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Brennergespräch (29):
„Quer durch die Brunnen der Vergangenheit“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 29: Nike Wagner, Intendantin, Schriftstellerin, Dramaturgin, Urenkelin von Richard Wagner und Ur-Urenkelin von Franz Liszt, im Gespräch mit Benedikt von Bernstorff.

Mit Nike Wagner könnte man über alles, zum Beispiel über die Moderne in Literatur und Musik reden, über das Regietheater, die Studentenbewegung, Frankreich, Amerika und die Stadt Wien. Dass es im folgenden Gespräch doch wieder ausführlich um Wagner und die Folgen geht, ist die Schuld des Fragenstellers. Nach einer relativ Wagner-feindlichen musikalischen Sozialisation bin ich im Studium doch noch dem Komponisten des Tristan erlegen. Später arbeitete ich als Regie-Assistent zwei Sommer lang in Bayreuth. Nike Wagner, die ich damals bereits einige Male getroffen hatte, riet mir, unsere Bekanntschaft auf dem Grünen Hügel besser nicht zu erwähnen. Es war die Zeit, in der sie sich um die Nachfolge ihres Onkels Wolfgang als Festspiel-Leiterin bewarb und zwischen verschiedenen Mitgliedern der Familie offener Streit herrschte.

Benedikt von Bernstorff: Biographien entwickeln sich ja immer durch das Austarieren von Nähe und Ferne zur Herkunftsfamilie. Bei Ihnen hat dieses Thema eine spezifische, auch öffentliche Dimension, weil Sie zur Wagner-Familie gehören. Sie sind in Bayreuth aufgewachsen, haben aber auch Abstand von der „Heimat“ und den Festspielen gesucht. Gab es Momente, in denen Sie am liebsten gar nichts mit dem ja auch sehr belasteten Wagner-Komplex zu tun haben wollten?
  Nike Wagner: Ein Abstand zu Richard Wagner und Bayreuth hat sich zunächst durch äußere Ereignisse – oder besser: Katastrophen – hergestellt. Mein Vater Wieland Wagner, gefeierter Erneuerer von Bayreuth, starb überraschend früh, 1966 mit 49 Jahren; die Theaterwelt war schockiert. Sein Bruder Wolfgang, bisher schon Mitregent der Festspiele, kam ans Ruder und leitete eine Ära der Entfremdung von diesem Ort, seiner Weihestätte und den anderen Familienzweigen ein. Mein Elternhaus, die Villa Wahnfried, verfiel, verfaulte, stand leer. Die Großmutter war kaltschnäuzig, die Mutter jammerte – nur raus.
    Ich war damals 21 Jahre alt, rannte los in die Welt, Bayreuth versank. Erst zehn Jahre später – 1976 –, als frischer Wind wehte und ein junger Franzose, Patrice Chéreau, den Jubiläums-„Ring“ in Bayreuth inszenierte und mit Pierre Boulez ein Mann der zeitgenössischen Musik am Pult stand – kehrten meine Geschwister und ich als Festspiel-Besucher zurück. Damals wurde auch, im Zug der Gründung einer Richard-Wagner-Stiftung, das Haus Wahnfried in den „Originalzustand“ versetzt und zum Museum gemacht. Wenn ich in den künftigen Jahren zu den Festspiel-Premieren kam, war das also kein „Nach-Hause-Kommen“, sondern eine Hotelnacht mit Antichambrieren im Betriebsbüro.
    B. B.: Wofür haben Sie sich nach dem Abschied von Bayreuth besonders interessiert?
    N. W.: Ich dachte: wenn schon heimatlos, dann ordentlich. Jahre des Studiums von Musik, Literatur, Theater folgten – erst in Westberlin, dann in den USA, dann in Paris und Wien. Meine Interessen waren grundsätzlich wagnerfern: die Neue Musik, das experimentelle Theater – und in der Literatur nicht die Panegyrik, sondern Ironie, Witz, Satire, Klassenkampf. In Chicago, inmitten der jüdischen Emigrantenzirkel, promovierte ich über Karl Kraus, bis ich mich Ende der 70er Jahre endgültig in Wien niederließ. Meine Kraus-Dissertation wurde von Suhrkamp angenommen, es folgten weitere Essaybände zur Kunst und Kultur um 1900 – die Öffentlichkeit war erstaunt darüber, dass ein Apfel so weit vom Stamm fallen konnte. Vom Existenzgefühl her war das angenehm, sah tatsächlich nach Individuation aus. Jedenfalls gab es auch ein Leben außerhalb von Familie und genetisch bedingter Bayreuth-Karriere.

