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Im Stillen

Der Mailänder Komponist Niccolò Castiglioni (1932–1996) hatte Mitte der achtziger Jahre eine Wohnung im Zentrum von Brixen bezogen. In der Stadt kannten ihn alle als den „Professor“ – wenige waren sich seines geistigen Horizonts bewusst, der weit über die Wipfel und Kuppen der geliebten Provinz hinausragte. Von Alessandro Solbiati

Niccolò Castiglioni war einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Jeder, der seine Werke hören konnte und sich des komplexen Entwicklungsweges der europäischen Musik in der Nachkriegszeit bewusst ist, weiß dies mit Bestimmtheit. Warum also scheint sein Name, acht Jahre nach seinem Tod im September 1996, so selten in Konzertprogrammen auf?

Trotz der allgemeinen Ächtung, unter der die sogenannte „zeitgenössische Musik“ zu leiden hat (ein wenig tauglicher Terminus für das Musikschaffen der letzten 60 Jahre), gibt es Komponisten, deren Namen öffentlich bekannt sind – zumindest jenen, die sich für kulturelle Belange interessieren. Ich denke dabei insbesondere an Luciano Berio, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen.

Für Niccolò Castiglioni gilt das bislang nicht, wiewohl er ähnlich „bedeutsame“ Musik geschrieben hat. Dabei zeichnet sie sich, wie wir noch sehen werden, durch Frische und Natürlichkeit aus, womit es ihr gelingen sollte, die bekannten Barrieren des Misstrauens gegen nicht-tonale Musik zu überwinden. In der Tat wäre dieses leidenschaftliche Plädoyer für Castiglioni gänzlich überflüssig, könnte der Leser einige Beispiele aus seinen Werken hören, von den Tropi (1959) über Inverno in ver ( 1971) bis zu Cantus planus (1990).

Die „verspätete Breitenwirkung“ teilt Castiglioni mit einigen jüngeren und älteren Komponisten, die er sehr schätzte. Ich nenne hier in rückläufiger chronologischer Folge: Bruno Maderna, Gustav Mahler und Franz Schubert.

Diese Namen habe ich nicht zufällig gewählt. Viele Musiker sind erst nach ihrem Tod in den Olymp der Berühmtheit aufgestiegen, aber die genannten haben viele Gemeinsamkeiten, die auch auf Castiglioni zutreffen.
Zuallererst verbindet sie ihre kulturelle Beheimatung, sei sie nun österreichisch-ungarisch oder deutsch-österreichisch. Von Schubert und Mahler einmal abgesehen möchte ich daran erinnern, dass Bruno Maderna wohl ein Venezianer war, wie er im Buche steht, jedoch 1920 in einem Venedig voller österreichischer Prägungen geboren wurde, den Großteil seines Lebens in Mailand und Darmstadt (wo er auch starb) zubrachte und viele seiner Manuskripte mit deutschsprachigen Eintragungen versah. So verhält es sich – wie es der Zufall will – auch mit einigen Partituren Niccolò Castiglionis, und dieses Detail ist insofern bemerkenswert, als es sich nicht einem biografischen Automatismus (familiäre Herkunft, längere Auslandsaufenthalte o.ä.) verdankt, sondern einer echten „Wahlverwandschaft“ mit Österreich, insbesondere mit Tirol.

Zahllose Hinweise darauf finden sich in der kurzen und überaus sympathischen Autobiografie (veröffentlicht als Einleitung zu einer vom Musikwissenschaftler Renzo Cresti verfassten und Castiglioni gewidmeten Studie): „Meine erste Klavierlehrerin war Wienerin, verheiratet mit einem Dalmatier italienischen Namens (…) Sie erinnerte sich sehr gut daran, Gustav Mahler als Dirigent gehört und gesehen zu haben. Ihr Gatte war ein exzellenter Maler, den letzten Ausläufern der Klimt-Ära zugeneigt. (…) Ihr Geschmack war typisch wienerisch“. In einem anderen Text, der von Alef handelt, einem Werk für Oboe solo, schreibt er diesem Instrument ländliche Charakteristika zu, das „Holz einer Bergglocke oder die Ornamentik einer handgewebten Decke aus dem Trentino“.

