Den Umschlag für diese Ausgabe von Quart und die Bilder auf den Seiten 69 bis 80 hat Hans Weigand gestaltet – ausgehend von einer Ausstellung im Palazzo Pisani S. Marina in Venedig. Paul Feigelfeld gibt in dem folgenden Text Einblicke in das Leben und Denken des Künstlers.
“This Rocket-City, so whitely lit against the calm dimness of space, is set up deliberately To Avoid Symmetry, Allow Complexity, Introduce Terror.”
Thomas Pynchon, Gravity’s Rainbow
Die Hintertür des Palazzo Pisani S. Marina in Venedig öffnet sich auf einen schmalen Kanal. Das brackige Wasser steht der Stadt wie immer bis zum Hals und hält der Klimakatastrophe einen Meeresspiegel vor. Im Inneren ist Hans Weigand gerade dabei, eine seiner raren Skulpturen mit einem Seilzug in die Schwebe zu heben. Es ist eine Art Meteoritenmonolith, in dem der Silver Surfer wie in Bernstein eingeschlossen ist. Die Szene hat etwas apokalyptisch Abrahamisches, Weigands Haare und Bart sind lang und silberweiß wie der fallende Held über ihm, schwere Ketten rasseln durch den Seilzug. Der Kanal stinkt, durch seine Oberfläche schimmert ölig die Unterwelt.
Der Silver Surfer – wohlbekannter Held aus dem Marvel-Universum – ist für Hans Weigand eine zentrale Figur, nicht nur „weil der Raymond Pettibon so auf den Superman fixiert war“, wie er lachend erzählt. Ursprünglich vom Schurken und Weltenfresser Galactus nur verschont, um in seinem Auftrag neue Welten zum Fressen auszukundschaften, entscheidet sich Norrin Radd, wie der Surfer auf seinem verschlungenen Heimatplaneten Zenn-La hieß, beim Besuch der Erde dazu, sie gegen den Galactus zu verteidigen. Galactus lässt schließlich von der Erde ab, umhüllt sie jedoch mit einer unsichtbaren Barriere, die den Surfer daran hindert, den Planeten je wieder zu verlassen. Von der Menschheit nicht akzeptiert und verfolgt, verharrt der Silver Surfer in dem moralischen Dilemma, eine Welt und ihre Bevölkerung aufgrund seiner inneren Werte verteidigen zu müssen, obgleich sich die Menschheit als zutiefst böse und selbstzerstörerisch erweist.
Der Silver Surfer on a Meteorite schwebt mittlerweile in der unteren Halle des ansonsten bewohnten Palazzo,
auch die meisten großformatigen Holzschnitte der ersten Einzelausstellung Hans Weigands in Venedig mit dem Titel „Rising Waters – Falling Skies“ haben ihren Platz bereits gefunden. Die minutiösen und monumentalen Arbeiten der Ausstellung formieren einen integralen Bestandteil einer künstlerischen Konstellation, die der venezianische Kurator Mario Codognato – ehemals Chefkurator des Belvedere 21 in Wien – seit 2020 kartografiert. Damals zeigte er Georg Baselitz im Palazzo Grimani, 2022 folgte Anish Kapoor in den Gallerie dell’Accademia. Jetzt, im Jahr 2024, findet dort parallel zu Weigand eine große Ausstellung von Willem de Kooning statt.
„Rising Waters – Falling Skies“ schließt einerseits an Weigands große Einzelwerkschau „Rider in the Storm“ in der Wiener Albertina im Jahr 2022 an, findet aber ihre Urszene im Tirol der Nachkriegszeit und einer Familienreise mit Beiwagenmotorrad nach Venedig in den 1950er Jahren. Im Dogenpalast, so die Legende, hat sich Hans Weigand verlaufen und verlor seine Eltern. Eine Suchaktion mit Carabinieri wurde gestartet, schließlich fand man das Kind, verloren vor einem großen Gemälde sitzend. „Ich hatte mich nicht vom Fleck bewegt“, so Weigand, „hab’ ich wahrscheinlich immer noch nicht.“ Die Nachkriegszeit in Österreich bedeutete für den Tiroler die instantane und absolute Abgestumpftheit seiner Vätergeneration, „nach dem ersten Schuss, nach der ersten begangenen Grausamkeit.“ Und das Unter-den-Teppich-Kehren dieser Abgründe. Diesen Teppich, könnte man sagen, hat Weigand zu seiner Leinwand gemacht. Seitdem erforschen seine Arbeiten nichts mehr und nichts weniger als das Nichts der Geschichte des Endes der Welt, wie sie sich seit dem 20. Jahrhundert fortlaufend schreibt.
