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Wo er nicht ist

Von Sabine Gruber

Ich kann über unsere letzte Begegnung nicht schreiben, noch weniger vermag ich darüber zu sprechen. Andere schreiben über einen Toten, weil sie überzeugt sind, daß das Erzählen hilft, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Diese Art von Verbindung habe ich nieangestrebt.

Die Photos, die ich von ihm besitze, liegen in einem Karton. Ich nehme sie nicht in die Hand. Ein Bild, weiß ich, ist Erinnerung. Doch das Portraitphoto friert den Abgelichteten ein. Den Unfaßbaren, Bedeutungsvollen gibt es mir einmalig zurück. Auf dem Papier ist nur ein Lächeln, ein Gesichtsausdruck, eine Handbewegung zu erkennen.

Einmaligkeit ist verletzend, weil sie dem Toten nicht gerecht wird.

Auch tausend Photos ein und derselben Person sind nichts als tausend Einmaligkeiten. Jedes einzelne Bild lenkt das Erinnerungsvermögen in eine bestimmte Richtung, manipuliert die Gedanken, zwingt das Gedächtnis in ein Korsett, das dem Toten in meinem Kopf die Bewegungsfreiheit nimmt. Der in Bildern Gefesselte hat wenig mit dem ehemals Geliebten gemein.

Solange er lebte, konnte er nicht Teil meiner Texte werden, weil er Teil meines Lebens war. Und wie soll ich jetzt über ihn schreiben können, da er nicht mehr existiert?

Wenn ich seiner gedenke, ihn mir absichtsvoll vorstelle, wie er sein Nackenhaar um den rechten Zeigefinger wickelte, wenn ich ihn mir bewußt ins Gedächtnis rufe, in welcher Art er sich zu äußern pflegte, dazu Arme und Hände bewegte, wenn ich mir unsere gemeinsamen Jahre vergegenwärtige, verblassen die Erinnerungen nach kürzester Zeit. So sehr ich gegen sein Verschwinden andenke, es gelingt mir nicht, ihn augenblicklich in meinen Kopf zurückzuholen.

Andererseits werden die Vorstellungen, die ich von ihm habe, längst von jenen Photos zugedeckt, die ich von ihm kenne. Sie stehen eingerahmt auf den Kommoden und Kästen der gemeinsamen Freunde. Es sind nicht einmal meine eigenen. Und sie sind aus anderen Zeiten.

Mein Sprachbergwerk ist überall. Was ich abtrage, ist nicht nur in mir. Ich betrete die Stollen der anderen, auch Fremden, grabe in Büchern, zertrümmere, was ich mühsam aus den inneren Lagerstätten ins Freie getragen habe, um es neu zusammenzusetzen.

Ich lasse den Blick schweifen, wähle aus, bestimme, was bemerkenswert ist.

Treffe ich unsere Freunde, sehe ich Menschen, die er verlassen hat. Unfreiwillig. Für immer. Ich fühle mich verpflichtet, sie ihm in Gedanken zu beschreiben. Was er nicht mehr sieht, sehe ich für ihn. Was er nicht mehr wissen kann, will ich für ihn in Erfahrung bringen. Dem Unwiderbringlichen versuche ich mich zu nähern. Zum Trost. Ich schreibe fort, was an ihm abgebrochen wurde, und ich weiß: es würde ihn interessieren.

In dem, was er nicht mehr erlebt, ist bereits das, was ich selbst in unbestimmter Zukunft nicht mehr erfahren
werde, vorweggenommen.

Das andere Gedenken, das sich dem Schreiben erst recht entzieht, weil es sich nicht begreifen läßt, geschieht ohne mein Zutun. Es bricht über mich herein, im Traum, an einer Straßenecke, beim Befühlen eines Stoffes, in der Betrachtung der nächtlichen Gestirne oder in einer kurzen Bemerkung, die von einer beliebigen Person in einem Bus fallengelassen wird – dieses abrupte, unvorhergesehene, ungeahnte Erinnern schmerzt, weil es mich für Bruchteile einer Sekunde glauben läßt, er wäre da, faßbar, und ich hörte seine Stimme, blickte in sein Gesicht. Als wollte ich ihm beweisen, daß er mich berührt hat, weine ich.

Wo er nicht ist, nichts auf seine Anwesenheit deutet, breitet er sich unvermutet aus, zeigt keinerlei Ähnlichkeiten mit den Photos auf den Kommoden, den Kästen, im Karton.

Er schafft sich Raum in menschenleeren Bildern. Unerwarteter Weise sitzt er in der verlassenen Bibliothek, steht allein zwischen den Exponaten des Landesmuseums, geht durch die Hofkirche und nichts, kein einziges Bild, entspricht den verwahrten Aufnahmen. Er ist da und ist es nicht. Er kann sich in den Räumen, die er selbst einmal betreten hat, ständig verändern. Er erstarrt nicht, entzieht sich den eindeutigen Aussagen über seine Person, indem er sich aus dem Nichts heraus und ohne die geringste Vorankündigung ins Blickfeld schiebt.

Ich kann nichts dafür, habe diese alles übertreffende Präsenz nicht erzwungen, nicht einmal herbeigesehnt. Ich möchte mich an diesem die Verdrängung unterminierenden Bild festhalten können, doch der Tote, der soeben noch lebensnahe vor mir gestanden hat, ist plötzlich verschwunden, hat die Bibliothek verlassen, die Tür des Museums hinter sich zugezogen.

Manchmal, wenn ich keine Bilder habe, in denen er für eine kurze Weile lebendig zu werden vermag, weil in den darauf dargestellten Räumen, Plätzen und Straßen niemand anwesend ist, nur Form und Licht, flüchte ich in Tagträume, die längst nicht mehr unbestimmt sind, nichts unerwartet Schönes beinhalten können, sondern das Nichtmehrzuerwartende in Erwartbares verwandeln. Doch das Bewußtsein über seine endgültige Abwesenheit zerstört auch diese Art der Einbildung mit den ihr eigenen Mitteln des Bildes, das krampfhaft festhält, was nicht festzuhalten ist.

Noch immer schicken mir Freunde unaufgefordert alte Aufnahmen zu und fragen, ob ich mich erinnern könne. Weißt Du noch, damals? Sie zeigen ihn mir über ein Buch gebeugt, auf einem Fußballplatz, mitten unter Kindern und ahnen nicht, daß das vordergründig Sichtbare keinerlei Bedeutung hat.

Das Gedenken und Schreiben in Gedanken erfordert klare, leere Räume; nur so werde ich nicht vergessen haben, wie er aussah, nur so werde ich auch sehen, was ich nicht weiß.

[für Candida Höfer]

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