Wenn ein Magazin wie Quart die 44. Ausgabe erreicht, bedarf diese schöne Zahl eines besonderen Covers. Der weltweit beachtete belgische Künstler Wim Delvoye – ein Meister des Vexierbildes, dessen Arbeiten unsere Beziehung zur Kunst und zu den Objekten unserer Umwelt seit jeher in Frage stellen – gestaltet für die Jubiläumsausgabe den Umschlag und eine Ausschneideschablone. Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Nadja Ayoub führt mit ihrem Text in die Arbeit des Künstlers ein. In einer sehr freien und spielerischen Interpretation verbindet sie dabei Dialog, grundlegende Informationen und Tagträumerei in Form von lyrischen Assoziationen miteinander.
Prolog. Stellen Sie sich vor, Sie würden in einem Theater sitzen. Der Vorhang geht auf und Sie sehen das Bild einer Skulptur von Antonio Canova auf einer Leinwand –
Venus und Adonis – das wohl bekannteste Liebespaar der römischen Mythologie. Sie sehen die feinen Linien, die zärtliche Umarmung, Venus’ flehenden Blick, der Adonis an seinem Aufbruch zur Jagd hindern soll. Plötzlich beginnt das Bild zu zittern, es schwindet. Vollkommene Dunkelheit. Als wieder ein Lichtstrahl von der Deckenleuchte den Saal erhellt, steht eine Skulptur in der Mitte der Bühne. Es sind erneut Venus und Adonis, aber diesmal nicht von Canova, sondern von Wim Delvoye – in sich verdreht, langgezogen, fest umschlungen. Es scheint, als würde ein Wirbel sie festhalten und die Figuren endlos im Kreise drehen. Ihr Blick folgt dieser gedrehten Transformation. Anfangs versuchen Sie noch die Form in ihrer klassizistischen Vollkommenheit zu rekonstruieren, bis Sie erkennen, dass es nicht gelingen kann, und so Ihren Blick, Ihr Wissen und Ihre Bewegung völlig neu ausrichten müssen.
Ich könnte es eine Geschichte nennen. Eine Erzählung. Einen Traum. Aus der Nähe betrachtet könnte es eine Beschreibung sein oder einfach nur der Versuch einer Annäherung an Wim Delvoyes Werk.
Im Schlund seines Rachens ist ein Operationstisch zu sehen.
Artifizielle Entrückung.
Das Rauschen ist sich schon immer uneins mit dem weißen Blatt Papier und an meinen Schenkeln gleiten schwammige Fadenwürmer hinab.
Balladen aus dem Mund Nana Mouskouris erklingen in Winckel-mann’scher Manier über die edle Einfalt und stille Größe.
Betörend.
Ich schlafe zu oft und träume nie.
Ich treffe Sie im Depot des Musée d’art et d’histoire in Genf. „Das Werk …“, fragen Sie mich, „was halten Sie davon? Wie würden Sie es einordnen?“
Meine Antwort dauert lange. Sie liegt eingequetscht zwischen dem letzten Bissen meines Mittagessens und einer ordentlichen Portion Magensäure, die mir ständig aufstößt.
„Ich sehe es und befinde mich im Anblick der Chimären.“ – „Oberflächlich betrachtet, scheint es der Wunsch nach einer Einordnung zu sein, eine Art Wunderkammer, ein Sammelsurium, eine Sehnsucht nach Manifestation ohne Verankerung innerhalb der Geschichte. Und das wiederum ist es auch nicht. Es ist keine Gegenüberstellung, kein Vergleich. Es betrifft nicht die reine Imitatio, wird aber von ihr gespeist. Es ist die Dekonstruktion eines Beweises, dessen Legitimation wir uns vorher so sicher waren. Die Abgründe, die sich darin auftun, erzeugen erschreckendes Unbehagen auf der einen Seite, vieles ist womöglich verwerflich. Sie würden so manches in Frage stellen. Ich tu es selbst. Auf der anderen Seite offenbart sich die Idee eines Sammlers, eines Liebhabers, eines leidenschaftlichen Suchenden, eines von Sehnsucht Getriebenen, eines den Wissenschaften Zugewandten – gepaart mit Humor und Eitelkeit. Das Profane und das Sakrale liegen nah beieinander und reichen dem Pop, der Hochkultur und dem Kitsch lächelnd die Hand. Es ist eine Art hybride Romantik, deren Geheimnis ganz offensichtlich im surrealistischen Schafspelz steckt.“
Im Schlund seines Rachens ist ein Operationstisch zu sehen.