Die Motive flottieren zwischen christlichen Ikonen und den Ikonen der Surf- und Punk-Kultur, in die Weigand später in Wien und anschließend in Los Angeles eintauchte. Barocke Ikonografien vermischen sich mit Popkultur, die er auf Postkarten aus der Post-Apokalypse in unsere Gegenwart schickt. Im Aufeinandertreffen penibler und zeitintensiver traditioneller Techniken wie dem Holzschnitt mit der subkulturellen Herangehensweise entstehen unvorhersehbare Welten. Sakrale Tropen kollidieren mit den Utopien des „Endless Summer“, die Dystopien von Hollywood Babylon und der Californian Ideology des Silicon Valley bilden den abgestorbenen Meeresboden von Weigands nachsintflutlichen Bildwelten. Diese funktionieren wie Portale zwischen verschiedenen Zeiten, Wirklichkeiten und Fiktionen. Sie zeigen den Weg zwischen den Punk-Probekellern und Underground Clubs und „der Albertina“ – oder dem Palazzo Pisani S. Marina. Wir sehen den Künstler in seiner Arbeit versunken, knietief in der giftigen Suppe der Gegenwart, umgeben von den schlecht isolierten Kabeln und Verstärkern seiner Bands Pas Paravant, Avoi-dance (mit Heimo Zobernig) oder Crincum Crancum (mit Raymond Pettibon).
Das Gitarrespielen in Punk-Bands und das Holzschnitzen in penibler Barocktechnik sind zwei Seiten einer Medaille. Sie arbeiten nur in unterschiedlichen Tempi, schnitzen aber gleichermaßen an der Gegenwart und graben sich aus der Vergangenheit frei. Im Druck der Verstärker und der ebenfalls aus der Produktion von Zines und Flugblättern entlehnten Drucktechniken, mit denen Weigand alte Technik in neue überträgt, liegt der künstlerische Ausgleich: Von dort aus explodiert seine Arbeit ins Jetzt, surfend auf den Freakwellen, die er selbst aufgetürmt hat. Zeitgleich sehen wir inmitten dieses Getöses einen Künstler, der genau hier die notwendige Stille und Ruhe findet, um die Bedingungen für das Ende der Welt Schnitt für Schnitt herauszuarbeiten.
Wie Weigand selbst sind seine Ikonen weder die, die wir erwarten, noch dort, wo wir sie erwarten: Heilige surfen auf Hokusais Tsunamis, Bates Motel wird zur Kathedrale, das Mururoa-Atoll ihr Museum. Durch diese gezielte Deplatzierung hinterfragt der Künstler Ideologien und Traditionen, gewohnte Narrative, Fiktionen und Wirklichkeiten.
Über die Jahrzehnte hat sich aus und in diesem Werk ein dichtes inneres und auch materielles Archiv aus ganz eigenen Kategorien, Motiven und Bruchstücken entwickelt. Weigand spricht darüber als etwas Lebendiges, Insistierendes, das „rumort und anklopft, wenn ich mich auch nur ein paar Tage nicht damit beschäftige“, erzählt er. Das Anarchische des Archivs, möchte man meinen, liegt darin, dass nicht wir die Archive anlegen, sondern sie sich mit uns anlegen.
Hans Weigands Kollaborateure finden sich dabei nicht nur im Underground, sondern auch in der Hochkultur, der Literatur, Kunstgeschichte und -theorie. Der Kunsthistoriker und -journalist Roberto Ohrt machte ihn mit dem Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg bekannt. Warburg, Spross einer sehr wohlhabenden Bankiersfamilie, wurde in gewisser Weise der erste Hamburger Punk in Altona, lange vor den Goldenen Zitronen, als er 1866 trotz des erbitterten Widerstands seiner Familie Kunstgeschichte zu studieren begann. Durch seine neuartige Methode, analytische, ja naturwissenschaftliche Techniken zur Untersuchung von Bildgenealogien einzusetzen, begründete er das damals neuartige Feld der Ikonografie bzw. Ikonologie (und wird damit zum durchwegs übersehenen Urvater von Machine-Learning-Klassifikatoren). Nach einer schweren psychischen Erkrankung und mehreren Aufenthalten in Sanatorien begann Warburg 1924 mit der Arbeit an seinem Bilderatlas Mnemosyne, der unvollendet blieb, aber heute in historisch-kritischen Ausgaben rekonstruiert vorliegt. Darin leitet Warburg das Gros der Kunstgeschichte des Abendlandes durch visuell-ikonologische Genealogien aus der Antike her und begründet damit ein bildkulturelles Bewusstsein – und Unterbewusstsein.