B. B.: Wie kam es, dass Sie sich später dem Thema Richard Wagner und den Festspielen wieder angenähert haben?
    N. W.: Gerade weil ich mich in oppositioneller Haltung geschult hatte und als gefestigt empfand, konnte ich mir einen „Rückweg“ wieder leisten. Aus der Dunkelkammer der Zugehörigkeit und mit wachsender Wut auf die künstlerische Ödnis auf dem Grünen Hügel begann ich meinen publizistischen Feldzug gegen den Onkel und jahrzehntelangen Festspiel-Diktator. Im Insel-Verlag erschien „Wagnertheater“. Verwunderung erregte die spöttische Objektivität, mit der ich mich selbst in diese Geschichte einbrachte, als wäre ich eine andere. Verwunderung erregte auch, dass ich bald danach – anscheinend – eine Volte schlug, vom kritisch-distanzierten zum positiv-aktiven Engagement für Bayreuth. In Wirklichkeit war das aber nur die Kehrseite derselben Medaille, entsprang demselben – familiären – Verantwortungsgefühl für die Festspiele.  
    B. B.: Sie haben sich dann mehrfach für die Leitung der Festspiele beworben und hatten in der Öffentlichkeit nicht wenige Fürsprecher. Ich erinnere mich an einen Artikel der Musikkritikerin Christine Lemke-Matwey, der angesichts der von Ihnen beschriebenen künstlerischen „Ödnis“ in Bayreuth mit den Worten endete: „Mehr nicht, mehr Nike!“
    N. W.: Über Jahre hinweg, von 2001 bis 2008, zog sich das familiäre Nachfolge-Gerangel, unterspült von viel Politik und Intrige. Nach dem Motto: „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ meldete ich meine Bereitschaft zur Leitung der Bayreuther Festspiele an, zuletzt mit Gérard Mortier, dem damals besten und wagemutigsten Theaterintendanten. Der von Bayern und dem Festspiel-Prinzipal gesteuerte Stiftungsrat wählte aber naturgemäß die heimische Variante: Es wurden die beiden Töchter Wolfgang Wagners berufen.
    B. B.: Die heutige Chefin Katharina Wagner ist, wie ihre Vorgänger Siegfried und die Brüder Wieland und Wolfgang, Kind eines relativ alten Vaters. In der Summe ergibt sich eine Generationenverschiebung. Katharina ist ja erst die Urenkelin von Richard. In Bayreuth hat mir Ihr Onkel Wolfgang erzählt, dass er sich noch gut an Cosima, Richards Witwe, erinnern konnte. Hatten Sie in Ihrer Bayreuther Jugend auch das Gefühl, dass das 19. Jahrhundert und vielleicht auch der Festivalgründer irgendwie gar nicht so weit weg sind? Dass man dort in einer anderen Zeitrechnung lebt? 
    N. W.: Es ist richtig, dass die Bayreuther Dynastie in der Gründungs- und Nachfolge-Generation von alten Vätern und jungen Müttern geprägt war und sich deshalb eine Generationen-Verschiebung ergeben hat. Mit der dritten Generation hat sich das freilich geändert. Es ist auch nicht zu leugnen, dass diese Generation noch am deutschnational aufgeladenen „Bayreuther Geist“ partizipiert hat, der Festspielhaus und Wahnfried prägte, vom antisemitischen Richard über seine Witwe weitergereicht an den Sohn Siegfried und erst recht an dessen Witwe Winifred, die den Übergang in den Hitlerismus zu verantworten hatte. Wenn man will, kann man darin das Erbe des späten, nationalistisch aufgeheizten 19. Jahrhunderts sehen. Der Familie Wagner kommt in diesen Dingen ja eine gewisse Repräsentanz zu. Der Krieg war dann die Zäsur, da gab es – wenn auch keine aufrichtige Beschäftigung mit der „Schuldfrage“ – so doch eine ideologische Kehrtwende im Sinne einer Selbstreinigung durch künstlerische Entrümpelung, stilistische Abstraktion auf der Bühne und das Engagement möglichst „nichtdeutscher“ Dirigenten.
    Ich würde also nicht sagen, dass Bayreuth je in einer „anderen“ Zeitrechnung gelebt hat, sondern im Gegenteil: Wagners Bayreuth ist fast immer das genaue Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer geisti-
gen und politischen Strömungen. Schauen Sie in die Gegenwart: weibliche Dirigenten, TV-Serien-Ästhetik, Beachtung „inklusiver“ und „immersiver“ Digitalität, Performance-Trends, moderne Werbetechniken.