Mahler und Schubert stehen für ein leidenschaftliches Naturempfinden, eine Natur, die unwiderrruflich auf sich selbst zurückweist und dabei die Sehnsucht nach einem verlorenen Zustand der Reinheit, Ursprünglichkeit und elementaren Unschuld weckt, wobei die eigene Kindheit und jene der ganzen Welt einander durchdringen. Dazu findet sich in der bereits erwähnten Autobiografie von Castiglioni ein erhellender Satz. Mit Bezug auf seinen besten Freund schreibt er: „Uns verbindet eine große Liebe zur Ordnung (aus meiner Sicht eine grundlegende Eigenschaft musikalischer Kunst), zur antiken Kunst (vor allem zur Malerei), zur Natur, zur Bergwelt, zu Südtirol. Ihm verdanke ich die Entdeckung eines wunderbaren Südtiroler Ortes: Tiers, am Fuße des Rosengartens gelegen, ein Dorf, das noch nicht durch den Tourismus korrumpiert worden ist“. Wenn wir uns diese „Vorlieben“ nun vor Augen halten, wird begreiflich, dass ein ideelles Band Castiglionis Leben zusammenhält: Österreich/Südtirol – die Bergwelt (Schnee, Unschuld, Reinheit) – Natur – Ordnung.

Von Ordnung ist die Rede, nicht etwa von Pedanterie, wohl aber von Wesentlichkeit und Notwendigkeit, von den unverzichtbaren Voraussetzungen künstlerischen Schaffens, die von weiten Räumen und dem Schweigen der Berge trefflich symbolisiert werden.

Lesen wir in diesem Zusammenhang noch einen letzten Satz: „Vor Jahren, als ich das Tierser Tal spazierend und wandernd durchstreifte, schien es mir, als würde aus dem Bett des musikalisch flüsternden Baches – wunderbar im Schweigen der Wälder und der Bergjöcher – und aus der Talsohle, einer Ausströmung oder einem geheimnisvollen Nebel gleich, die Stimme der großen Mystiker des Mittelalters emporsteigen: Sankt Anselm, Sankt Bonaventura, Heinrich Seuse, Sankt Bernhard usw.“

An dieser Stelle wäre ein neues und umfassendes Kapitel aufzuschlagen, das hier freilich nicht erschöpfend behandelt werden kann: die tiefe Religiosität und die außergewöhnliche Bildung des Autodidakten Niccolò Castiglioni.

Es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit, die Castiglioni mit den erwähnten großen Komponisten teilt und die für die „verspätete Würdigung“ seines Werkes entscheidend verantwortlich sein dürfte: Im Laufe der Geschichte haben sich Künstler in unterschiedlicher Weise zu ihrer zeitgenössischen Kultur, zu ihren Tendenzen und Strömungen verhalten. –

Beginnen wir mit der uninteressantesten Kategorie: Künstler, die sich ohne Zögern jeder Strömung anschließen, um ihre innere Ausdrucksleere „modisch“ zu kaschieren; man hat sie schon tags darauf vergessen, Beispiele anzuführen scheint mir entbehrlich. Oder solche, die jedwede „Gefahr“ der Innovation meiden und sich gern als Verteidiger althergebrachter Werte ausgeben. Tatsächlich sind sie lediglich steife Akademiker von mäßiger Bedeutung. Auch hierzu muss man keine Namen nennen.

