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Leben lernen

Hans Weigand: Ein Porträt des Künstlers als glücklicher Stromgitarrist. Von Sebastian Huber

Fehler verfolgen

Das FLUC am Wiener Praterstern wirkt auf den ersten Blick wie der Schauplatz eines Rangierunfalls. In eine Wand des ehemaligen Ladenlokals ist ein Container gerammt, als hätte der Fahrer nach einem unglücklichen Manöver die Zugmaschine abgekoppelt, ein paar Bierkisten untergestellt und das Weite gesucht. Im Container werden, neben dem Musikprogramm, das den Ruf des Ortes begründet hat, seit März Video- und Soundinstallationen gezeigt, regelmäßig finden Ausstellungseröffnungen statt. Der Zusammenprall von Ausstellungsraum und Musikclub, von Ambition und Bierkneipe, von Start-up und Verfall entwickelt einige Anziehungskraft. Der winzige Laden ist gestopft voll, aber draußen auf dem Vorplatz hört man auch noch genug und es ist schon fast Frühling. Auch das Programm hat etwas von einem Auffahrunfall. Auf Hans Weigands Band Crinkum Crankum mit ihrer rau aber herzlichen Hard Rock- Attitüde folgt der Einser-Schüler-Kunst-Punk von colore blind. Weigand hat eigens für dieses Konzert einen Aufenthalt in Innsbruck unterbrochen, wo er tags darauf sein neuestes Kunst am Bau-Projekt eröffnet. Sein Schlagzeuger Albert Mayr hatte auf dem Auftritt bestanden, der Bassistin wegen, die neuerdings bei colore blind spielt. Das kann man verstehen. Weigand scheint sich in diesem fluktuierenden Raum aus Kunst, Rock ’n’ Roll und wirklichem Leben besonders wohl zu fühlen. „Dadurch, dass die Jungen (neben Mayr noch Johann Neumeister am Bass) so eine Grundpower mitbringen, bin auch ich entspannter. Wenn ein Fehler passiert, ist das egal, im Gegenteil, den verfolgen wir und bauen ihn aus, bis er niedergekämpft ist.“ Damit ist nebenher ein künstlerisches Grundprinzip in der Arbeit von Weigand benannt, die einem ausgeklügelten Rhythmus aus Aktivität und Passivität zu folgen scheint. Die Fehler verfolgen, den Zufällen nachgehen. Die Offenheit, das bisweilen schwer Greifbare von Weigands Werk hat sicher mit diesem aleatorischen Moment zu tun. In der Nähe der Fehler liegen die Wirkungen.

Vielleicht muss man einen wie ihn regelrecht umstellen, einkreisen, um sich ihm zu nähern. Gewährsleute befragen, Meinungen hören, Perspektiven wechseln. Er sieht dabei ruhig zu, verfolgt die Bewegungen um ihn herum und fragt am Ende mit leicht spöttischem Unterton: „Und, rundet sich das Bild?“ Diesen Gewährsleuten, Zeugen, Auskunftspersonen verdankt der vorliegende Text weit mehr, als aus den einzelnen Erwähnungen hervorgehen kann. Immer ging es in den Gesprächen mit der Galeristin Gabriele Senn, dem Künstler, Studienkollegen und Freund Heimo Zobernig, dem Kritiker Christian Höller, dem Künstler und zeitweiligen Schüler Marco Lulic und Tochter Katharina auf die eine oder andere Weise um das komplizierte Verhältnis von Leben und Kunst, um die absichtsvolle Verwischung der Grenzen zwischen beiden, die zu Weigands bevorzugten künstlerischen Strategien zu gehören scheint, um die Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten, die er sich damit eröffnet, und die Gefährdungen, die sich daraus bisweilen ergeben können.

