Gassen entlang, gehe nicht zielsicher, muss nirgendwo hin, verliere mich im Gehen; an den aufgeschürften Hauswänden Schattenspiele, die Hände als Hund und als Adler und der Baum als Baum, und ich als Schatten und dein Schatten hält meinen Schatten, umarmt meinen Schatten und mein Schatten umarmt deinen, wir sind ein Baum, wir sind ein Hund, wir sind eine Stirnreihe; unsere länger werdenden Schemen sind mager geworden, aber sie werden zunehmen, wir werden brav essen, als Kinder haben uns das die Großmütter eingebläut, tust brav essen, gell?, wir vergessen, warum wir hier sind, ich vergesse, dass ich allein bin; ich will wieder gesund bleiben, will, dass du gesund wirst, ich will, ich will, was sein muss, muss sein; wie ein Kind geh ich ein Stück auf dem Mäuerchen neben dem Gehsteig, schaue mich zuerst weiträumig um, großflächig; steige wieder von der Mauer, besuche den Friedhof, niedrige, flache Grabsteine, oft nur 20 bis 30 Zentimeter hoch, darauf Fotos mit lieben oder seltsamen Gesichtern, ich suche Namen, die ich kenne, finde keine, suche meinen, finde ihn nicht; was haben sie erlebt, wann sind sie geboren, hatten sie eine Zeit, in der sie nicht mehr Deutsch sprechen durften in der Schule, ich erfinde mir ihr Leben, Elvira Tomasi (1900–1994) hat auf dem Foto eine blaue Kittelschürze an, ich schreibe ihr eine Geschichte auf den Leib, sie hatte fünf Kinder, alle gesund, sie hat am 9. März 1976 beim Seilbahnunglück einen Enkel verloren, ein anderer Enkel ist Geistlicher, Bischof von Treviso, es steht ein Topf mit trockenen Erika vor ihrem Grabstein und in einer Vase ein Blumenstrauß aus Plastik; alle Gräber sind mit bunten Plastikblumen geschmückt, viele mit Erika; Eva mag keine Erika im Topf, sie hat sie nur im Wald lieb; ich mag Erika da wie dort; Elvira Tomasi kommt vorbei mit einer grünen Kanne und gießt die trockenen Erika, die haben es nötig!, und die Plastikblumen der Gräber, ich bin ihr im Weg, weiche aus und grüße sie; ich frage Elvira, die Frau mit Kittelschürze, nach Schnee, sie hat keinen bei der Hand, es ist anders geworden, sagt sie, früher haben wir hier den Schnee wachsen gehört; jetzt ist er ausgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar; sie grüßt freundlich und geht wieder, ich auch; heute gibt es Neumond und Halsweh in Cavalese.

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Möchte gern wissen, wo die Grenze ist, die Tag-Nacht-Grenze, und das eine Land endet und das andere beginnt oder wo meine Wirklichkeit beginnt, das erleichterte eine Landvermessung; es ist auch nie sicher, was Zeit heißt und wo etwas anfängt und endet, und wie es mit dem Leben ist; manchmal hab ich einen Schimmer davon, wenn mir ein Erinnern aufsteigt, ein Bild unterkommt, wenn ich eine Stimme wiedererkenne oder einen Geruch, eine Geste wiederfinde, aber dann geht mir der Schimmer wieder verloren; das abendliche Hundegebell zeigt die Himmelsrichtungen an, eins aus Norden, eins aus Osten, ein Gebell aus Westen, eins aus Süden; und ein Gewell Kreissägen im Norden, ein Haus wird renoviert; ich möchte gern nach etwas klingen; nachts ohne Schlaf, obwohl ich todmüd bin, du schläfst auch nicht, gehst mir unruhig durch den Kopf, was machst du wohl grad, wo bist du, was denkst du, und wo sitzt dein Schmerz, meiner sitzt im Hals, mein Erlkönig, die Krankheit kann jederzeit wiederkommen; mich halten die Schreie eines Katers wach, und du hältst mich wach und Elvira und wen es sonst noch alles gibt, viel zu viele gibt es, die mich wach halten, auch ich selbst halte mich wach; nachts ist die Klarheit aus Glas; ab fünf schreit ein eingesperrter Hahn, beruhigt sich erst, als er um sechs freigelassen wird; ich gebe mich geschlagen, schaue auf dem Balkon zu, wie sich der Himmel in den Morgen fügt und ein heller Tag entsteht.

