Der Weg der in Bozen geborenen Sozialanthropologin Barbara Plankensteiner führte über Yale nach Hamburg, wo sie sich als Direktorin des „Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK)“ unter anderem mit den Nachwehen des Kolonialismus beschäftigt. Eine Begegnung. Von Magdalena Schrefel.
Den Termin zu bekommen war nicht einfach.
Jetzt bin ich da.
Nachdem mir die Pressereferentin kurz das Haus erklärt, mir einen alten Hörsaal und die Bibliothek gezeigt hat und auf meine Frage, was sich in dem alten Safe im Flur befindet, nur lacht und sagt: „Kein Gold und keine Gebeine“; nachdem ich mir im Schnelldurchlauf die Ausstellungen „Pippis Papa“, „Hamburg und Tirol“, „Benin. Geraubte Geschichte“, „Erste Dinge“ und dann sogar noch rasch die alte Ägyptensammlung allein angesehen habe; später im fantastisch hellen Büro unterm Dach der Direktorin des MARKK eine knappe Stunde lang meine Fragen gestellt habe – ganz zum Schluss also wird Barbara Plankensteiner auf mein Nachfragen, ob es diese eine, alles verbindende Frage in ihrer Arbeit gibt, antworten:
„Mein Fokus liegt darauf, zu zeigen, dass unsere Museen wichtig sind und dass sie auch wichtig sein können. Und gleichzeitig dazu beizutragen, dass nichteuropäische oder außereuropäische Kultur- und Kunstgeschichten die gleiche Wertschätzung, die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie europäische Kunst- und Kulturgeschichten. Und zu zeigen, dass das notwendig ist für unsere heutige Gesellschaft. Wir sind noch lange nicht am Ziel, aber das ist etwas, das wir hier im Museum stark versuchen. Und das ist auch etwas, das mich begleitet hat in meiner Arbeit, von Anfang an: die Anerkennung der Gleichwertigkeit der kulturellen Erzeugnisse. Auch wenn sie anders aussehen, einen anderen Hintergrund haben – sie sind ebenbürtig.“
In ihrer wechselvollen Geschichte ist die Ethnologie oder heutige Kultur- und Sozialanthropologie vielleicht am einfachsten zu beschreiben als das: eine verworrene und ständig aufs Neue zu entwirrende Geschichte davon, wie und welche Bilder wir uns von anderen machen. Und was das über uns selber aussagt.
Weil sie diese Bilder produziert und verfestigt hat, kann man die Ethnologie kritisieren. Man kann aber auch die Impulse aus ihrer Selbstbefragung aufnehmen, die auch und gerade jetzt so notwendig sind: Es gibt tatsächlich mehr als die eine, westliche Sicht auf die Dinge, mehr als die weiße, extraktivistische, koloniale und patriachale Weise, der Welt zu begegnen.
Und es gibt Wege, für das, was war, Verantwortung zu übernehmen.
Aber das ist nur meine Meinung.
Bekannt ist Barbara Plankensteiner dafür, dass sie Verantwortung übernommen hat, durch ihr Engagement in der Restitutionsfrage. Bereits 2007 / 2008 leitete sie eine Wanderausstellung, in der über 300 Benin-Objekte gezeigt wurden, um die Frage ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu hieven; 2010 traf sich auf ihre gemeinsam mit dem damaligen Director of Museums der National Commission for Museums and Monuments Nigeria ausgesprochene Einladung erstmals die Benin Dialogue Group, in der sowohl europäische Museen mit bedeutenden Benin-Sammlungen als auch deren Gegenüber aus nigerianischen Institutionen und der Zivilgesellschaft vertreten waren. Seither ist viel passiert, die Frage hat an Reichweite gewonnen, wichtige Stimmen sind neben Barbara Plankensteiner auch die französisch-deutsche Kunstwissenschaftlerin Bénédicte Savoy – und zahlreiche Menschen aus jenen Ländern, die sich heute um die Rückgabe der geraubten, entwendeten oder zumindest unter asymmetrischen Machtverhältnissen veräußerten Gegenstände bemühen.
Aber was bedeutet Restitution konkret? 