Disco Boys

Einer fehlt an diesem Abend im FLUC: Raymond Pettibon. Auftritte der Band ohne ihn bezeichnet Weigand als „Sparprogramm“: „Raymond ist ein Vollblut- Entertainer. Der redet zwar sonst kein Wort, aber auf der Bühne ist er ein Berserker. Der schmeißt einen ganzen Abend.“ Pettibon, früher Heroe der Punk- Szene von Los Angeles und mittlerweile einer der führenden amerikanischen Künstler seiner Generation, liefert die Texte für Crinkum Crankum und fügt jeweils Anweisungen zu Genre und Stil der einzelnen Nummern bei. Auf der gemeinsamen CD The Throat of Citizen Just von 2001 ist der daraus entstehende Stilmix aus Punk, Blues, Folk und Country noch deutlicher ablesbar als bei diesem Konzert im Wiener Vorfrühling. Der Anteil an Improvisation, sagt Weigand, ist bei den Konzerten mit Pettibon denn auch wesentlich höher: „Raymond und ich haben schon in Los Angeles immer miteinander musiziert und es war sehr schnell klar, dass man sich versteht, da brauchten wir nicht lange reden. Die Kunst wie auch die Musik von Pettibon funktioniert wie ein Code, wie eine Sprache voller kultureller und subkultureller Informationen und Anspielungen.“

Dieses Spiel mit unterschiedlichen Stilen, der Bezug auf die Musik der 60er und 70er Jahre und die radikalen, utopischen Momente von Underground (mitunter auch eine gewisse Wehmut im Rückbezug auf die Revolte), Pettibons Aggressivität und Weigands Blues machen das Pathos und den Witz der Zusammenarbeit auf The Throat of Citizen Just aus. „If you say I love you / I will kick your face / But if you kick my ass / I will love you too.“ Alte musikalische Schwertkämpfer sind der Kalifornier und der Tiroler gleichermaßen. Mit sechzehn Jahren ist Weigand in Diskotheken im Zillertal erstmals mit einer Band auf der Bühne gestanden, die Cover-Versionen von den Beach Boys, Rolling Stones und Small Faces im Repertoire hatte. Musikalische Reinheit war seine Sache nie, weshalb er nur bei den schnelleren Nummern zugelassen war. Vom Skigymnasium in Stams, das Weigand Ende der 60er Jahre besuchte, fuhr man oft Wochen und Monate lang nicht nach Hause, damit die Haare Gelegenheit hatten zu wachsen. Geschichten aus einer untergegangenen Zeit, als sich Stilfragen noch wie Lebensentscheidungen ausnahmen.

Für Weigands Art, die Welt zu betrachten, sind die Einflüsse aus dieser Lebensphase (damals hätte man gesagt „seine Sozialisation“) ständiger Gegenstand der Verklärung, Selbstvergewisserung und kritischer Befragung. Die Auseinandersetzung mit der eigenen gegenkulturellen Existenz spielt für seine Kunstproduktion von Anfang an eine entscheidende Rolle, ist womöglich einer der ursprünglichen Impulse seiner Arbeit. Sein enormes Wissen über die Subkulturen der 60er und 70er Jahre, von dem jeder höchst beeindruckt berichtet, den man nach Weigand fragt, erscheint nicht sonderlich systematisiert. Vielmehr speist sich der Reichtum und die Lebendigkeit seines Wissens zu einem Gutteil aus seiner eminenten Begabung zum Geschichtenerzählen. Als „wandelndes, sehr subjektives Lexikon“ bezeichnet Marco Lulic diese Form von Wissen und Vermittlung seines ehemaligen Lehrers, dem er Mitte der neunziger Jahre als Gastprofessor an der Hochschule für Angewandte Kunst erstmals begegnete und als Förderer in seinen Anfängen viel verdankt. „Der Hans hat uns Junge nie belehrt. Er hat uns wichtige Hinweise gegeben, aber in einer fast beiläufigen, unhierarchischen, nie belehrenden Art. Er ist mit seinem immensen Wissen geradezu verschwenderisch umgegangen.“

Schon in Weigands erster großer Arbeit, der 30-teiligen Fotoserie „Disco Boys“, die 1978 in einer von Oswald Oberhuber veranstalteten Ausstellung in Wien gezeigt wurde, steht die Reflexion über popkulturelle Phänomene als Momente der Lebens-Gestaltung im Zentrum. In unterschiedlichen Outfits und differenziertem körpersprachlichen Vokabular inszeniert Weigand am eigenen Körper Lebensstile und Images, die gleichermaßen distinkt und austauschbar wirken. „Disco Boys“ zeigt dreißig mögliche Posen und Positionen, dreißig mögliche Erzählungen über die eigene Erfahrung von Welt und die damit verbundenen politischen Haltungen in aller Detailtreue und mit dem Ernst der wohlgemeinten Nacherzählung. Gleichzeitig ironisiert und entwertet die Anhäufung von Projektionen – mithin die Tatsache, dass all diese Lebenshaltungen von ein und demselben Körper gleichzeitig und mit der gleichen Überzeugung eingenommen werden können – die jeweils einzelne, auf Authentizität der Erfahrung gerichtete Darstellung. „Disco Boys“ konfrontiert den Betrachter mit ausdrucksstarken Körperbildern und zieht deren Expressivität zugleich in Zweifel.