Weigands Bilderatlas, sein Anarchiv, ist gewissermaßen Aby Warburg in der Walpurgisnacht. Punk, als Musik aus den Knochen des Rock’n’Roll, vor allem aber als Haltung und Antwort auf den laut Weigand „pseudo-barocken Tumor“ der Musik der Siebziger Jahre, war übernotwendig, um die Flucht nach vorne anzutreten. Was ungestüm, brutal, chaotisch und archaisch wirkte, war doch in Wirklichkeit ein präzises archäologisches Freilegen musikalischer und künstlerischer Skelette, eine Ikonologie ganz im Sinne Aby Warburgs. Wir erleben in Weigand also eine Gespanntheit zwischen verschiedensten Polen: ein klares Bewusstsein für die Tiefen und Untiefen der Kunst- und Kulturgeschichte, den Nebel des Krieges, aber eben auch etwas unerbittlich Modernes. Ungleich wie Albrecht Dürers Melencolia vertont von Black Flag, urverwandt wie Caravaggio als Bandmitglied von den Ramones.
Der Weg ins Große, in die Dip- und Triptychen seiner letzten großen Ausstellungen, führte durch verschiedenste Medien, das Experiment – bestehend aus Test und Protest – scheint dabei zentral in seiner Arbeit. In den späten 1970ern waren Polaroids das Medium der Wahl, ein damals brandneues Ding, das das latente Bild aus der Fotografie auszutreiben schien. 1981 war Weigand damit Teil der legendären Ausstellung „Erweiterte Fotografie“ an der Wiener Secession. Aus diesen Polaroids und einer postmodernen Mischung aus Postkarten, Ausschnitten, Zetteln und Bücherfetzen entsteht ab den frühen 1980ern Weigands Archiv, das beispielsweise allein über 20.000 analoge und digitale Bilder von Wellen enthält.
In den frühen 1990ern lernte Weigand Jason Rhoades und Raymond Pettibon kennen, übersiedelte zeitweise nach Los Angeles und tauchte tief in eine amerikanische Kultur ein, die Schriftsteller wie Thomas Pynchon, Wanda Tinasky und Don DeLillo, tiefer darunterliegend aber auch William S. Burroughs beschworen. Die Literaturen speziell dieser Autoren sind ebenso multimedial und vielschichtig wie Weigands Bilder. Sie bestehen aus unverfilmbaren Filmen, Theater-Liedern, die man nur lesen kann, und Geschichten, die so wahr sind, dass sie nicht zu glauben sind. Der Pazifische Ozean und dessen gewaltige Gegenwelt ziehen Weigand seitdem magisch an. So finden wir als zentrales Werk der Venediger Ausstellung ein Bild von einem Maler, der scheinbar in einer langsam anschwellenden Flut sitzt, die Füße im Wasser, der Biegung der Palmen nach zu urteilen kommt ihm ein Sturm entgegen. Konzentriert blickt er auf die Leinwand auf der Staffelei vor ihm, auf der er mit feinem Strich festzuhalten scheint, was sich am Horizont zeigt. Nur ein Blick auf den Titel des Bildes – Mururoa Painter – erlaubt uns eine Achsenverschiebung und einen Blick auf die Leinwand des Malers, kurz bevor die Druckwelle des Atomtests den Chronisten unseres selbstverschuldeten Verschwindens wahrscheinlich wegfegt.
Karfreitag 2023, St. Martin an der Raab. Auf der sogenannten „Weigand Ranch“, einem alten Obstbauernhof im Burgenland, aus dessen Ernten teils Wildes gebrannt wird, schnitzt Hans Weigand tagsüber diese Bilder für Venedig. Hier fließen alle Fäden zusammen, Los Angeles, Tirol, Wien, Venedig, Berlin. Meine Partnerin sammelt Kabel am Boden zusammen und schafft es trotz fortgeschrittener Uhrzeit, die Marshall-Verstärker und die Fender in eine Feedbackschleife zu bringen. Hans Weigand wechselt virtuos vom traditionellen Schnitzwerkzeug zum Plektrum, es dröhnt, die Tempi verschieben sich und wir singen „Rebel Rebel“.
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