    B. B.: „Alte Väter und junge Mütter“, in dieser Konstellation lag auch ein Emanzipations-Potential für die Frauen, weil die Söhne beim Tod ihrer Väter zu jung für die Festival-Leitung waren. Cosima hat Richard um 47, Winifred hat Siegfried sogar um fast 50 Jahre überlebt. Beide haben zeitweise die Co-Leitung der Festspiele übernommen. Gab es in Bayreuth neben dem patriarchischen Prinzip mit „Ur-Vater“ Richard auch ein matriarchisches? Oder würde man bei Cosima und Winifred mit einem Mischbegriff eher von „Patriarchinnen“ sprechen? Weil sie sich in den Dienst des Vater-Prinzips gestellt haben?
    N. W.: Ich würde hier gern die zweite Ehefrau von Wolfgang Wagner zu Wort kommen lassen. Auf die Bitte eines Journalisten hin, den Festspielleiter sprechen zu dürfen, gab Gudrun Wagner kurz und bündig zur Antwort: „Mein Mann bin ich!“ Von Winifred ist Vergleichbares nicht überliefert. Sie stellte sich brav hinter ihren Mitstreiter Heinz Tietjen, den Generalintendanten der Preußischen Staatstheater. Und Cosima ließ sich einen Verschlag bauen, um aus diskreter Abgeschiedenheit – wie ein unsichtbarer Richard – ihre Befehle an die Mitwirkenden zu formulieren. „Dienen“ war ein Schlüsselwort der älteren Frauen-Generationen, auch wenn sie sehr wohl zu herrschen wussten.
    B. B.: Als fanatische Hitler-Anhängerin war Winifred ja dabei die „Dienerin zweier Herren“. Die Verstrickungen der Wagners in den Nationalsozialismus haben nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur dazu geführt, dass die Familie beinahe die Leitung der Festspiele hätte abgeben müssen; gerade die linke Musikwissenschaft hat Person und Werk Richard Wagners ganz grundsätzlich in Frage gestellt.
    N. W.: Es ist ein weites Feld, auf das wir uns hier begeben. Es gab ja nicht nur den älteren, den „nationaldeutschen“ Bayreuther Wagner, nicht nur den ergebensten Untertan des bayerischen Monarchen, nicht nur den Verfasser von antisemitischen Schriften, sondern auch den linken, den Dresdner Revolutionär, den Kunst-Revolutionär der Züricher Exiljahre und den Kapitalismus-Feind des „Nibelungenrings“. Die solide „linke“ Musikwissenschaft – von Hans Mayer bis hin zu Reinhold Brinkmann – wusste das wohl. Sie wusste auch, dass es dem Künstler Wagner ausschließlich um die Durchsetzung seines Werkes ging – was nicht heißt, dass ihm sein ideologischer Opportunismus und seine wahnhaften antijüdischen Suaden verziehen werden sollten.

B. B.: Im Rahmen einer Fundamentalkritik an Wagner wurde zeitweise überlegt, ihn  sozusagen durch Franz Liszt zu „ersetzen“, weil Liszt nicht nationalistisch, großzügig gegenüber anderen Komponisten und musikalisch, mindestens in seinem Spätwerk, genauso radikal war wie sein Schwiegersohn.
    N. W.: Ja, mit dem kosmopolitisch gelassenen Franz Liszt war immer alles anders, nicht nur, weil er ein tiefgläubiger Katholik war und von Haus aus erst mal ausübender Musiker. Liszt identifizierte sich mit nationaler Vielfalt und war ästhetisch unbekümmert, undogmatisch. Auch deshalb vielleicht war dem Komponisten Liszt bis heute wenig Karriere beschieden. Gehört zur „Karriere“ vielleicht ein gewisses Maß an schlechtem Charakter …?
    B. B.: Sie sind schließlich statt nach Bayreuth 2004 nach Weimar gegangen und haben dort bis 2013 die Leitung des Kunstfests übernommen. Weimar war eine wichtige Wirkungsstätte von Liszt.