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Es geht auf den Berg, sag ich mir, red es mir ein, gehe mit Wanderschuhen und Stöcken zur Seilbahn, dort sprechen alle Italienisch, niemand Deutsch, wir wechseln zu Englisch, wir stolpern; am Rücken der abgetragene Rucksack meiner Großmutter, den ich lieb hab; er ist wohl 80 Jahre alt, und wenn wir allein sind, der Rucksack und ich, spreche ich mit ihm oder streiche über den glatten, dunkelgrünen Stoff, ich führe ihn aus, zeige ihm die Gegend, wie einem Kind; Elvira begleitet mich auf den Berg, nur sie spricht Tirolerisch, wir fahren mit zwei Seilbahnen und dem Sessellift auf die Alpe Cermis, herunten sind die Wiesen braungrün, dann weiß, Elvira zeigt mir, wie ich gehen muss, wo aus- und in die zweite Gondel einsteigen, und wo in den Sessellift; es wundert mich, dass sie sich heroben auskennt; es fällt mir nicht so leicht, mich zu orientieren, weil die Leut sonst nur mit den Skiern unterwegs sind, ich muss andere Wege gehen; Elvira erzählt, sie habe mit ihren Kindern und Enkelkindern Deutsch gesprochen, habe versucht, es weiterzugeben, obwohl ihr Mann ein Nordtiroler gewesen sei, aber es sei nicht lange geblieben, das Deutsch, und schlussendlich fast vergessen worden; ein Mann hört uns reden und spricht mich auf Deutsch an, er habe auch das Deutsch seiner Oma, sagt er mehrmals stolz, spricht es mir vor, zeigt her, wie gut er es kann, und ich sage, schauen Sie, und das ist der Rucksack meiner Oma, und zeige ihm den grünen Rucksack mit den schmalen Lederriemen, den ich nämlich ausführe; ich erröte, er aber bewundert ausgiebig das alte Stück; mich wundert hier nichts mehr.

9
Oben ist alles tief verschneit und vereist; ein Aussichtspunkt, ein sagenhafter Rundumblick, die Scheibe, die alle Berge benennt, bringt mir nicht viel, ist bis über beide Ohren eingeschneit und eingefroren, ich kann sie nicht enteisen; muss die Namen der Berge nicht wissen; sitze am höchsten Punkt, 360 Grad Rundumblick, die Berge in Stirnreihe; die Stirnreihe der Berge; Eva sagt oft, sich in Innsbruck umschauend, wer braucht so viele Berge, in allen Himmelsrichtungen die Wände, wir immer im Abgrund, im Tal, im Jammertal, obwohl: sie jammert nie; aufsteigende und absteigende Stirnreihe; und ich heute nicht im Tal, sondern am Berg; und bei mir sitzt immer irgendwo ein Jammer oder bist es du?; was tust du, fragst du und ich antworte, ich schau nur; und du stellst andere Fragen aus Luft in den Raum, ich antworte nicht; um zehn beginnen sich die Nebel zu lichten, ich sitze am Holztisch; um elf tauchen die Nebel und die Menschen wieder auf, unruhiges Getrappel von Kinderskischuhen, sie können keine Sekunde ruhig sitzen, die Kinder, Geklapper, Klopfen, der Boden wackelt, mein Tisch auch, ich verziehe mich, gehe weiter; das Schöne, das mich hier umgibt, ist kaum zu verkraften; dieser sagenhafte Rundumblick, die namenlosen Berge, Ketten, Stirnreihen und das ferne Leuchten der Dolomiten, so schön, so weit, dass es weh tut, so viel Luft oben und unten, ein unfassbarer Raum, bin ganz verloren; wenn ich Schönes so unvermittelt wahrnehme, geht etwas auf in mir, je weiter die Sicht und mein Schauen, desto spürbarer wirds, ich kann die Augen gar nicht so weit öffnen, dass alles Platz hat, immer ist da das Alte, das dann wieder auftaucht, mir in den Sinn kommt; es ist, als öffnete sich eine Wunde durch das Öffnen der Augen; nur auf die Füße schauen!; meine Wanderschuhe sind türkis; ein Stück bergab und ein Stück bergauf geh ich, darf nicht übertreiben, bin noch geschwächt, ich schwitze, nach einer Stunde tut mir alles weh, der Rucksack wird immer schwerer, als füllte er sich bei jedem Schritt mit fehlendem Schlaf, deinem und meinem, ich muss immer wieder stehenbleiben, weil ich zu atmen vergesse, den Rucksack über die Schultern streifen, ihn ablegen; eine Rast, die Abfahrt mit dem Sessellift, steige um in die eine Gondel, dann in die letzte.

