Elf Fragen zur Erinnerungskultur und eine Notwendigkeit. Von Roland Sila
I.
Knapp 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit deutlich verändert. Waren es in den vergangenen Jahrzehnten noch Zeitzeugen, die belebt von den Gräueln berichten konnten, so verlieren wir in der Gegenwart diese beredte Zeitzeugenschaft. So kann von einer erinnerten Erinnerung gesprochen werden, und es stellt sich die Frage, wie die heutige Gesellschaft adäquat mit dieser Erinnerung umgeht. Die NS-Zeit ist nicht mehr Zeitgeschichte, vielmehr reiht sie sich in eine große Geschichtserzählung des 20. Jahrhunderts ein, und es besteht die Gefahr, die Singularität der begangenen Verbrechen aus dem Auge zu verlieren – wie also erinnern?
II.
Betrachtet man die Literaturlisten, so könnte davon ausgegangen werden, dass es keine andere Epoche in unserer gemeinsamen Geschichte gibt, die besser erforscht und genauer dokumentiert ist. Gleichzeitig ist auffällig, dass es einerseits die breite wissenschaftliche Bearbeitung gibt, die das Geschehen in eine Gesamterzählung einbettet. Es sollte also an den wesentlichen historischen Ereignissen und deren Fortwirkung keinerlei Zweifel mehr geben. Die Wissenschaft hat sich hierbei größtenteils auf das behördliche Aktenmaterial gestützt und damit Belege geliefert, die die Verbrechen eindeutig festmachen. Andererseits ist zu bemerken, dass es eine unglaubliche Fülle an Erinnerungsliteratur gibt, die rückblickend auf die Zeit des Nationalsozialismus sieht. Dies allerdings aus einem zeitlichen Abstand heraus, der viel Spielraum für Interpretation, Auslassungen und Unschärfen lässt – wer kann sich mit einem großen Zeitabstand noch an wesentliche Details erinnern? Dem gegenüber stehen nur sehr wenige Texte, die in der Zeit entstanden sind und öffentlich greifbar sind. Es ist anzunehmen, dass viele private Texte noch existieren, allerdings der Forschung nicht zur Verfügung gestellt werden, wer hat schon gerne, wenn die eigenen Vorfahren Täter waren? Wer möchte sich schon in der Öffentlichkeit mit der belastenden Rolle einer Opferfamilie auseinandersetzen?
III.
Die Frage, wie mit der eigenen Familiengeschichte bezüglich NS-Zeit umgegangen wird, beschäftigt seit nunmehr knapp 20 Jahren die Wissenschaft. Die Historikerin Margit Reiter hat 2006 die erste umfassende Studie zum Nationalsozialismus im Familiengedächtnis vorgelegt. Sie hat eindrucksvoll dargestellt, dass die Frage, wie mit der NS-Zeit umgegangen wurde und wird, alle Familien betrifft, deren Vorfahren in der NS-Zeit gelebt haben. Denn diese Zeit hat Spuren in allen Familien hinterlassen, seien diese Opfer- oder Täterfamilien, seien es die vermeintlichen Mitläufer. Jede Familie musste für sich einen Umgang finden, mit den Verbrechen dieser Zeit umzugehen. Die wenigsten Menschen schafften es, offen diesen Teil der eigenen Geschichte anzusprechen. Vielmehr wurde die Geschichte so umgedeutet, wie es dem eigenen Empfinden am ehesten entsprach. Unterstützt wurde dieser schleißige Umgang mit der Geschichte durch die offizielle Haltung der österreichischen Nachkriegsregierungen, die stets betonten, dass Österreich das erste Opfer des NS-Regimes war. Täter wurden plötzlich zu Opfern, weil sie nur Befehlen gehorcht haben. Opfer wurden verleumdet, die Elitenkontinuität lässt sich für die Zeit vor, während und nach der NS-Zeit in vielen Bereichen nachweisen. Erst mit dem Bekenntnis der Mittäterschaft in Folge der Waldheim-Affäre konnten erste Schritte der Aufarbeitung und des würdigen Erinnerns gesetzt werden. Doch genügt dies?
IV.