    N. W.: In Weimar ist Liszt vom Klaviervirtuosen zum Komponisten geworden, jedenfalls in verstärktem Maß; als Leiter der Hofkapelle engagierte er sich für zeitgenössische Musik. In späteren Jahren war er legendärer Klavierpädagoge. Für die Konzeption eines Kunstfestes bot Liszt also wirklich alles: den Respekt vor der Tradition und den Neuerungswillen, die Internationalität wie den Lokalbezug und das Engagement für den Nachwuchs – immer überstrahlt vom Faszinosum seiner Schönheit und seines Altruismus.
    B. B.: War für Sie der Weg von Bayreuth nach Weimar auch ein Kommentar zur Haltung der Wagners zu Liszt?
    N. W.: Natürlich hat es mir Spaß gemacht, Liszt gegen Wagner auszuspielen und den familiären Snobismus gegenüber Liszt herauszufordern. Er galt als die Nummer zwei in der Musik: Was bedeuten schließlich perlendes Klavierspiel und symphonische Dichtungen gegenüber tonnenschweren Musikdramen? Cosima Wagner war an dieser herablassenden Haltung nicht unschuldig; ihre Stellung als Tochter hier und Ehefrau dort verlangte nach Prioritäten. Für Franz Liszt würde ich jedenfalls auch weiterhin auf die Barrikaden gehen – was in der liberalen Gesellschaft nur heißen kann, weiterhin die Trommel für dieses romantische Musikergenie zu rühren!

B. B.: Nach dem Kunstfest Weimar kam für Sie von 2014 bis 2020 die Leitung der Beethovenfeste Bonn. Wenn man nur diese drei Stationen Ihrer Biografie – Bayreuth, Weimar, Bonn – und die mit ihnen verbundenen Komponisten Wagner, Liszt und Beethoven betrachtet, ist das eine chronologisch umgekehrte Reise in die deutsch-österreichische Musikgeschichte. Welche neuen ästhetischen Perspektiven haben sich für Sie durch Beethoven ergeben?
    N. W.: Meine programmatischen Bemühungen in Bonn liefen in drei Richtungen. Insgesamt zielten sie darauf ab, das Bild des „Titanen Beethoven“ in Frage zu stellen. Die sog. „Klassikerzertrümmerung“ hatte ja schon in den frühen 70er Jahren stattgefunden, denken Sie an Mauricio Kagels Beethovenfilm. Damals hatten die Klassikerklischees aber eben noch funktioniert. Heute muss man Beethoven eher „kontextualisieren“, wie es modisch heißt: Wo kam er her – wo ging das hin? Ein zweites Anliegen war mir, die „historisch informierte Aufführungspraxis“, den „Originalklang“ zu pflegen. Das Klangbild ist da luftiger und härter, das hilft auch, Beethoven zu einem Zeitgenossen zu machen. Und dann sind mir die Künste unserer Gegenwart wichtig gewesen.
    B. B.: Sie haben bei den Festspielen ja ganz neue Formen der Auseinandersetzung mit Beethoven etabliert.
    N. W.: Alle möglichen Crossover- und Überschreibungskünstler nehmen sich inzwischen der „Klassiker“ an. Zu den phantasievollsten gehört die Tiroler Musicbanda Franui, die nicht nur in Bonn bei mir spielte, sondern schon in Weimar. „Wenn man einen Trauermarsch viermal so schnell spielt, dann wird er zur Polka“ – das konnten diese Musiker nachweisen. Und wie nimmt sich etwa die „Große Fuge“ vertanzt aus? Wie hört sich die „Egmont“-Musik an, wenn eine andere politische Katastrophe – hier der Völkermord in Ruanda – den niederländischen Freiheitskampf ersetzt? Da gab es die erstaunlichsten Ergebnisse.
    B. B.: Gibt es in Bonn einen spezifischen Blick auf Beethoven, den berühmtesten Sohn der Stadt?
    N. W.: Die Beethoven-Rezeption in Bonn war für mich eher kurios. Ganze Bürgerschaften und Vereine kümmern sich hier um Beethoven, als gelte es, ihn „durchzusetzen“. Man erwähne bloß nie, dass Beethoven nach Wien emigriert ist!
    Ein persönliches Wunder war für mich das „Wiederfinden“ Beethovens. Es gab ihn ja immer, er war immer da, war auch meine Jugendliebe, dann nahm mir der Beethoven der „Bewahrungskultur“ die Lust an Beethoven. Aber als der Namenspatron meiner Feste tauchte er in alter Frische wieder auf. Auf den Schlusssatz der Neunten könnte ich verzichten, aber der „revolutionäre“ Beethoven hatte es mir immer angetan. Das machte sich damals, bei meinem „Vorsingen“ im Rat der Stadt Bonn, bezahlt: Ich vergesse nie, wie sich das Gesicht des politischen Sprechers der Linksfraktion verklärte, als ich dies kundtat … er hob den Arm und ich war gewählt.