Ambivalente Tagträumerei.
Der Mäander klebt an der Decke und frisst mir aus der Hand.
Surrealismus paart sich mit einer chinesischen Gazelle.
Die Dose mit den Süßigkeiten ist fast aufgebraucht.
Ich lasse das medizinische Besteck auf dem Tisch zurück.
An der Schere kleben Hautfetzen.
Rauschen. Es folgt eine Durchsage:
„Liebe Besucher und Besucherinnen. Wir dürfen Sie darauf aufmerksam machen, dass das Museum in Kürze geöffnet wird. Nachdem Sie unsere Museumsapp heruntergeladen haben, drücken Sie bitte den Startknopf für die Guided Tour ,Wim Delvoye. Im Anblick der Chimären‘. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt. Press the Button.
Wim Delvoye wird 1965 in Wervik, Westflandern geboren. Anschließend absolviert er ein Studium an der Akademie der Schönen Künste in Gent. Die ersten Arbeiten, mit denen er Ende der 1980er Jahre in der belgischen Kunstszene auffällt, zeigen Gaszylinder und Kreissägen, die er weiß bemalt und in Anlehnung an das Delfter Porzellan mit Klischees wie blauen Windmühlen oder Musterkombinationen aus Brügger Spitze verziert.“
Proust weckt mich aus meinen Träumen.
„Les bois sont déjà noirs, le ciel est encore bleu.“
Monsieur Legrandin zitiert einen Vers von Paul Desjardins.
Ich spreche kein Französisch.
Du wiederholst die Zeile, während dir der Speichel aus dem Mund rinnt.
„Les bois sont déjà noirs, le ciel est encore bleu.“
„Die Wälder sind schon schwarz, der Himmel ist noch blau.“
Weck mich noch nicht.
Pause. Es folgt eine Durchsage:
„Sie befinden sich nun außerhalb der Sphären.
Alltägliche Gegenstände wie Bügelbretter, Autoreifen, Schaufeln nehmen wie bereits zuvor Gaszylinder und Kreissägen Einzug in Wim Delvoyes Schaffen – hybride Objekte aus Gebrauchsgegenständen kombiniert mit herrschaftlicher Symbolik. Wir kennen diese einfachen Gegenstände, sie sind Teil unseres Lebens und gleichzeitig irritiert ihre ästhetisch anmutende Schönheit unsere Vorstellung eines Arbeitsgerätes.
Die gesellschaftliche Struktur der Klassentrennung spiegelt sich darin wider. Die Schaufel des Handwerkers/der Handwerkerin steht schön aneinandergereiht in einer Linie neben vielen ihrer Art. Noch nie benutzt, fein bemalt, bricht sie mit hierarchischen Denkmustern unserer Gegenwart. Delvoye führt das Ideal einer Gesellschaft mit radikaler Gleichheit einvernehmlich zusammen. Die Grenzen des guten Geschmacks werden dabei immer wieder hinterfragt, überschritten, erweitert, neu festgelegt. Die Ästhetik bleibt ein Klischee, das es zu erhalten gilt. Dabei arrangiert sie sich gleichermaßen mit dem Banalen wie mit dem vermeintlich Bedeutsamen.“
Mich schaudert dein Anblick.
Heißes Wasser rinnt über meine Füße.
Ich drehe den Hahn erst ab, als sie sich zur Gänze purpur färben, wringe das Wasser aus meinen Zehen und setze mich in die Küche.
Die großen Ohren lassen mich dabei immer wieder stolpern.
Ich esse Kuchen vom Geschirr meiner Großmutter.
Blaue Veilchen am Rand umgeben von grünen Blättern.
Zu Mittag gibt es Kalbszunge.
Ich bitte dich, das Decorum zu wahren. Hörst du?