„Das kann man natürlich nicht so generell beantworten, aber ich glaube, dass Restitutionen eine wichtige Anerkennung sind, eine Anerkennung des Leids, das viele Menschen erfahren haben in der Kolonialzeit. Und dass sie Teil einer Wiedergutmachung sind und im Vergleich zu anderen Dingen vielleicht einen stark symbolischen Wert haben, also in den Gesellschaften quasi eine Form des Empowerments sein können. Daran knüpft sich auch eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf ein anderes Verhältnis zu Europa. Und das ist ja auch die Idee für uns als Museum: Restitution ist kein Ende, sondern für uns ist sie der Anfang einer anderen Form der Beziehung – die wir mit Institutionen herstellen und mit den Kolleginnen und Kollegen, oder mit den Gesellschaften, den Betroffenen.“
Im Bestand des MARKK befanden sich bis 2022 noch 179 Objekte aus Benin. Am 16. Dezember 2022 wurde ihr Besitz an Nigeria übertragen, zu dem das Territorium des ehemaligen Königreichs gehört. Wenige Tage später wurden die ersten Objekte zurückgegeben. „Benin. Geraubte Geschichte“ heißt die Ausstellung im MARKK, in der nach wie vor ein Großteil der Objekte zu sehen ist. Der Titel ist ein klares Bekenntnis zur eigenen Rolle. Und auf jeder Plakette unter jedem Objekt steht nun, auf Deutsch und Englisch gleichermaßen: Leihgabe der National Commission for Museums and Monuments Nigeria.
Es ist die Wiederholung, die hier die Erkenntnis erzeugt: kein einziges der Objekte, das nicht zurückgegeben werden musste, kein einziges, das rechtmäßig hierhergehört hat.
Das Museum, jedes Museum hat auch eine kritisch zu beleuchtende Geschichte: Wo nimmt das Sammeln seinen Anfang? Was und für wen wird aufbewahrt? Wie kommen die Objekte in den Besitz derjenigen, die sammeln? Und was, wenn es sich nicht um die Arbeit einer konkret zuordenbaren und ihr Werk für einen selbst bestimmten Preis veräußernden Künstlerin handelt – sondern um Objekte, die mehr als einem Einzelnen, einer Einzelnen gehören?
All das sind Fragen, mit denen sich heute nicht nur, aber auch das akademische Fach der Kulturanthropologie beschäftigt.
Und damit beschäftigt sich auch Barbara Plankensteiner.
Geboren wurde sie 1963, aufgewachsen ist sie in Bozen, Süditirol, studiert hat sie in Wien, aber wie kam es dazu?
„Ich habe schon als Kind viel gelesen und fand das immer ein bisschen zu eng – also nicht die Berge, ich liebe die Berge, sie stören mich nicht, aber die Kleinstadt war mir zu eng. Mich hat es einfach immer interessiert, einen breiteren Blick zu haben. Aber ich muss auch sagen, bevor ich Ethnologie studiert habe – es heißt ja heute Sozialanthropologie und ich bezeichne mich lieber als solche, weil ich das mit den Ethnien aus heutiger Sicht ein bisschen merkwürdig finde –, habe ich eigentlich nicht so genau gewusst, auf was ich mich da einlasse. Aber dann war ich dabei und fand es einfach interessant. Und habe schon sehr früh während des Studiums als Volontärin, also ehrenamtlich im Museum gearbeitet. Mich haben einfach immer schon die Dinge interessiert.“
Die Dinge: Allein die fotografische Sammlung des MARKK in Hamburg, das Barbara Plankensteiner nach Stationen in Kärnten, Wien und Yale / New Haven seit 2017 leitet, umfasst 450.000 Fotografien, dazu kommen noch ein Dokumentenarchiv, die Bibliothek mit ca. 95.000 Büchern und die Objektsammlungen.
Dinge eben.
Eines davon: ein überlebensgroßer Kopf, der insofern dreidimensional ist, als dass ein plastischer Hut auf ihm thront. Das Gesicht selber ist eine flache, geweißte Platte aus faserigem Material, ein perfektes Oval, die Proportionen klar erkennbar. Unter dem Hut lugen Ohren hervor, auf derselben Höhe im Gesicht sind zwei geschwungene Augenbrauen angebracht, darunter die Augen, eine Nase, ein geöffneter Mund mit braunem Schnauzbart. Auch an den Backen und
am Kinn hat das Gesicht braunen Bart. Das Material? Eine Art Bast, genauer kann ich es nicht bestimmen, auch in der Beschreibung steht nur: Pflanzenmaterial. Die Plakette informiert auch darüber, dass es sich um die Darstellung eines Europäers handelt.