B. B.: Wir haben über Musik- als Familiengeschichte gesprochen. Auch die „Ring“-Tetralogie ist eine große Familiengeschichte, in der es viele Parallelen zu den Wagners gibt: den Konflikt zwischen Liebe und Macht, überdimensionierte Bau-Vorhaben oder den Kampf ums Erbe. Hat Wagner das einfach so gültig in Kunst transformiert, dass es eben auch für seine eigene Familie zutrifft, oder ist da etwas aus der Kunst ins Leben übergesprungen?
    N. W.: Letzteres wollte ich wohl in meinem Buch „Wagnertheater“ suggerieren, indem ich die Familiengeschichte vereinte mit meinen Essays zu den Musikdramen. Alles passte da so schön zusammen … fehlte nur ein neuer Tonsetzer!
    Grundsätzlich finde ich aber jede Familiengeschichte interessant und auch mythologisierbar. Da gibt es immer einen Reigen an Zufällen: genetische, psychologische, biologische, zeitgeschichtliche – und im Rückblick sieht das Ganze dann nach Bestimmung und Schicksal aus. Wagner kam von den alten Griechen her und zog die nordischen Sagen bei, wo er sie brauchte. In den bürgerlichen Familienkäfigen des 19. Jahrhunderts haben sich strukturell ähnliche Familien-Tragödien ereignet, wir wissen davon aus den „Buddenbrooks“ oder der „Forsyte-Saga“ und finden es auch in den Soaps unserer Tage wieder. Familiengeschichten sind Dauerbrenner. Da Wagner immer auf die größtmögliche Erschütterung seines Publikums zielte, lieferten ihm die emotionalen Bindungen unter Familienmitgliedern noch besseres Material als selbst die zugkräftigsten Liebesgeschichten. Elsa und Lohengrin – sogar Tristan und Isolde – werden von der Tiefenwirkung des Vater-Tochter-Konflikts zwischen Wotan und Brünnhilde übertroffen. Der Abschied! Das „Nie wieder“! Zu schweigen von der verbotenen Liebe innerhalb der Familie: die wilden Zwillinge Siegmund und Sieglinde – da weint das Publikum noch heute. Und Wagner hat wieder einmal gewonnen!
    B. B.: Es könnte sein, dass nach Katharina Wagner kein Mitglied der Familie mehr an der Spitze der Institution stehen wird. Würden Sie die Trennung der Festspiele von der Familie begrüßen? Oder hängt die Faszination Bayreuths doch zu stark genau mit dieser Verbindung zusammen, an der sich so viel Geschichtliches und Politisches ablesen lässt?
    N. W.: Ich bin da im Zwiespalt. Dem gesunden Menschenverstand wird es selbstverständlich sein, genetische Erbfolge und Postenbesetzung – das dynastische Prinzip und die Eignung für ein künstlerisches Unternehmen – auseinanderzuhalten. Die Zeiten eines Privattheaters sind vorbei. Der bayerische Ministerpräsident hat sich aber neulich zur Wagner-Folklore bekannt und damit den mythologischen Mehrwert für die Festspiele bezeichnet, wenn das echte Blut an der Spitze steht. Es gibt ja in der Tat dieses seltsame Ur-Vertrauen in ein Beisl, von dem es heißt: „Hier kocht der Wirt“. Als irrationales, aber neblig-schönes Moment, als Nornenseilschaft quer durch die Brunnen der Vergangenheit, als anfassbare Rückbindung an Geschichte und Gesellschaft – meinetwegen, aus dieser Perspektive könnte was dran sein. Und vergessen Sie nicht: super Marketing!
    B. B.: Wie blicken Sie selbst heute auf das Geschehen am Grünen Hügel?
    N. W.: Die Kurven meines Wagner / Bayreuth Interesses haben längst keine fiebrigen Ausschläge mehr. Freundliche oder kopfschüttelnde Anteilnahme sind an der Tagesordnung. Ich glaube, ich habe getan, was psychisch und realiter notwendig war. Nach zwanzig Jahren eigener und vielfältiger Festspiel-Arbeit ist der Gedanke, Heldentenöre, Hochdramatische und Kreativregisseure finden zu müssen, ein eher unbarmherziger …

 

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