Störung. Es folgt eine Durchsage:
„Achten Sie auf das Schaudern am Eingang des dritten Stocks.
Provokation und die Frage nach der Moral lösen Ende der 1990er Jahre eine hitzige Debatte über Tierquälerei aus, als Wim Delvoye beginnt, lebenden Schweinen unter Narkose den Rücken zu tätowieren. Brokatkarpfen in einer Teichlandschaft, die jungfräuliche Mutter Gottes, umrankt von eisernen Dornen mit blühenden, roten Knospen, ein lächelndes Schneewittchen, Totenköpfe mit Säbeln im Kiefer, Piratenschiffe, Herzen, sich ringelnde chinesische Drachen, Jesus flankiert von einem Düsenjet mit Pin-ups in salutierender Pose, Louis-Vuitton-Monogramme usw. – ein dekoratives Ensemble mit Symbolen aus der Welt der Mode, Biker-Kultur und Disney-Filmen.“
Was würde Micky Maus dazu sagen? Fragst du.
Darauf kenne ich keine Antwort.
Vermutungen anstellen liegt mir fern.
Pelzpantoffeln im Sommer und weihrauchgeschwängerte Nebelschwaden in der Dorfkapelle inhalieren.
Das reinigt jede unschöne Seele.
Zerreißproben und chronologische Folter.
Am Ende bleibt dir nur die Story.
Ich hänge die Lackschuhe an den Nagel und folge dir in die Nacht.
Räuspern. Eine Durchsage folgt:
„Bitte verlassen Sie die Bodenmarkierungen nur an Donnerstagen.
Die Hauptinspiration hinter Wim Delvoyes Maschine ,Cloaca‘, an der er zwischen 1997 und 2010 arbeitet und wovon es unterschiedliche Ausführungen gibt – von zwölf Meter Länge bis hin zu kleinen Exem-
plaren, die in einen Koffer passen –, liegt in einem seit jeher existierenden Wunsch, Krankheiten und genetische Probleme des Menschen zu beseitigen. Gerade in den 1990er Jahren wird weltweit eifrig an einer Kartografie der menschlichen DNA gearbeitet. Dolly, das erste geklonte Schaf, wird zu dieser Zeit in Schottland geboren. Cloaca ist eine Verdauungsmaschine und sie produziert dank Enzymen und anderen Stoffen Exkremente, die sich vom menschlichen Stuhlgang kaum unterscheiden. Die Fäkalien werden anschließend in Folien eingeschweißt, in einem Quader verpackt, beschriftet und verkauft. Sie erinnern an die Merda d’artista von 1961, den in Dosen abgefüllten Kot des Künstlers Piero Manzoni. Wim Delvoye richtet Cloaca als Unternehmen ein, entwirft Firmenlogos, die von Ford, Coca-Cola oder Harley-Davidson inspiriert sind, und schafft dadurch ein ironisches Scheinimperium, welches sich durch Ausscheidungen erhält. Firmenanteile werden verkauft und in Kot ausgezahlt. Durch etwas so Unscheinbares wie den täglichen Gang zur Toilette legt Delvoye Mechanismen offen, die dem Aufstieg und Erhalt echter globaler Marken eigen sind.“
Erneut. Eine Durchsage folgt:
„Sie haben Saal 6 übersprungen.“
Scharfsinnige Spitzfindigkeiten.
Desjardins’ Zeilen sitzen schwer in meinem Kopf.
Aus dem Höllenschlund verhallt seelenloser Klang: Noch ist nicht aller Tage Abend.
Mein Schatten erschrickt und versteckt sich hinter der Kommode.
„Die Wälder sind schon schwarz, der Himmel ist noch blau.“
Das Besteck, fein poliert, liegt bereit.
The first cut is the deepest.
Stille. Eine Durchsage folgt:
„Sie befinden sich nun in der Hauptausstellung. Folgen Sie allem und nichts.