Z

„Ich glaube, er hat sich selber immer auch ein bisschen als Musiker gesehen“, sagt Weigands Tochter Katharina, die mittlerweile selber Platten sammelt und sonntags im „Donau“ in Wien Dub und Reggae auflegt. Musik durchzieht als künstlerische Praxis alle Phasen von Weigands Schaffen. Sie ist Anlass und Vehikel für viele seiner Kooperationen mit anderen Künstlern und scheint die Verständigung untereinander über den eigenen Standort immer sehr erleichtert zu haben. Dabei handelt es sich stets um „Musik über Musik“, wie Heimo Zobernig das nennt, um Versuche, den popkulturellen Stand der Dinge zu erfassen, Vorlieben zu pflegen und das als gut Erkannte über sich selbst hinaus zu treiben. In den 80er Jahren macht Weigand mit Pas Paravent „Musik, die so ‚no wave‘ war, dass keine verbindliche Aufnahme oder Tonkonserve sie hätte einfangen können“ (Christian Höller). Anfang der 90er Jahre tut er sich zur Einspielung der LP Avoidance mit seinen Künstlerkollegen Heimo Zobernig, Martin Guttmann und Marcus Geiger zusammen, einer Formation, in der Weigands Gitarre als der „musikalische Traktor“ (Zobernig) wirkt. Die Arbeit im Studio wird von Zobernig auf einem Video dokumentiert, das sich ironisch auf One and One bezieht, Jean-Luc Godards Dokumentarfilm über die Aufnahmen der Rolling Stones zu Sympathy for the devil. In den zahlreichen Gemeinschaftsprojekten mit Heimo Zobernig seit Ende der 80er Jahre spielt Musik stets eine entscheidende Rolle. Im ersten Teil von Zobernigs Video für Martin Kippenberger nähert sich Weigand mit seiner Gitarre auf großen Umwegen dem berühmten Zithermotiv aus Orson Welles’ Film Der dritte Mann, bevor im zweiten Teil Aufnahmen vom Begräbnis Kippenbergers folgen. In dem Video eS C H EIS Es sieht man im starren Blick der Kamera auf Weigands Gitarre, wie er Zobernigs Komposition aus den Tönen es, c, h, eis, es bearbeitet – in Anlehnung an Johann Sebastian Bachs berühmte Fuge über die Tonfolge b, a, c, h . Für den Andy Warhol-Film von Otto Mühl stehen Zobernig und Weigand in der Galerie Hubert Klocker als Velvet Underground vor der Kamera. Für Weigand ist die Aufgabenverteilung klar: „Ich war Lou Reed und er war John Cale.“

Das seltsam Heroische, das im gezielten Angriff auf die großen musikalischen Vorlagen besteht, charakterisiert in unterschiedlichen Brechungen viele Arbeiten Weigands. In Z, einer Fortschreibung von John Boormans Film Zardoz, reitet Albert Mayr in Sean Connerys martialischem Badehosen-Kostüm auf einem Araberhengst durch eine österreichische Wiesenlandschaft und schwingt eine Gitarre über dem Kopf wie ein Gewehr. Die Szene beruft sich einerseits auf die Gleichsetzung beider Instrumente in der Pop-Geschichte – von Bob Dylans Satz „Ich habe immer geglaubt, dass ein einzelner Mann mit seiner Gitarre eine ganze Armee von der Bühne jagen könnte, wenn er wüsste, was er tut“ bis zu Jimi Hendrix’ Machine Gun. Gleichzeitig markiert Boormans Film so etwas wie das Ende der Hippie-Kultur, indem er die Utopie einer kommunitaristischen Gesellschaft verwirklicht und in die katatonische Starre vollständiger Konfliktlosigkeit ohne Liebe und Tod überführt. „I have seen the future, and it doesn’t work.” Da hilft nur noch das Eindringen der Barbaren unter der Führung Sean Connerys oder die Rückkehr zur reproduktiven Kleinfamilie in der Ur-Höhle. Die beiden zentralen Glaubenssätze des Gottes Zardoz – „The gun is good. The penis is evil“ – werden in Weigands Ersetzung des Gewehrs durch die Gitarre synthetisiert zu einer ironisch gebrochenen Rock ’n’ Roll- Erlösungsphantasie. Die Gitarre als Erinnerung an die Hoffnung auf eine gegenkulturelle Revolte trägt in der Bearbeitung des historischen Science-Fiction Films noch einmal den Sieg davon. Als ob Weigand in einer irrwitzig trotzigen Volte den Werbeslogan von Zardoz in sein Gegenteil verkehrte: „I won’t believe that the past didn’t work.“