Der Kopf ist eines der vielen Zeugnisse davon, dass die Blickrichtung der Ethnologie zwar vermeintlich einseitig war, dass es aber immer auch den anderen Blick gab, genauer: den Blick derjenigen, die beforscht wurden, auf diejenigen, die sie zu beforschen meinten. Der Kopf, der vielleicht als Maske gedient hat, hat in jedem Fall etwas Unheimliches im Sinne Freuds, weil darin auch etwas Heimliches, etwas Bekanntes liegt.
Über diese komplexe Beziehung hat die Ethnologin Heike Behrend in Menschwerdung eines Affen geschrieben, für das sie 2021 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet wurde. Darin folgt sie der „Figur der Umkehrung“, indem sie ausgehend von den Namen, die ihr durch diejenigen zuteilwurden, die sie besuchte und beforschte, eine Autobiografie der ethnografischen Forschung versucht, dem „inversen Blick der Ethnografierten auf die Ethnografin“ folgt, wie sie schreibt.
Und vielleicht ist das bei aller notwendigen Kritik etwas, das man in keinem anderen Museum so sehr einüben kann wie in den ehemals ethnografischen Sammlungen: ein anderes Blicken. Weil hier zur Reflexion der eigenen Sehgewohnheit angeleitet wird, weil hier dargelegt wird, dass die Art und Weise, wie wir auf andere schauen, welches Bild wir uns von ihnen machen, gelernt ist. Selbst, wenn uns die anderen sehr nah scheinen.
„Als ich begonnen habe, haben wir im Team darüber gesprochen, welche Sammlungen wichtig sind, ich wollte einen Überblick über die Bestände erhalten. Und da kam heraus, dass wir eine große Europasammlung hier im Haus haben – was für ein ehemals ethnografisches Museum nicht selbstverständlich ist. Und dass es darin auch eine wichtige Tirol-Sammlung gibt. Jemand hat dann erzählt, dass es in Hamburg früher auch Bälle gegeben hat, wo sich die Hamburger als Tiroler verkleidet haben. Und mir selber ist hier immer auch aufgefallen, dass ganz viele nach Tirol in den Ski-Urlaub fahren, dass es also ein positives Interesse gibt. Also haben wir uns gedacht: Lass uns doch eine Ausstellung zur Tirol-Sammlung machen und ebendiesen Spuren in der Hamburger Stadtgeschichte folgen. Und da haben sich dann unglaublich interessante Dinge aufgetan: das Restaurant Zillertal an der Reeperbahn etwa – oder die Schaustellungen, es gab hier tatsächlich Lunaparks mit Tirol-Gepräge. Und es gab einen wichtigen Grund, weshalb ich diese Ausstellung unbedingt machen wollte: Wir wollten zeigen, wie Kulturen konstruiert wurden, in unserem Museum oder auch im touristischen Blick, durch stereotypische Vorstellungen. Und das trifft für die Tiroler genauso zu wie für bestimmte afrikanische Kulturen. Denn tatsächlich ist die Tirol-Sammlung zeitgleich entstanden mit den anderen Sammlungen, also die Objekte stammen aus der gleichen Zeit wie die ozeanischen, die afrikanischen – und wurden ähnlich eingesetzt. Die Idee war also, dass man dadurch besser versteht, was in einem Museum oder im Tourismus passiert: Wie wird hier eine Welt konstruiert, die es in der Form so eigentlich gar nicht gibt?“
Dass jedes Museum also auch ein Fundort ist, sagt Barbara Plankensteiner. Dass es Zufälle sind, dass Sammlungen nicht nach reiner Konzeption angelegt werden, sondern in der Interaktion mit der Stadt, ihrer Bevölkerung, ihrer Geschichte entstehen. Dass die Sammlungen des Wiener Weltmuseums und des Museums hier in Hamburg sich also auch deswegen unterscheiden: Hamburg hat einen Hafen und war immer bürgerlich; die Sammlungen in Wien hingegen nehmen ihren Anfang in der Monarchie.
Und dass sie selber auch immer wieder verblüfft sei, was sich in den Sammlungen alles finde, sagt sie auch.