Es gibt noch zwei weitere Kategorien von Künstlern: Zunächst solche, die als echte Revolutionäre nicht nur neue Strömungen verkörpern und verfechten, sondern auch den Mut aufbringen, Ballast abzuwerfen und die dürren Äste der Tradition abzuschneiden; sie tragen das Risiko und haben das Verdienst, unerforschte Territorien zu erschließen. Es handelt sich dabei im Allgemeinen um starke Persönlichkeiten, die sofort „für Schlagzeilen sorgen“ – das aber nicht ohne Gefahr. Einerseits treten sie mit heiligem Ernst die „Flucht nach vorne“ an und begeben sich damit in eine prophetische Isolation ohne Entkommen. Andererseits, und das ist ungünstiger, werden sie mit der von ihnen begründeten und definierten neuen Strömung so sehr identifiziert, dass sie teilweise rasch altern und somit unversehens als „überholt“ erscheinen. Denken wir beispielsweise – freilich mit dem gebührenden Respekt – an John Cage: Seine genialen Kontroversen mit dem Strukturalismus haben eine neue Ära eröffnet, die niemand übersehen konnte. Zugleich aber tragen viele seiner Werke die Züge der „60er Jahre“ und altern mit den Jahren.

Man dürfte nun die letzte Kategorie erahnen, die sich in meinen Augen durch noch größere Weitsicht auszeichnet. Es handelt sich um Künstler, die sich im vollen Bewusstsein ihrer Zeitläufte nicht darauf beschränken, den „Zeitgeist“ zu repräsentieren, sondern sich durch und nicht gegen ihn soweit vorwagen, dass sie ihn aus olympischem Blickwinkel, gewissermaßen „von oben“ betrachten können. Sie verweigern sich modischen Tendenzen und erahnen jene zukunftsträchtigen Entwicklungsstränge, die womöglich unmittelbar wenig nachvollziehbar sind, jedoch „universellen“ Charakter tragen. Solchen Künstlern ist es gelungen, sich im Stillen, fernab vom Geschwätz über Neuigkeiten, eine persönliche und zugleich universale Welt zu schaffen, gestärkt durch ihre absolute Aufrichtigkeit.

Hierzu nun einige Beispiele:
Das Schubertlied musste im Wien des 19. Jahrhunderts klein erscheinen, oder aber unnötig komplex (auf harmonischer wie auch auf einer tieferen Bedeutungsebene), wenn man es der Musik der neuen Wiener Walzerkönige gegenüberstellte. Viel später erst wurde erkannt, dass die tiefe und universelle Wahrheit des romantischen Menschen gerade im Liedschaffen Schuberts beheimatet ist.

Desgleichen dürften die Gassenhauer und die volkstümlichen Rhythmen und Klangfarben in Mahlers Symphonien nur schwer mit der großen deutschösterreichischen Symphonik zu vereinbaren gewesen sein. Nur ein „Sommerfrisch-Komponist“, dessen „eigentlicher Beruf das Dirigieren war“, konnte sich erlauben, den kulturellen Auflösungsprozess, den dramatischen Facettenreichtum des beginnenden 20. Jahrhunderts musikalisch in Szene zu setzen. All dies wurde erst viele Jahre später begreiflich.

Schließlich konnte ein weiterer großer Dirigent, aber unbeständiger Komponist wie Bruno Maderna (ich gebe hier eine bis vor kurzem gängige Meinung wieder) jenseits aller strukturell-seriellen Zwänge und mit sehr viel Geschmack eine klar konturierte Orchestralität entwickeln und sich mit Stücken wie Aura oder Quadrivium den Wunschtraum eines neuen Melos erfüllen. Das sind Werke von großer Ausdruckskraft, die bei ihrem Erscheinen allerdings als etwas „einfach“ und kompositorisch oberflächlich erachtet wurden.

