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Der Moralist und die Tänzerin

Markus Wilhelm war einer anderer, früher, als er mit seiner Zeitschrift „Föhn“ Österreich praktisch im Alleingang wieder auf den richtigen Weg bringen wollte. Heute führt er eine Fremdenpension in Sölden. Georg Diez hat ihn besucht.

Wenn Markus Wilhelm auf der Wiese neben seinem Haus steht, dann verschränkt er die Arme vor der Brust und schaut hinunter auf Sölden. Sehr gerade steht er da, in seinen verwaschenen Hosen und dem grauen Pullover, der ein wenig ausgeleiert ist, als habe ihn vor ihm schon lange jemand anderer getragen. Markus Wilhelm sieht darin aus wie sein eigener jüngerer Bruder.

Er blickt fast unbeteiligt, in seinen Augen liegt etwas Helles, sein Gesicht ist ruhig und entspannt und hat die gesunde Farbe eines Mannes, der sein Leben mehr hier draußen verbringt, wo die Luft frisch ist, wo die Schafe sind und die Ziegen, wo die Bäume sind und die Berge, die hinter seinem Haus aufwachsen. Vor ihm fällt der Hang steil ab, hinunter zur Ötztaler Ache, die in ein Bett aus Beton gefasst ist, damit die Natur nicht über den Menschen siegt.

Manchmal scheint ihm die Sonne ins Gesicht, wenn er so da steht, vor allem am Nachmittag, wenn drüben auf der anderen Seite des Tals die Skifahrer auf dem schmalen Streifen entlang rutschen, der mit Kunstschnee auf den frühlingsbraunen Hang gepappt wurde. Markus Wilhelm kneift in solchen Momenten die Augen zusammen. Die Welt, die er sieht, wenn er auf der Wiese neben seinem Haus steht, ist nicht seine Welt.

Die Menschen, die er von hier oben betrachtet, sind klein, sie sind schwach, sie denken an sich und an das Vergnügen und an den nächsten Smirnoff Ice. Sie tragen bunte Anoraks, sie singen „Cantare ohohoho“ oder „Dancingsinginghallelujah“, sie steigen in ihre Autos und fahren betrunken gegen einen Baum. Markus Wilhelm hätte allen Grund, wütend zu sein auf diese Leute. Aber er ist nicht wütend. „Das geht so schleichend“, sagt er, „so schleichend“. Damit meint er alles. Das Leben, die Moral, den Konsum. Schleichend, ganz schleichend, so rutscht der Mensch langsam ab, rutscht ins Tal wie der Schnee im Frühling, rutscht in die Behäbigkeit, in die Selbstzufriedenheit, in die Zerstörung der Natur und des Friedens und des Planeten. Markus Wilhelm war einmal ein Revolutionär. Heute ist er nur noch Zuschauer.

Von seinem Haus aus, das am Hang klebt wie all die anderen Häuser, wie auf einem großen Tablett, von dem sie jederzeit herunter kippen können, von diesem Haus aus sieht er rechts die Gondeln, die die Skifahrer hinauf zum Giggijoch bringen, er sieht die Häuser, die an der Straße entlang gebaut sind und aussehen, als seien sie zur dreifachen Größe aufgebläht, er sieht die Neonschilder und die Busse, und wenn er weiter nach links schaut, dann sieht er ein kleines braunes Haus, das sich wie verlegen an den Hang duckt. Es steht direkt an der Straße, und am späten Nachmittag parkt hier nur selten ein Auto; nachts hält dafür öfter mal ein Taxi, aus dem dann ein paar Männer steigen. In Sölden ist es schließlich so: Um 18 Uhr stehen die Männer mit ihren Skischuhen, den Hosen, Pullis und Brillen auf den Tischen und tanzen. Und um zwei Uhr früh stehen die Frauen auf den Tischen und tanzen und haben praktisch gar nichts an.

Das eine passiert zum Beispiel in der „Schirmbar Liebe Sonne“ mitten im Dorf; das andere passiert zum Beispiel in der „Rodelhütte“ am Rand des Dorfes, in jenem kleinen braunen Haus, das Markus Wilhelm von seinem Haus aus sieht, wenn er nur genau hinschaut. Irgendwann kurz vor zehn am Abend geht hier Kristina über den Parkplatz und verschwindet in der Tür. Dann ist sie nicht mehr Kristina, sondern Claudia, und wenn sie nackt auf dem Tisch tanzen und dabei an ihrer Kollegin Mandy herumlecken soll, dann kostet das 80 Euro. Kristina ist aus Ungarn, sie ist Go-Go-Tänzerin, sie ist die andere Wahrheit zur Wahrheit von Markus Wilhelm. Zusammen ergeben sie die Wahrheit von Sölden.