Ist es für die Zeitzeugen noch nachvollziehbar, wenn auch nicht zu begrüßen, dass die Auseinandersetzung mit der Täterschaft Österreichs und der Täterschaft Einzelner nur bedingt vorangetrieben wurde, so haben wir es heute mit den Nachkommen der Zeitzeugenschaft zu tun. Diese trifft keine direkte Schuld, ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte entscheidet jedoch darüber, wie erinnert wird. Auf diese Weise sind sie verantwortlich für den Umgang mit der NS-Geschichte. Für sie heißt es, das Schweigen zu überwinden, unangenehme Wahrheiten zu akzeptieren und Schlüsse für die Zukunft aus dieser Auseinandersetzung zu ziehen. Dazu benötigt es aber ein Hinschauen auf die eigene Vergangenheit, ein Wahrnehmenwollen der Wirksamkeit dieser Zeit in unserer Gesellschaft und der Dauerhaftigkeit von Feindbildern, die unreflektiert bis heute weitererzählt werden. Um diese Sensibilität zu schaffen, können Projekte der Erinnerungskultur beitragen, aber wen erreichen sie?
V.
Ganze Generationen erzählen davon, dass ihr Geschichtsunterricht spätestens mit dem Ersten Weltkrieg aufgehört habe. Erst in den 1990er-Jahren wurde die Mittäterschaft Österreichs auch in den Lehrplänen verankert und vermehrt auch unterrichtet. Zahlreiche Schulklassen haben inzwischen die KZ-Gedenkstätten in Dachau und Mauthausen besucht und wurden direkt mit den Untaten des mörderischen Regimes konfrontiert. Die jungen Menschen wurden als wichtigste Zielgruppe für die Aufklärung erkannt, die didaktischen Möglichkeiten erweitert und vor den Gefahren einer totalitären Struktur gewarnt – niemals wieder!
Zeitgleich mit diesen Bemühungen feiern politische Parteien große Erfolge, die sich gegen eine lückenlose Aufarbeitung stellen. Diese Erfolge brechen auch nicht ab, zumindest nicht wegen deren Haltung zur NS-Zeit.
Heute besucht die Enkel- oder Urenkelgeneration der Zeitzeugen der NS-Zeit die Schulen. Diese Generation kann viel weniger als die Generation zuvor eine Relevanz dieser Zeit für ihr gegenwärtiges Leben herstellen. Was hat dies alles mit ihnen zu tun?
VI.
Neben den großen KZ-Gedenkstätten wird die permanente Erinnerung im öffentlichen Raum in erster Linie in Form von Denkmälern sichtbar. Diese haben in den letzten Jahrzehnten unterschiedlichste Ausprägungen erhalten. Abseits von groß angelegten Bauten wie das Innsbrucker Befreiungsdenkmal am Landhausplatz sind es in erster Linie kleinere Interventionen wie Gedenktafeln oder Stolpersteine, die, häufig im dezentralen Stadtraum, an die Opfer des NS-Regimes erinnern. Auch Opfergruppen finden Orte der Erinnerung, wie etwa im Gedenkort an die Opfer der NS-Euthanasie, der im Krankenhaus Hall in Tirol angesiedelt ist. Diese Erinnerungszeichen sind immens wichtig, erfüllen sie doch eine mehrfache Aufgabe. Einerseits erinnern sie an die Verbrechen der Vergangenheit und holen sie so in die Gegenwart. Andererseits bieten sie den Nachkommen der Opfer einen Ort, an dem würdevoll an die ermordeten Familienmitglieder oder Freunde erinnert werden kann.
Doch Denkmäler verblassen, nicht nur an ihrer Oberfläche, mit der Zeit. Sie sind statisch und werden nur in großen Zeitabständen überarbeitet oder aktualisiert. Menschen, die regelmäßig an ihnen vorübergehen, bleiben nicht mehr stehen, beschäftigen sich nicht mehr mit der Botschaft dieser Erinnerungsform. Vielmehr werden sie als selbstverständlich in den Stadtraum integriert und verlieren an Bedeutung. Sind Denkmäler also die sinnvollste Form der Erinnerung?
VII.