2023 ist Wim Delvoye der vierte Künstler, der eine Carte Blanche des Musée d’art et d’histoire in Genf für eine XL-Ausstellung erhält, und er geht damit uneingeschränkt der Frage nach dem Status der Dinge an und für sich nach. In ,Die Ordnung der Dinge‘ ist alles Bewegung, ist alles beweglich. Nichts fixiert, versteift oder lenkt. Höchstens die Kugelbahn, die sich durch Bilder und Wände schlängelt, gibt eine mögliche Richtung vor. Das Museum, die Sammlung, als Spielwiese erweitert und gepaart mit den Werken des Künstlers selbst. Welche hierarchischen Strukturen machen wir uns in dem Sortiment der Gegenstände zu eigen? Wie definieren wir unsere Strategien der Wertzuweisung? Delvoye konzentriert sich als Künstler-Kurator vor allem auf die außer Acht gelassenen Artefakte und Darstellungen. Der vorherrschende Kanon wird aufgebrochen, umgelenkt, das Fundament neu gelegt. Es ist eine wissenschaftliche Umkehrung, erfolgt durch einen, wie er es selbst nennt, ,eleganten Vandalismus‘. Aus den Museumshallen scheint es zu rufen: Lasst uns in Frage stellen, was wir wissen, was wir sehen und wie wir es tun.“
Ohne Scheu scheinst du Manifestation aufreißen zu wollen.
Ein tiefer Graben der nicht enden wollenden Wissenshymnen.
Verachtet. Gepriesen. Verstummt.
Es gibt keinen Beweis und auch keine Analyse.
Ich gebe mich deiner Torsionsbewegung vollkommen hin.
Ohne Umschweife folgt dir mein Blick, bis ich der Ohnmacht nahe den Halt unter meinen Füßen verliere.
Du lieber Antonio Canova flieg.
„Was suchen wir hier eigentlich?“, fragen Sie erneut. „Ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen“, entgegne ich. „Ich suche nach dem überschaubarsten, unspektakulärsten und womöglich auch unsinnigsten Ding, das hier verwahrt wird.“ „Sie suchen also nach dem weißen Blatt Papier?“ – „Vielleicht, aber mehr noch nach dessen Entrückung. Die Narrative bleiben hier außen vor und Pablo Picasso ist gleichbedeutend wie der Tiersarkophag einer ägyptischen Katze.“ Und weiter: „Ich habe mir sagen lassen, dass Gordon Matta Clark und der Film ,Der Lauf der Dinge‘ als Paten für die Ausstellung gelten.“ – „Plaudern Sie nicht aus dem Nähkästchen.“
Aus dem Lautsprecher ertönt Arnold Schönbergs Klavierstück Opus 33 a, No. 1.
Eine Durchsage folgt:
„Liebe Besucherinnen und Besucher! Wir dürfen Sie darauf aufmerksam machen, dass das Museum in 15 Minuten geschlossen wird. Der einzige Ausgang erfolgt über den Museumsshop. Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Ausgabe der Kulturzeitschrift Quart mit einer Sonderedition von Wim Delvoyes ,Twisted Canova‘ – nur heute zum Sonderpreis erhältlich ist. Werden Sie kreativ und haben Sie in Kürze Ihre eigene Wim-Delvoye-Skulptur als DIY-Cut-Out-Template auf Ihrem Nachtkästchen stehen. Wir bedanken uns für Ihren Besuch und wünschen Ihnen ein schönes Wochenende.“
Ich halte an der Ordnung fest.
Fein säuberlich sortiert, steigst du mit dem Koffer in den Keller.
Währenddessen singe ich mit den Vögeln um die Wette, bis die Narzissten schlafen am Teich.
Deine Drehung sieht unangenehm aus.
Halt mich fest, wenn ich dir sage, dass du nicht triffst.
Der Hund bellt und das Glas fällt zu Boden. Sein Brechen verliert sich im Echo der Narretei.
Es sticht.
Ich steige die Marmortreppen empor, immer wieder auf und ab, erst geradlinig, dann in Kreisen, bis ich oben angekommen, mich, meine Hände suchend hinter dem Harnisch verstecke.
Nimm die Schere in die Hand.
Gotik ist ein Label und Louis Vuitton tut es auch.
Meine Erinnerung ist eine Negativform mit rotem Samt umzogen.
Neoliberales Gruseln umhüllt die Flexibilität.
Gegen den Strich.
–
I promise I will never die.