Kristina hat blonde Haare, weil in der „Rodelhütte“ alle Frauen blonde Haare haben. Sie trägt ein Kreuz um den Hals, sie zeigt ihre Brüste jeweils beim zweiten Tanz, sie wechselt ihr Kostüm meistens nach jedem Auftritt. Dann verschwindet sie hinter der Spiegeltür, die an der Rückwand der kleinen Bühne angebracht ist, auf der auch eine Stange steht, an der sich die Frauen drehen und reiben und festhalten, wenn sie nicht gerade an einem Finger lutschen. Mal taucht sie in einem goldenen Nichts wieder auf, mal in einem silbernen Nichts, mal in einem glitzernden Nichts. Dann geht sie entweder zu den anderen Frauen, die vorne rechts sitzen und Britney Spears oder Madonna oder sonstwas zuhören, während eine andere von ihnen tanzt, Kristinas Cousine Tina etwa oder ihre Freundin Michelle, die beide auch aus der kleinen ungarischen Stadt Mogyoród kommen, wo einmal im Jahr Michael Schuhmacher und die anderen Formel-1-Fahrer im Kreis fahren, oder sie geht zu einem der Männer, die an der Bar sitzen oder an einem der wenigen Tische in diesem engen Raum, sie fragt sie, ob sie sich einen Piccolo bestellen darf, der hier 22 Euro kostet, und wenn der Piccolo vor ihr steht, dann rührt sie darin mit einer Zuckerstange herum, damit es nicht so sprudelt.

Daheim in Ungarn war Kristina Krankenschwester und verdiente 200 Euro im Monat; jetzt verdient sie 2000 Euro und hat sich zwei Grundstücke in Mogyoród gekauft, für später. Sie ist 25 Jahre alt, und wenn man will, dass sie für einen im Separée tanzt, dann kostet das 280 Euro.
Ihr Manager, sagt sie, sei der beste. Den Winter über ist sie in Österreich, den Sommer über in Ungarn. Dort macht sie Nacktfotos. Früher, ja früher sei das manchmal anders gewesen, schwieriger, schmieriger; früher habe eine Freundin von ihr einmal mit fünf Männern Sex gehabt. Das war das schlimmste, was sie je erlebt hat.

Heute sagt sie: „Ich mag das gern, Männer geil machen“. Und natürlich ist so ein Satz vielleicht falsch, vielleicht ehrlich, vielleicht verlogen, vielleicht kalkuliert. Kristina ist eine Tänzerin, nichts anderes; sie verkauft sich, sie verkauft ihren Körper, sie ist die Frau, die sich auszieht, und die Frau, die bezahlt wird. Wenn man so will, dann steht sie für Ausbeutung, weil sie die Ausgebeutete ist, die doch davon profitiert. Sie steht für Verfügbarkeit, Käuflichkeit, den Markt. Sie hat ihre Ehre, sie ist nur eine Tänzerin, nichts anderes. Im Grunde steht Kristina für all das, was Markus Wilhelm hasst.

Kristina ist die Welt, wie er sie nicht akzeptieren will. Sie ist der Spiegel, in den er blicken muss, jeden Tag, direkt vor seiner Tür. Auch Sölden ist so ein Spiegel, mit zwei Millionen Übernachtungen im Jahr, mehr hat in Österreich nur Wien. Und auch die Alpentransitgegner, die die Autobahn blockieren, sind ein Spiegel, so wie die Parteien, die Berge, der Himmel. Kristina bestätigt sein Bild von der Welt und sie widerlegt es. Sie ist die Ausgebeutete und die Profiteurin. Sie ist freiwillig hier und ist es nicht. Sie wollte ein anderes Leben und hat dieses gewählt. Lauter Widersprüche. Es gab eine Zeit, da war in Markus Wilhelms Welt kaum Platz für Widersprüche. Widersprüche schaden nur der Wahrheit des Moralisten.

Kristina schaut die Männer manchmal mit ihren großen Augen an, dann sagt sie: „Ich hasse Ungarn, ich hasse Ungarn dafür, dass ich dort nicht bleiben konnte, dass ich dort so wenig verdient habe, dass ich gehen musste.“

Kristina hasst Ungarn für den Sozialismus. Markus Wilhelm, könnte man sagen, hasste Österreich für den Kapitalismus.