In der ebenfalls Z betitelten Performance mit Jonathan Meese im Münchner Marstall schlüpft Weigand höchstselbst in die Rolle des späten Messias, indem er für seinen Auftritt mit der Gitarre das Kostüm und die Perücke des barbarischen Exterminators anlegt. Eine kurze, ruckartig geloopte Video-Sequenz aus dieser Performance bildet unter dem Titel Z II das aktuelle Gegenstück zu Z und wird mit diesem zusammen auf zwei nebeneinander hängenden Videoschirmen gezeigt. Das Großartige, das darin liegt, sich heute nicht mit den Niederlagen von 1974 abzufinden, geht über simple Vergangenheitsseligkeit und modische Wiederaneignung weit hinaus und besteht auf dem utopischen Gehalt, der in den Bildern des Scheiterns aufgehoben zu sein scheint.

Life/Boat

„Die Idee kam auf, dass ich und Raymond Pettibon und Hans Weigand ein Boot kaufen. Erst haben wir überlegt, ein Rennpferd zu kaufen, aber das erschien uns zu teuer und so beschlossen wir, ein Boot zu kaufen. Raymond war noch nie in Catalina, ich wusste nicht allzu viel über Boote und Hans wollte noch ein bisschen Zeit in Los Angeles verbringen. Bei dem Projekt handelt es sich nicht wirklich um ein Projekt, sondern um drei Leute, die sich zusammengetan haben, um ein Boot zu kaufen, sich darum zu kümmern, es zu erhalten, bestimmte Veränderungen daran vorzunehmen, zu angeln und nach Catalina zu fahren. Es beginnt oder endet nicht mit dieser Ausstellung (im Schindler House in Los Angeles, Anm.), es beschäftigt sich vielmehr mit unserem Leben, unseren Interaktionen und dem Handwerk, das damit verbunden ist.“ (Jason Rhoades)

Sich freizuschwimmen von gängigen Kategorisierungen und dabei bis an die Grenzen dessen vorzudringen, was als Kunst noch wahrnehmbar (und verkäuflich) ist, ist die zentrale Strategie von Life/Boat, das Weigand im Jahr 2000 gemeinsam mit Jason Rhoades und Raymond Pettibon in Los Angeles zu Wasser ließ. Ist ein ausgedehnter Angelausflug dreier Freunde schon allein deshalb Kunst, weil es sich bei allen dreien um namhafte Künstler handelt? Bereits im Titel Life/Boat ist die Beziehung zwischen Kunst und Leben in ihrer Vieldeutigkeit beschrieben. Die Klangassoziation „Lifeboat“ gibt dem Unternehmen eine Aura von Lebensrettung und Zwangsgemeinschaft wie in Alfred Hitchcocks gleichnamigen Film, auf den im Verlauf des Projektes mehrfach angespielt wird. Gleichzeitig scheint der Schrägstrich auf eine und/oder-Beziehung zwischen den beiden Einzelbestandteilen hinzuweisen, die auf der klaren Trennung der Begriffe von Leben und Kunst beruht.

