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Fließtext*
Von Clemens J. Setz

Random-Überlegung, okay, also, als Kind wunderte es mich immer, dass Unterschriften von Erwachsenen so unleserlich waren. Sie glichen überhaupt keinen Buchstabenformen mehr. Wie wusste man dann, dass es genau diese und jene Person war, die unterschrieben hatte? Das war doch der Zweck der Unterschrift, ein eindeutig auf einen bestimmten Menschen – und nur auf ihn – rückführbares Irgendwas. Aber bald begriff ich natürlich, dass das Spiel ein anderes war: Nicht um den Namen ging es, sondern darum, eine unverwechselbare Grafik, ein abstraktes Ornament aus den ursprünglichen Buchstaben des Namens abzuleiten und dieses dann wiederum als vollkommen einzigartiges, charakteristisches und leicht wiedererkennbares Zeichen zu etablieren. Nur die Wiederholung, das heißt, ihr wiederholtes Hervorbringen, erlaubt die Existenz einer wahren Unterschrift. Wer nur einmal im Leben etwas unterschreiben muss, wie ein Bauer des Mittelalters etwa, und überdies auch nicht vorhat, in der Sphäre dieser Zeichenkonventionen heimisch zu werden, der kann wirklich alles wählen, jedes Zeichen auf der Welt wird für ihn stehen können, automatisch, wie die bekannten drei Kreuze. Gerade die Unfälschbarkeit des hinreichend kunstvoll Abgeleiteten benötigt er nicht. Und daran, wie weit das Schriftbild der persönlichen Unterschrift sich entfernt hat von einem normal lesbaren Schriftzug, lässt sich oft sehr gut ablesen, wo einer gerade ist auf seinem Lebensweg. Ich erinnere mich an meine Belustigung, als ich Herrn N.s Unterschrift sah, die nur aus auf und ab laufenden Zickzacklinien bestand. Ein wenig so, wie vielleicht ein noch nicht alphabetisiertes Kind Unterschriften oder überhaupt „Schreiben“ imitieren würde. Es passte aber zu ihm, weil er auch im Alltag den mächtigen Anwalt so kindisch-unbeholfen spielte. Ist eine Unterschrift überhaupt noch der Name eines Menschen? Eher ist sie etwas, das den Namen erfolgreich verdaut hat. Denn man muss die Unterschrift immer durch den Schreibschriftzug des eigenen Namens finden, nur dieser Weg scheint erlaubt. Man darf nicht zum Beispiel mit einem ganz anderen Wort beginnen, etwa Mauskalender, und ihn dann durch tausendfache Wiederholung zuerst unleserlich und dann einzigartig-ornamental machen, nein, es muss immer mit dem beginnen, das dir mit der Geburt zugeteilt worden ist, also mit dem komplett Arbiträren, nicht Selbstgewählten, mit dem Schicksal sozusagen. Keiner, außer vielleicht so kindliche Naturen wie Herr N., beginnt gleich von Anfang an mit der eindrucksvoll hinfetzbaren Grafik und überspringt scheinbar das Vorbild der Buchstaben. Meine eigene Unterschrift wurde mit der Zeit immer kürzer. Zuerst war sie noch durchaus ein graffiti-tagger-artig gestauchtes „Clemens Setz“, dann wurde sie zu „Clem Se“ und heute ist sie nur mehr ein „C“, an das eine Art Ballon-Noppen an Schreibstift-Gekringel drangeknödelt wird. Als ballte sich das, mit dem ich meine Person in der Welt der Sprache verankert weiß, der Name, unter großen Druckverhältnissen immer mehr zusammen. Aber wo – wer – sind diese Druckverhältnisse eigentlich? Ich muss sie selbst erzeugen. Aber wofür? Für wen? Ich selbst finde den Vorgang nicht befriedigend oder unterhaltsam oder sinnvoll, er geschieht einfach von selbst, wie eine Bilderfolge im Halbschlaf. Mit jeder Unterschrift wird der eigene Name etwas unsichtbarer, ungreifbarer, und ich dadurch – was? – erwachsener? Näher am Tod? Ja, genau.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.  Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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