Es gibt da zum Beispiel jenen Wutausbruch aus dem Jahr 1991. „Der Grund für den Massentourismus hierzulande“, schrieb Markus Wilhelm damals, „sind nicht unsere weiten Schigebiete. Gäbe es den niederstreckenden Kapitalismus in Deutschland nicht, der die Menschen so zurichtet, so gäbe es diesen Auswurf in Österreich nicht. Ihr Urlaub ist die schärfste Kritik, faktisch – nicht schriftstellerisch, an den Verhältnissen, die sie hervorbringen. Hier sind sie auf Entschädigung aus, die Kapitalismus-Krüppel. Auf Teufel komm raus. Hier bricht es los aus ihnen, am Hang, in der Diskothek. Wohin mit der gequälten Sexualität? Die Kleingemachten lassen den Herrenmenschen heraus.“ Was muss dieser Markus Wilhelm heute denken, wenn er vor seinem Haus steht, in dem er Zimmer an Touristen vermietet; sein Haus oberhalb und etwas am Rande von Sölden, wo sich höhere Töchter und Testosteronjungs vergnügen, tief in der Nacht ihren Après-Ski feiern, zu Techno tanzen.

„Materiell geht es den Leuten hier immer besser“, sagt Wilhelm und schaut hinunter auf den Fluß, die Ötztaler Ache, die vom Gletscher herunter kommt und Steinbrocken und Geröll vor sich her treibt, so wie heute der globalisierte Kapitalismus die Menschen vor sich her treibt. „Aber psychisch“, sagt er, „psychisch“.

Er war ein anderer, in den Achtzigern und Anfang der neunziger Jahre, als er mit seiner Zeitschrift „Föhn“ Österreich praktisch im Alleingang wieder auf den richtigen Weg bringen wollte. Und er ist natürlich der gleiche geblieben. Von der Medienmeute war damals die Rede, die den herrschenden Kapitalismus gerade in ihrer vorgeblichen Kritik doch nur stütze; von der Stromindustrie berichtete er, die ihr restfaschistisches Erbe und die Schuld der als Arbeiter eingesetzten Kriegsgefangenen bis in die Gegenwart trage; von Lügen, Verstrickungen und Entfremdung erzählte er, von den Menschen, die das tun, von den Menschen, die nichts davon wissen, von den Menschen, die nichts davon wissen wollen. Es ist das Schicksal des Moralisten, dass er auf eine Welt trifft, die sich nicht für seine Wahrheit interessiert.

„Schau länger hinein in ein Gesicht, ganz, das eigene vielleicht! Wir spüren etwas sich regen und decken es mit Kartoffel-Chips zu. Es tut uns etwas weh und wir knipsen den Fernseher an. Von innen her tritt ein irritierender Gedanke über unser Leben auf uns zu und wir schnappen nach einem Bierglas.“ Auch diese Sätze stammen aus dem Frühjahr 1991, sie stehen im Heft 15 des „Föhn“, Markus Wilhelms Zeitschrift, die sich die „Zuspitzung“ zur Aufgabe gemacht hatte, wie das Impressum angibt. Föhn ist etwas, das Kopfweh macht. Bei Föhn droht einem das Hirn zu zerspringen, dann wieder gleitet alles ab in eine Matschigkeit, die schon fast wieder metaphysisch ist. Manche sehen bei Föhn auch klarer. Sitz der Zeitschrift war Innsbruck. Markus Wilhelm ging die Welt frontal an. Dann war er wieder daheim in Sölden.

Heute ist Markus Wilhelm 48 Jahre alt und mit Journalisten spricht er immer noch am liebsten gar nicht. Er ist wohl weniger resignativ, als vielmehr realistisch geworden. „Die Geschichte des Leidens unter dem Kapitalismus“, hat er einmal geschrieben, „ist erst dann zuende, wenn der Kapitalismus zuende ist.“ Markus Wilhelm ist schlank, fast hager, ein bisschen asketisch vielleicht. Falls er leidet, so trägt er es jedenfalls nicht nach außen. Wahrscheinlich ist er klug genug, nicht zu leiden.

In den besten Zeiten verkaufte er vom „Föhn“, einem kleinen roten Heft auf grauem, billigem Papier gedruckt, mehrere tausend Stück, zu 40 Schilling das Exemplar. Wer wollte, konnte den Heftpreis auch auf 1000 Schilling aufrunden. Vom Land Tirol erhielt der „Föhn“ einen Zuschuß von 40000 Schilling, vom Bund noch einmal 20000 Schilling. Aber auch der Umstand, dass, wie er es sah, der Staat Kritik subventioniert, um sie als Feigenblatt zu benutzen – auch dieser Umstand passte wohl sehr gut in sein Denken, das immer zwischen Aufklärung und Verbohrtheit schwankte. „Wir sind programmiert“, schrieb er 1992 in Heft 17. „Die Medien haben die Aufgabe, uns dorthin zu bringen und dort zu halten, wo uns die Mächtigen haben wollen.“ Eine große Lügenmaschine ist das also – oder in seinen Worten: „Eine jede Zeitung, die eingeht, ist eine weniger, die
uns belügen kann.“