Es stellt sich also die Frage, wer sich um die Erinnerung an die NS-Zeit bemüht. Neben den Universitäten, die sich um die Forschungsleistungen kümmern, sind es in erster Linie die Gedächtnisinstitutionen, die Museen, Archive und Bibliotheken, denen vermehrt diese Aufgabe zukommt. Zahlreiche Ausstellungen und Projekte der letzten Jahre erzählen von einem redlichen Bemühen um eine moderne und sichtbare Erinnerungskultur. Waren es vor zehn Jahren noch historische Ausstellungen, die die Zeit des Nationalsozialismus zum Inhalt hatten, sind in den letzten Jahren neue Fragestellungen aufgrund der fehlenden Zeitzeugenschaft dazugekommen. Das Haus der Geschichte Österreich hat mit der Ausstellung „Hitler entsorgen“, die adaptiert 2024 auch im Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck gezeigt wurde, hinterfragt, wie mit den privaten Überresten der NS-Zeit umgegangen werden soll. Die stark von der Kulturvermittlung geprägte Schau setzte auf Fragestellungen an die Besucherinnen und Besucher, die gegenwärtig darüber entscheiden sollten, was aus dieser Zeit in die Museen/Archive übernommen werden soll.
Die häufigere Programmierung des Themas in Museen lässt aber auch befürchten, dass dies dazu beiträgt, die Zeit und die Verbrechen des Nationalsozialismus zu musealisieren, was mit Sicherheit der Intention der Veranstalter widerspricht. Laufen wir also Gefahr, dass die NS-Zeit zukünftig als ein Zeitabschnitt wie andere historische Epochen gesehen wird?
VIII.
Im Herbst 2023 fand in Tirol das große Erinnerungsprojekt „Memories of Memories. Das Lager Oradour“ statt. Das Projekt erinnerte beispielhaft dargestellt am Schwazer Lager Oradour an eines von mehreren in der NS-Zeit in Schwaz existierenden Lagern, das zunächst als Zwangsarbeiterlager, dann als Entnazifizierungslager, später als Flüchtlingslager und schlussendlich als Barackenlager für arme Bevölkerungsschichten genutzt wurde. Initiiert wurde das Projekt von den Tiroler Landesmuseen, es beteiligten sich aber zahlreiche weitere Institutionen, nämlich das Haus der Völker Schwaz, das Rabalderhaus Schwaz, der Kunstraum Schwaz, die Klangspuren – Festival für Neue Musik, das Toni-Knapp-Haus, das Tiroler Landestheater und die Universität Innsbruck, deren Architekturstudierende eine Installation für den Vorplatz des Ferdinandeums gestalteten. Bewusst wurde das Projekt als Kooperation vieler Institutionen aufgesetzt, um eine möglichst hohe Wirksamkeit zu erreichen.
Die mediale Berichterstattung war für diese lokale Initiative erstaunlich, auch die Besucherzahlen in der Installation vor dem Museum und in den vielen Ausstellungsorten in Schwaz als auch bei den zahlreichen Begleitveranstaltungen waren sehr gut. Viel wurde diskutiert, das Projekt kontroversiell wahrgenommen –
und auch totgeschwiegen, denn wirklich großer Widerspruch wurde in der Öffentlichkeit nicht geübt. Auch haben keine weiteren Gemeinden außerhalb von Schwaz die Gelegenheit ergriffen, eine vergleichbare Geschichte des eigenen Ortes aufzuarbeiten.
Es bleibt also die Frage, wer und was erreicht wurde. Offen und nicht überprüfbar bleibt, ob jene Menschengruppen erreicht wurden, die bereits für das Thema sensibilisiert sind und die regelmäßig an Formaten der Erinnerungskultur teilnehmen. Offen bleibt, ob die temporär für zwei Monate sichtbare Installation bereits nach zwei Wochen als statisches Denkmal und damit nicht mehr wahrgenommen wurde. Offen bleibt, ob das Projekt nur als historisches Projekt gesehen wurde oder ob eine Relevanz für die Gegenwart erkannt wurde.
Bedienen Erinnerungsprojekte also in erster Linie bereits sensibilisierte Menschen und wird die kritische Masse gar nicht erreicht?