Wenn man im Gespräch mit Weigand auf diese Fragen zu sprechen kommt, beschreibt er häufig biografische Unterströmungen, aus denen sich die großen erzählerischen Linien in seinem Werk subjektiv zusammensetzen. Auf der Suche nach einem erfahrenen Kapitän für das mehrfach auf offener See in Bedrängnis geratene Life/Boat geriet Weigand im Hafen an einen Freund von George Nader, dem Hauptdarsteller der acht Jerry-Cotton-Filme, die in den 60er Jahren um die Figur des Groschenheftchen-Helden gedreht wurden. Aus dieser Begegnung habe sich eine Anregung zu der im Kölner Museum Ludwig und der Wiener Secession gezeigten Installation Cotton 2001 ergeben. Muss man das wissen, um diese Arbeiten angemessen würdigen zu können? Wahrscheinlich nicht. Und doch gerät der deutlich zur Schau getragene Machismo beider Produktionen in eine etwas andere Beleuchtung, wenn ihr heimliches Verbindungsglied ein vergessener, schwuler B-Picture-Schauspieler in seiner Westküsten-Villa ist. Heimo Zobernig warnt: „Den Hans und mich verbindet eigentlich die Haltung, dass die eigene Geschichte nicht so wichtig ist, dass wir nichts zu tun haben wollen mit dem Beuysschen Eindringen der Biografie, wo Leben und Werk sich zu einem Gesamtkunstwerk als Organismus verbinden. Das hat ja auch etwas Reaktionäres. Für die Betrachtung eines Kunstwerks ist es doch gleichgültig, wann jemand geheiratet oder Drogen genommen hat, entscheidend ist, wie ein Werk in den zu seiner Zeit aktuellen Kunstdiskurs eingebettet ist.“ Vielleicht muss man tatsächlich immer wieder gedanklich trennen, was gerade bei Weigand auf den ersten Blick so nahtlos zusammen zu gehören scheint, weil persönliche Erfahrungen, Freundschaften, gelebtes Leben an jeder Ecke in seine Kunst hineinragen, sie dynamisieren und durchlässig machen.

Schließlich ist bei Life/Boat doch noch ein Werk entstanden, das den über Bord gegangenen Kunstbegriff zu retten verspricht: der Assaver (zusammengezogen aus Ass-Saver) ist ein Schwimmbehelf für den Allerwertesten, in dem eine, von den drei Künstlern gemeinsam hergestellte Collage wasserdicht verstaut ist. Auf einem übermalten Druck, der zeigt, wie der Assaver an Weigands Tochter Katharina getestet wird, ist das Ergebnis eindrucksvoll belegt: Die Trägerperson treibt mit um die Körpermitte geschnalltem Assaver scheinbar leblos kopfunter im Wasser. Die Rettung des Lebens durch Kunst, eine mögliche Lesart von Life/Boat, verkehrt sich so im äußersten Notfall in die Rettung der Kunst auf Kosten des Lebens.

Vor und nach dem jüngsten Gericht

In den neuesten Arbeiten nimmt denn auch erstmals ein deutlicher Bezug auf kanonisierte Kunstgeschichte die zentrale Stellung ein. Verschiedenformatige Collagen und Malereien nach Gemälden von Hieronymus Bosch (Das jüngste Gericht, Der Garten der Lüste) werden ergänzt durch CD-Roms, die die Werke aus dem frühen 16. Jahrhundert in ein interaktives Spiel um popkulturelle Analogien und Referenzen verwickeln und so beide historischen Ebenen einem Prozess gegenseitiger Aufladung und Abwertung aussetzen.

Auf „Before And After The Last Judgement“, das mittlerweile in fünf Versionen existiert, werden popkulturelle Bilder, Plattencovers, Comics, dokumentarische Kriegsfotografien, private Schnappschüsse montiert und in einen Bildaufbau integriert, der die Struktur von Boschs Original-Triptychon aufnimmt. Die auf den Bildgrund aufgedruckten und mit Acryl über- und ummalten Bildmontagen entfalten ihre starken Wirkungen nicht zuletzt aufgrund ihres malerischen Charakters, der die auseinanderstrebenden Elemente und bewusst trivialen Analogiebildungen zusammenhält. Das berühmte in eine Decke gehüllte Liebespärchen aus Woodstock und der psychedelische Comic-Held Silver Surfer im Paradies, das Plakat zu Gunter von Hagens Körperwelten-Ausstellung, brennende Ölquellen und Atombombenabwürfe in der Hölle, und wo man Gott zu Gericht sitzend erwarten würde, verhindert Superman ein Zugunglück.