Sein Glaube daran, wie verderbt das System sei, kannte in dieser Zeit kaum Grenzen. „Ist es das Glatteis, das das Auto schleudern gemacht hat, oder die Hetze in dieser Zeit-ist-Geld-Ordnung?“ Und in missionarischer Strenge geht es weiter: „In Wahrheit ist es nicht der Discobesuch, der den 18jährigen auf den nächsten Baum donnern läßt, sondern die wohlbegründete Angst, das Leben im Leben zu versäumen, so wie es nicht der Alkohol ist, der den Skitoten fabriziert, sondern sein Fluchtzwang aus dem ihm feindlichen Alltag.“ Noch die Todesanzeigen, so schreibt er, seien gelogen: „Nicht der Herr hat die 46jährige ,zu sich‘ genommen, sie ist auch nicht am Krebs krepiert, sondern an den unerträglichen Zuständen.“ Und unten, im Tal, auf der anderen Seite der Ötztaler Ache, sitzt heute Kristina, die die Widersprüche des Kapitalismus lebt, und denkt an einen Mann, den sie heiraten könnte, um mit ihm glücklich zu sein und um mit ihm ein Haus zu bauen.

„Bauen“, sagt Markus Wilhelm, „bauen, bauen, bauen, das ist hier fast wie eine Ideologie.“ Er steht am Zaun, der den Wanderweg begrenzt, der an seinem Haus entlang führt, und schaut auf die wuchtigen Häuser im Tal. In der Hand hält er eine alte Zaunlatte, die er wiegt, als wolle er seine Vergangenheit wiegen. Eine Zeitschrift mit dem Namen „Föhn“ hatte er bereits Ende der siebziger Jahre gegründet, zusammen mit Felix Mitterer und anderen, eine vierteljährliche Kulturzeitschrift, die stark literarisch geprägt war. Zwei Jahre machte er das, dann zog er sich zurück, schrieb viel, für das Radio, für das Theater, Lyrik, aber er veröffentlichte wenig. Er erhielt mehrere kleine Literaturpreise und zwei Bundesstipendien, blieb aber, wie damals jemand sagte, ein „Dichter ohne Werk“. Ab 1984 gab er dann den „Föhn“ alleine heraus. Von da an gab es gar keine Dichtung mehr, nur noch das Werk. „Was ist Literatur?“, fragte er einmal in einem der wenigen Zeitungsinterviews. „Literatur ist, wenn man einer Sache gerecht wird.“ Sein Werk war, der Welt klar zu machen, dass sie in der Lüge lebt.

Die Zeitungen zum Beispiel. Ein Artikel, schrieb er, „das sagt schon der Name, ist etwas, was man kaufen kann“. So funktioniert sein Gehirn. Wenn er von seinem Engagement gegen den EU-Beitritt Österreichs 1994 erzählt und von der Volksabstimmung, die damals stattfand, dann zerteilt er das Wort in zwei Teile, in Volk und Abstimmung – um klar zu machen, dass abstimmen auch gleichschalten heißen kann. Markus Wilhelm tastet die Welt nach den Lügen ab, die im Wesentlichen durch das Geld, den Konsum, den Kapitalismus entstehen; dass es das Wesen des Menschen sein könnte, so zu leben, das will er lieber nicht glauben. „Der Kapitalismus deformiert uns alle und macht uns damit ausplünderbar nach Strich und Faden“, schrieb er einmal. Er hat eine Vision, und darin ist der Mensch gut. Er hat eine Realität, und darin ist der Mensch schlecht.

Das Haus, in dem er heute wohnt, haben früher seine Eltern bewohnt. In den Eingangsbereich ist wie eine Talsperre eine braune Holzwand gebaut, dahinter liegt die Wohnung von Markus Wilhelm. Es bleibt bei jemand wie ihm immer nur bei einer Annäherung.

Auf dem steilen Hang vor dem Haus grasen die Schafe. Markus Wilhelm steht im Gehege bei den Ziegen, er prüft den Metallzaun, indem er mit dem Fuß leicht dagegen tritt, dann kontrolliert er den Holzpflock, rüttelt mit der Hand daran. Alles hat seinen Platz, alles hat seine Ordnung. Schließlich kniet er sich hin und lässt sich leicht von einer der Ziegen anboxen, die um ihn herum streichen.

Manchmal kommt ein Wanderer an seinem Haus vorbei. Dann nickt er kurz, die Arme hält er verschränkt vor der Brust, der Welt ein Bollwerk.

 

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