IX.
Viele der aktuellen Erinnerungsprojekte bedienen sich der zeitgenössischen Kunst. Damit wird bereits signalisiert, dass es neuer Wege bedarf, zeitgemäß zu erinnern. Auch wird der Kunst damit das Vertrauen entgegengebracht, das Thema würdig zu behandeln. Dies geschieht in Form von Interventionen im öffentlichen Raum, in Theateraufführungen oder literarischen Texten, in Form von Konzertaufführungen oder Performances. Alle Formen bieten in sich die Chance, sich qualitätsvoll dem Thema anzunähern. Allerdings zielen ehrlicherweise die wenigsten Projekte auf ein breites Zielpublikum, dies gelingt mit Abstrichen zwar mit einem innovativen Vermittlungsprogramm, doch bleibt zu hinterfragen, ob nicht auch hier wieder jene Menschen bedient werden, die bereits sensibilisiert mit dem Thema umgehen. Denn die meisten dieser Projekte finden in einem geschützten Raum statt, in Museen, Theatern, auf Literaturbühnen – und jene Projekte, die im öffentlichen Raum stattfinden, bieten keinen Widerpart vor Ort an, sie sind in erster Linie einmal da. Wird also den verschiedenen Formen der Kunst ein Thema umgehängt, da die Gesellschaft keine anderen Annäherungsformen findet?
X.
Der Großteil der demokratischen Parteien hat sich einer antifaschistischen und antinazistischen Politik verschrieben. Die entsprechenden Jahrtage oder Gedenkfeiern werden besucht, die Verbrechen jener Zeit verurteilt und regelmäßig vor diesen gewarnt, sodass uns die NS- Zeit ein mahnendes Beispiel sein soll. Auch nimmt die Politik in den letzten Jahren immer wieder viel Geld in die Hand, um die Erinnerungsprojekte oder auch die entsprechenden Erinnerungsorte zu finanzieren. Dies ist absolut positiv herauszustreichen und ist nicht selbstverständlich (auch wenn es dies sein sollte). Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass die Erinnerung an die NS-Zeit in der Tagespolitik keine Rolle spielt. Dies zeigt sich u. a. darin, dass regelmäßig von einzelnen Politikerinnen und Politikern in ihrer Wortwahl auf die Sprache der Nationalsozialisten zurückgegriffen wird, viel mehr aber noch darin, dass in den letzten Jahren zunehmend keine wirkliche politische Reaktion auf dies zu vermerken ist. Auch die Mechanismen, die hinter einer totalitären Denkstruktur stecken, werden nicht wirklich hinterfragt. Muss also befürchtet werden, dass die geförderte Erinnerungskultur in erster Linie jene zufriedenstellen soll, die eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ansonsten einfordern könnten?
XI.
Eine demokratische Gesellschaft lebt von einem Austausch von überprüfbaren Informationen. Wir laufen in der Gegenwart Gefahr, dass Meinung dieser Information gleichgesetzt wird. Gerade in Bezug auf unseren Umgang mit unserer Vergangenheit ist es wichtig, dass wir von einer informierten Öffentlichkeit ausgehen können. Populistische Strömungen und der Wunsch nach einer schnellen Schlagzeile überdecken aber, dass für eine erfolgreiche Erinnerungskultur ein dauerhafter Diskurs abseits von Kultureinrichtungen notwendig ist. Das Bemühen darum ist da, wie viele Einzelinitiativen zeigen. Diese bilden die Basis für eine informierte Gesellschaft. Doch welche Wege zu einer bleibenden Auseinandersetzung führen können, wurde bislang viel zu wenig diskutiert – innerhalb der Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen, viel mehr aber noch innerhalb der gesamten Gesellschaft. Verlieren wir also die Wegbegleiter für ein aktives Erinnern an die NS-Zeit?
XII.
Jeder Mensch ist geprägt von seinen Erinnerungen. Wir kommen nicht umhin, uns zu erinnern. Als Gesellschaft entscheiden wir, was wie erinnert wird. Als Teil der Gesellschaft müssen wir als Individuen entscheiden, was wie erinnert wird. Gestern, heute, morgen.