Die CD-Rom, die parallel zur malerischen Produktion gemeinsam mit Christian Höller und Alexandra Seibel entstanden ist, bietet die Möglichkeit, Boschs Das jüngste Gericht mit dem Cursor abzufahren und an bestimmten Stellen des Gemäldes Fenster mit kurzen Filmausschnitten zu öffnen. Diese Arbeit wurde erstmals neben Boschs Original in der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste in Wien präsentiert. Der verblüffende anfängliche Effekt ist, dass sich die Wahrnehmung des Bildes von Bosch durch den vergrößerten Ausschnitt in der digitalen Darstellung und die Bewegung (mit der Maus) über das Bild verändert. Durch die maschinelle Steuerung und Verlangsamung des Blicks wird gewissermaßen eine „Wanderung“ durch die apokalyptische Landschaft inszeniert. Das Verfahren der „Nahaufnahme“ intensiviert bei gleichzeitiger Entkörperlichung und Verflachung einen bestimmten Aspekt der Wahrnehmung des Bildes: die einzelne Folterszene wird weitestgehend aus der formalen Sinnstiftung der Gesamtkomposition des Bildes gelöst, das Düstere, Grelle, Alptraumhafte dadurch noch stärker in den Blick gerückt. Die Filmausschnitte, die sich an bestimmten Stellen des Bildes abspielen lassen, konfrontieren, häufig auf der Basis formaler Entsprechungen, den solcherart verstärkten „Horror“ des Hieronymus Bosch mit Samples aus dem Kino der 60er und 70er Jahre bis zu aktuellen Musik-Videos. Dabei entsteht keine durchgängige Gegen- oder Parallelerzählung, allenfalls existiert eine Verweisstruktur zwischen einzelnen Clips. So beziehen sich eine 1969 entstandene Dokumentaraufnahme des singenden Charles Manson, ein Ausschnitt aus Kenneth Angers „Invocation of my demon brother“ mit Bobby Beausoleil, der zu Mansons Clan gehörte, und das Video von Floria Sigismondi zu „Beautiful People“ von Marilyn Manson (1997) aufeinander. Gleichzeitig konstruieren die Arbeiten, zu dem Weltgerichts- Triptychon in ihrer Gesamtschau so etwas wie eine jüngere Kulturgeschichte des medial produzierten Schreckens und ordnen sie zu einer neuartigen Rezeptionsgeschichte der Werke Hieronymus Boschs. Die Anverwandlung des Malers duch die Rock-Bohème der 60er und frühen 70er Jahre im Namen von Drogen, Bewusstseinserweiterung und Transgression – am prominentesten auf dem Cover des Albums „Deep Purple“ aus dem Jahr 1969 – bilden den Hintergrund und Ausgangspunkt für das Unternehmen.

Vielleicht, gibt Christian Höller zu bedenken, seien die Erfolge, die Weigands Arbeiten nach Bosch derzeit in den USA feierten, auch ein Signal dafür, dass man dort mittlerweile der kühl kalkulierten, minimalistischen Ästhetik der 90er Jahre überdrüssig geworden ist. „Weigands Arbeiten zeichnen sich durch eine gewisse Fülle und Üppigkeit aus, sind barocker, theatraler, bewegen sich bisweilen auch an den Grenzen des guten Geschmacks. Das ist ein bisschen wie die derzeitige Rückkehr der Bandkultur mit ihren volleren, psychedelischen Klängen nach der Hoch-Zeit der elektronischen Musik in den letzten Jahren.“ Und ganz zuletzt wirken die Arbeiten auch wie ein riesiges geheimes Selbstporträt, voller Bezüge auf die eigene künstlerische und persönliche Biografie, Referenzen an kulturelle (Vor-)Bilder, gute Freunde und nahe Verwandte – das ganze große Weigand-Universum in der Zwischenzeit nach dem Jüngsten Gericht von Hieronymus Bosch und vor dem jüngsten Tag der Popgeschichte, an dem Weigand jedenfalls zur Rechten des Herrn sitzen wird, als der Große Glückliche Stromgitarrist.

 

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