„Zum Beispiel haben wir vor einigen Jahren eine Ausstellung über Zeichnerinnen gemacht, weil eine Kuratorin,
die ursprünglich in der Inventur gearbeitet hat, auf spannende Dinge gestoßen ist. Wir haben ja Inventarkarten – das ist auch in anderen deutschen Museen so – und auf diesen Karteikarten sind die Objekte noch nicht in Form einer Fotografie dargestellt worden, sondern gezeichnet, also aquarelliert. Aber unglaublich detailgetreu! Und diese Zeichnungen, diese Aquarelle wurden von Frauen angefertigt, die die Kunstgewerbeschule besucht haben – und die eben billigere Arbeitskräfte waren. Die hat man also Anfang des 20. Jahrhunderts hier beschäftigt und die haben alle Objekte dokumentiert. Und diese Kollegin hat sich mit den Karteikarten beschäftigt und hat versucht, sie auch stilistisch einzelnen Frauen zuzuordnen. Und hat dann begonnen, über die Lebensläufe dieser Frauen zu recherchieren. Als wir beschlossen haben, die Ausstellung zu machen, haben wir plötzlich auch unglaublich interessantes Fotomaterial zu diesen Frauen gefunden. Und so quasi eine Hintergrundgeschichte des Museums aus Frauenperspektive gezeigt, die total in Vergessenheit geraten war. Und trotzdem: Es war alles aufgehoben. Alles war da. Und das ist nur ein Beispiel.“
Immer wieder geht es in dem, was Barbara Plankensteiner sagt, um den Blick: das Sehen, das Hinschauen, das Anders-Betrachten, das Zufällige-Wahrnehmen. Das Museum als Schule des Blicks, wo hat sie das gelernt?
Noch während ihres Studiums hat sie bei der Wiener Architektin Elsa Prochazka gearbeitet.
„Und da habe ich auch gelernt, anders auf Ausstellungen zu schauen, aus dem Blickwinkel der Gestaltung. Und das war für meine Laufbahn und für mein Verständnis, wie man Ausstellungen macht, unglaublich prägend, weil Elsa Prochazka eine extrem kluge Frau ist – wir sind bis heute in Kontakt. Und sie hat sich eben als Architektin ganz intensiv mit der Frage beschäftigt, was Ausstellen bedeutet, was die Präsentation mit den Objekten macht. Das habe ich von ihr gelernt: dass so, wie die Dinge präsentiert werden, sie eine je andere Geschichte erzählen.“
Und dann war da noch Yale, ihre Zeit an einem Universitätsmuseum.
„Dort gab es einen ehemaligen Direktor, der noch Veranstaltungen gemacht hat, wo ich immer ganz verblüfft war, wie viele Leute kamen, der Hörsaal war jedes Mal voll. Das Format hieß Close Looking. Und es ging immer um ein einziges Bild. Und mit diesem einen Werk hat man sich aus ganz verschiedenen Perspektiven beschäftigt, im Gespräch mit dem Publikum. Das hat mir deutlich gezeigt, wie viel ein einzelnes Werk erzählen kann.“
Als ich sie nach einem Beispiel frage, steht sie auf, holt einen Katalog, blättert.
„Ich zeige Ihnen ein Bild: Das ist eine Kiste, die hat einen Deckel, das sieht man hier, an dem Scharnier. Die haben wir im Afrika-Depot gefunden. Aber wenn Sie sie betrachten, können Sie gar nicht verstehen, was das eigentlich ist. Also: In der Kiste sind Eierbecher aus verschiedensten Holzarten, die in einer Missionsschule hergestellt worden sind. Und das erzählt so viel! Weil einerseits geht es dabei um die Ausbeutung, das, was man heute Extraktivismus nennt: Was gibt es dort, welche Holzarten? Und dann wiederum: der Eierbecher. Also eine europäische Form, die quasi genutzt wird, um Zöglingen oder Schülern beizubringen, wie sie in diesem europäischen Stil schnitzen und herstellen. Und das Ganze wiederum wird dazu genutzt, um die kolonialen Produkte in Europa zum Verkauf anzupreisen. Da erzählt sich so viel, nur in diesem einen Objekt.“
Und dann sieht sie auf, vom Katalog, und bekräftigt das noch einmal:
„Ich finde das einfach faszinierend, was die Dinge erzählen können, wenn man genau schaut. Und wenn man vor allem die Menschen, also das Publikum dazu bringt, dass sie genau schauen.“