Ich bin der Ansicht, dass Niccolò Castiglioni dieser letzten Kategorie zuzuordnen ist und dass die Prägnanz seines Schaffens in voller Größe erst dann zu Tage treten wird, wenn es gelingt, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas mehr aus der Vogelperspektive zu betrachten. Sein kompositorischer Werdegang lässt sich ohne große Mühe in vier Phasen unterteilen:

Frühwerk

Wie viele andere – vor allem italienische – Komponisten seiner Generation (er wurde 1932 geboren) erhielt er eine grundsolide akademische Ausbildung. Castiglioni schloss seine Klavier- und Kompositionsstudien am Mailänder Konservatorium in den Jahren 1952/1953 ab, im selben Jahr und am selben Konservatorium wie Luciano Berio. Dabei fällt auf, dass er um einige Jahre jünger als die anderen aufstrebenden Komponisten des In- und Auslands war, so etwa 12 Jahre jünger als Maderna, acht Jahre jünger als Nono, sieben Jahre jünger als Berio und Boulez, fünf Jahre jünger als Donatoni, vier Jahre jünger als Stockhausen. Das bedeutet, dass seine akademische Ausbildung nicht als zwingende Konsequenz der kulturellen Abschottung in der Zeit des Faschismus zu begreifen ist. (Als direkte Folge hatten viele junge Komponisten, darunter Berio, die Werke der Zweiten Wiener Schule erst nach Kriegsende kennen gelernt.) Castiglionis Ausbildung hingegen ging eine klare Richtungsentscheidung voraus, getroffen aus der eigenen Notwendigkeit einer inneren Ordnung („… Ordnung, aus meiner Sicht eine grundlegende Eigenschaft musikalischer Kunst …“).

Unübersehbar ist auch die Frühreife des Studenten und Komponisten. Seine ersten Werke, das Concertino per la notte di Natale (1952) oder die beiden Sinfonie aus den Jahren 1956 und 1957, von denen sich ihr Autor in den nachfolgenden Jahren distanzierte, waren keine belanglosen Übungsstücke eines Schülers. Ihre stilistische Prägung erinnert im ersten Fall an Strawinsky und im zweiten zuweilen an die Spätromantik (an Zemlinsky, wie Castiglioni selbst bekannte). Es handelt sich dabei nicht um Ergebnisse eines noch nicht abgeschlossenen Lernprozesses, sondern um klare künstlerische Entscheidungen. Sie zeugen von einem nicht konfliktuellen, sondern bereichernden und fruchtbaren Zugang zur modal-tonalen Tradition, der sich viele Jahre später noch einmal manifestieren sollte, was mit allgemeinem Unverständnis quittiert wurde. Bemerkenswert ist, dass die angeführten Jugendwerke rasch an bedeutenden Stätten und von bedeutenden Interpreten uraufgeführt wurden (Biennale von Venedig, RAI Rom, Salzburger Festspiele …). Castiglioni war somit ein frühreifer Komponist, der frühzeitig „verstanden“ wurde.

Darmstadt usw.

Im Jahre 1957 besuchte er erstmals die Darmstädter Ferienkurse, den Tempel der Avantgarde, eine Pflichtetappe jedes jungen Komponisten. Auch dort feierte er als Jüngster seiner Gruppe rasche und beachtliche Erfolge, mit Arbeiten wie Cangianti (1959) für Klavier, Tropi (1959) für sechs Instrumente, oder Synchromie (1962– 63), einem bedeutenden Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks Köln.

Aber gerade in diesen Jahren des blitzartigen Erfolgs beim Publikum wie auch beim Establishment der Darmstädter Schule entwickelt Castiglioni seine Befähigung, „über den Dingen“ zu stehen, sich von kämpferischen Attitüden nicht allzusehr beeindrucken zu lassen („… denn es steht außer Zweifel, dass die Avantgarde zu Zeiten des Kalten Krieges und des Neokapitalismus Gefahr lief, aufgrund des persönlichen Ehrgeizes ihrer Vorkämpfer in kindischem Akademismus oder konsumistischem Hedonismus zu erstarren – Symptom einer – o weh – beinahe unglaublichen Dosis an Dummheit.“). Seine Musik in Tropi und Cangianti klingt frisch und kristallin. Ihre Neigung für hohe Tonlagen, ihre Gegenreaktion auf den herrschenden gestrengen Pointillismus mittels der Erfindung von Arabesken voller Atem und Verspieltheit, jedoch bar jeglicher oberflächlichen Ornamentik, ihr verloren geglaubter formaler Erzählcharakter, die Rückeroberung des Staunens über musikalische Momente von purer Klangfarbenschönheit (etwa im zentralen Teil der Tropi, die von anderen Komponisten aus Angst vor „neoimpressionistischen Rückfällen“ gemieden wurden) – all dies irritiert in Darmstadt, und es wirkt zugleich anziehend. Einige Jahre lang steht Castiglioni tatsächlich auf dem Gipfel des Erfolgs.