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Hier ist mir alles neu, ungesehen, das Schöne, der Ort hier ist mit nichts besetzt, hat sich nicht eingeprägt, ist ungeschrieben auf der Haut und zwischen den Zeilen, wie kanns sein, dass trotzdem das Erinnern just dann kommt, wenn ich die Augen öffne für Neues, wenn ich Schönes sehe, und dass dieses Erinnern kein leichtes, luftiges ist, sondern ein schweres; es kommt alles auf einmal: das verlorene Lieben, der vergangene Verrat und der Verlust, alle Verluste, ich trage den Rucksack meiner Großmutter am Rücken und denke an ihr langsames Sterben und ihren Tod, diesen Verlust, nicht an das Schöne, nicht an ihre Umarmungen und Freudentränen, sondern an diesen Verlust und neu und warm kommt der alte Schmerz; es tut sich etwas auf und ich spür, wie wund ich bin, durch dieses Öffnen kann der Schmerz nicht mehr geschützt und gehalten werden; es bin doch immer noch ich, die hier ist und die Wege abgeht, mit dem Rucksack am Rücken und all dem, was ihn beschwert, den alten Geschichten, und was aufbricht, bricht über mir zusammen; ich komme mir nicht aus, selbst an diesem Ort, an dem ich eine Fremde bin, bin ich mir selbst nicht vertrauter; ich schaue noch zum Wasserfall in Cavalese, er liegt im Schatten und wirkt kalt und verlassen, aber ich hab ihn lieb, weil er sich so in den Berg fügt; ich seh nicht, wo das Wasser zu fallen beginnt, wo hier die Grenze ist, wo das Land anfängt oder das Jetzt, was echt ist, aber ich muss es nicht wissen; es ist alles wahr und heute; auf der kleinen Brücke über dem Wasserfall steht die Frau mit Kittelschürze und winkt herunter zu mir, ich winke ihr auch, meine Haare, Augenbrauen und die Lederriemen des Rucksacks meiner Großmutter sind feucht geworden.

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Nachts ein tiefer, traumloser Schlaf; am Vormittag der Abschied von Cavalese, ich fahre diesmal über Neumarkt, will noch ein bisschen bleiben und herumschauen; als ich dort ankomme, weiß ich aber nicht, was tun, frag mich, was hab ich hier verloren, und breche wieder auf, Richtung Bozen, in Bozen fällt mir aber wieder nicht ein, was ich hier zu suchen hab, weiter nach Brixen, auch hier hab ich keinen Schimmer, was soll ich in Brixen, frag ich mich und fahre dann bis über die Grenze, pausiere schlussendlich übermüdet in einer ausnehmend hässlichen Autobahnraststätte, im großen, menschenleeren Essraum klebrige Tische; ich bleibe eine Stunde, schaue auf den riesigen LKW-Parkplatz hinunter und fühle mich wohl; mein Gemüt beruhigt sich, meine Augen können ausrasten, bin müd, hab mich sattgesehen; kehre noch bei Eva zu, erzähl ihr, wem ich begegnet und wo ich gegangen bin, und von Großmutters Rucksack, den Erika im Topf und den Erika im Wald, Eva lächelt, ich sag ihr, dass ich am liebsten allein gehe, weil mich dann oft ein Schatten begleitet, das bist du und du hütest mich irgendwie, fragst, was niemand sonst fragt, und ich muss nicht antworten; ich erzähle Eva von dir; vom Balkon aus sieht man eine weitläufige Stelle, an der junge Bäume gepflanzt wurden, jedes Mal, wenn ich hier bin, sprechen wir über die Bäume und schauen ihnen beim Wachsen zu und erzählen einander von unseren Kindern, die vielleicht selbst einmal Kinder bekommen; es ist nicht lange her, dass uns die Alten gestorben sind, sie fehlen, und von unserem Älter-Werden reden wir auch und es ist gut, wie es ist, wir haben das Leben lieb und auch die Zeit, so unbegreiflich sie ist; heute ist Frühling und ich würde gern die Namen aller Berge rundum aufzählen, kann es aber nicht.

 

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