Amerika

Zwischen 1966 und 1979 lehrt Castiglioni an einigen US-amerikanischen Universitäten und entfernt sich dabei vom europäischen Ambiente. Nach seiner Rückkehr beginnt er mit der Aufarbeitung tonaler Materialien (Materialien, nicht Systeme), die seiner Musik zu noch größerer Transparenz verhelfen, ohne dabei Einbußen an Präzision und Stringenz zu verursachen. Aus dieser Auseinandersetzung geht sein Meisterwerk „Inverno in ver“ (1972) für Orchester hervor, wie auch andere Arbeiten, die die „siebziger Jahre“ als seine dritte Phase erkennbar werden lassen. Sie ist von hoher kompositorischer Reife geprägt, wendet sich aber zunehmend vom aktuellen musikalischen Zeitgeist ab. Castiglioni lebt und arbeitet nun in größerer Abgeschiedenheit. An der Schwelle zu den achtziger Jahren, als sich in Mailand die Erben der Avantgarde und junge neotonale Komponisten hitzige und zuweilen unerquickliche Gefechte liefern, ist er einerseits zu musikalisch, um die Ausweglosigkeit einiger intellektueller Fallen zu übersehen, in die er schon zwanzig Jahre zuvor nicht getappt war. Andererseits ist er zu hellhörig und zu gebildet, um seine diatonische Kultur mit einer oberflächlichen und wiederum militanten Neotonalität zu vermengen. So hält er beide Strömungen auf Distanz.

Wahre Einfachheit

Seine Musik bewegt sich währenddessen auf eine extreme Vereinfachung zu, ähnlich den vielen kurzen Gedichten Hölderlins aus den „Jahren im Turm“ oder auch dem Werdegang eines weiteren großen, wenig älteren und ebenfalls zurückgezogenen europäischen Komponisten: György Kurtág. Castiglionis Handschrift (nicht nur die musikalische) wandelt sich zu einer Kinderhandschrift, auch die Titel seiner Stücke klingen kindlich verspielt: Musichetta (1988), Romanzetta (1990), Filastrocca (1990) usw. Vielen war es ein Leichtes, voreilig daraus zu schließen, Castiglionis Schaffen habe sich auf verstörende Weise zurückentwickelt.

Ich selbst war während dieser Jahre ein junger, ebenfalls etwas militanter Komponist. Wiewohl meine Übereinstimmung mit dem Menschen Castiglioni ungetrübt und unvergesslich war, irritierten einige seiner jüngeren Werke auch mich. Es bedurfte einiger Jahre und einer neuen Urteilsperspektive, um zu erkennen, dass diese Simplifizierung tatsächlich wahre Einfachheit darstellt, die Wahrhaftigkeit eines Menschen, der nichts und niemandem mehr etwas beweisen muss, dass einige seiner Stücke, wie Cantus planus oder Momenti musicali (1991) zeitlose Meisterwerke sind.

Da ich meine persönliche Beziehung zu Niccolò Castiglioni bereits angesprochen habe, drängt es mich abschließend zu einigen Anmerkungen zu seiner Person, die in gewisser Hinsicht mit seinem Werk untrennbar verbunden ist. Der hohe Wuchs, der starre Blick, manchmal durchdringend, manchmal abwesend oder in unergründlichen Gedanken versunken, seine bedächtige und hohe Stimme, die an seine bassschlüsselarmen Partituren erinnert, jene unergründliche Mischung aus entwaffnender Naivität (eines Menschen von ganz außerordentlicher musikalischer und philosophischer Bildung) und fulminanter Intuition, die Güte des reinen Menschen, gepaart mit dem Schalk eines Lausbuben, die „russische“ Unschuld, der ganz unerwartet eine spitze Bemerkung folgen konnte – dies alles entspricht dem klaren Klang seines späten Schaffens wie auch dem transparenten Erzählcharakter seiner Jugendwerke.

Zwei Anekdoten, die mir am Herzen liegen, sollen das Bild vervollständigen.
Im Juni 1996, drei Monate vor seinem Tod, befand ich mich im merkwürdigen, südtirolerisch anmutenden Wohnzimmer Castiglionis in Mailand, um Informationen aus erster Hand über sein berühmtestes Klavierstück Cangianti zu sammeln. Ich war mit Bleistift und Notenblättern ausgerüstet, zumal ich einige technische Auskünfte zum kompositorischen Verlauf des Stückes erwartete, über den ich später an einem Fachinstitut zu berichten hatte. Ich ging davon aus, dass Niccolò meine Frage nach der Klavierliteratur, die ihn damals, in jungen Jahren, beeinflusst hatte, mit Verweisen auf Boulez oder Stockhausen beantworten würde. Doch seine Antwort verblüffte mich vollends: „Damals liebte ich Mendelssohn sehr, und ich bezog mich auf seine ‚Lieder ohne Worte‘“. Wenig später, als ich ihn darauf hinwies, dass eine wiederkehrende pianistische Passage Reprisencharakter trage, entgegnete er mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes, das mit dem Finger im Marmeladenglas überrascht wird: „Warum, darf man das nicht?“ Zwei Jahre zuvor, ebenfalls im Juni, war ich Mitglied einer Prüfungskommission für die Unterstufe des Kompositionsstudiums am Mailänder Konservatorium. Es galt, die Versuche eines jungen Kandidaten im historischen Stil zu beurteilen, die er im Laufe eines Jahres verfasst hatte. In dieser Kommission saß an jenem Morgen, völlig abwesend, auch Niccolò. Irgendwann setzte er sich demonstrativ in die letzte Reihe der Aula, um Zeitung zu lesen, wobei ihn die Anwesenheit des Kandidaten nicht zu kümmern schien. Dieser sprach, während er seine Arbeiten aufzählte, das Wort „Ländler“ aus. Auf diesen magischen, österreichisch-schubertschen Zuruf hin senkte sich die Zeitung und Niccolò sagte, wohl vor allem zu sich selbst: „Ländler?“ Dann erhob er sich, begab sich zum Klavier und hielt vor dem verdutzten Kandidaten einen wunderbaren Vortrag über die Schubertschen Kurzformen. Als die Situation nach etwa einer Viertelstunde etwas unangenehm zu werden drohte, näherte ich mich Niccolò und flüsterte ihm
zu, dass es sich hier immerhin um eine Prüfung handle und weitere Kandidaten … Da sah er mich etwas entgeistert an und sprach: „Ach ja?“, stand auf und kehrte definitiv zur Zeitungslektüre zurück. Möglicherweise habe ich mit meinem Einschreiten eine unwiederholbare Vorlesung unterbrochen.

Am 15. Juli 1996, 50 Tage vor seinem plötzlichen Tod, erhielt ich einen völlig unerwarteten Brief von Niccolò, und er hinterließ mir eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, um mich darauf aufmerksam zu machen. Es ist ein langer Brief, in großen Lettern geschrieben, und mit jedem Satz wechselt das Thema. Auf Seite fünf steht ganz unvermittelt folgender Satz: „Alle erlauben sich, mich zu beleidigen, indem sie mich den ‚großen Niccolò‘ nennen.“

Ich habe ihn zu Beginn dieses Aufsatzes „groß“ genannt, das wird mir jetzt bewusst; aber genauso ist es nun einmal.

(Übersetzung: Andreas Pfeifer)

 

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