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„Das ist der Leib Christi, und wenn ihr ihn beißt, tut ihm das weh.“

Hans Danner auf der Suche nach ekklesiogenen Krankheiten. – Wie bitte?

Vorbereitungsgebet:

Laß mich Deine Leiden singen, / Dir des Mitleids Opfer bringen, / Unverschuld’tes Gotteslamm, / Das von mir die Sünden nahm. / Jesu, drücke Deine Schmerzen / Tief in aller Christen Herzen! / Laß mir deines Todes Pein / Trost in meinem Tode sein!

Erste Station

„Wie bitte … ?! Ekkles… was?! Einen Moment …“ Ich entschuldige mich bei meiner Abendmahlsgesellschaft, stehe vom Küchentisch auf und gehe ins Nebenzimmer, in der Hand mein Telefon. Ich solle eine Reportage schreiben, inzwischen habe ich den Auftrag zumindest akustisch verstanden: „Ekklesiogene Neurosen.“ – „Ist das ansteckend?“ Meine Frage kommt wie ein Reflex. Ich sage zu. Erst nachdem man sich über Abgabetermin und erste Recherchen verständigt hat und ich schon längst wieder nachdenklich am Tisch sitze, wird mir klar, worauf ich mich da eingelassen habe. Vor meinem inneren Auge ersteht ein skurriles Pandämonium: alte Frauen, die sich vor dem Schlafengehen mit Weihwasser einreiben, um böse Geister fern zu halten, unscheinbare Pensionisten, die vorzugsweise in Särgen übernachten, junge Mädchen, denen abwechselnd weiße Lichtgestalten und schlangengliedrige Ungeheuer erscheinen. Eingebettet in diese Vorstellungswelt verlasse ich meine feste Burg und mache mich auf die Suche nach den Neurosen.

Zweite Station

„Es sind nicht die besonders braven Töchter, die als Jungfrauen in die Ehe gehen, sondern die hormonell unterbelichteten.“ Berlin 1955. Der Gynäkologe und Psychotherapeut Eberhard Schaetzing sitzt an seinem Schreibtisch und arbeitet gerade an einem Aufsatz für die Zeitschrift „Wege zum Menschen“. Immer wieder waren in den letzten Jahren Männer und Frauen in seine Praxis gekommen, die über Impotenz oder Frigidität klagten oder an der Unvereinbarkeit ihrer Homosexualität mit christlichen Leitlinien litten. Andere praktizierten Selbstbefriedigung und lebten nun in Angstzuständen in der Sündenlandschaft, in die sie sich damit begeben hatten. Endlich konnte Schaetzing die Ursache für viele dieser Leiden festmachen: Diese Neurosen waren von der Kirche verursacht, „ekklesiogen“! „Manch feinnerviger Jüngling, der auf die üble Suggestion so maßlos übertriebener Onaniefolgen hereingefallen ist, versagt als Ehemann mit vorzeitigem Samenerguss bis zur totalen Impotenz mehr oder weniger vollkommen.“

Samuel Pfeifer, Chefarzt an der psychiatrischen Klinik in Basel sieht heute in Schaetzings Artikel eine „sehr einseitige Sicht der Entstehung sexueller Störungen“. Doch auch wenn Schaetzings Schlussfolgerungen die Zeit nicht überdauern konnten, der Begriff der „ekklesiogenen Neurose“ ist bestehen geblieben und hat sich auch jenseits von sexuellen Versagensängsten durchsetzen können. Durch die Kirche verursachte Angstzustände und Neurosen wurden über die Jahrzehnte hinweg bis heute immer wieder festgestellt und diagnostiziert.

Besonders anfällig für derartige psychische Störungen sind Priester, denen der Zölibat die Beschäftigung mit geschlechtlichen Dingen vorerst einmal untersagt. So berichtet der Berliner Pfarrer und Arzt Klaus Thomas im „Handbuch für Selbstmordverhütung“ bereits 1964 von 322 kirchlichen Amtsträgern, die sich aufgrund von ekklesiogenen Neurosen einer Behandlung unterzogen hätten – allein in der Lebensmüdenbetreuung Berlin.

Dritte Station

Soviel zu meinen Recherchen. Ich sitze am Schreibtisch, lese mir die letzten Absätze noch einmal durch und denke nach. Lässt sich dieses Thema auf diese Weise in die Hand nehmen? Wo liegen meine Neurosen und sind ekklesiogene darunter? Könnte ich sie überhaupt erkennen, wenn sie mir begegneten beim
abendlichen Spaziergang durch meine Seelenlandschaft?

Und dann fällt mir ein, welche Ängste ich als Kind auszustehen hatte, wenn die Hostie nach der Kommunion trotz aller von mir verwandten Vorsicht meine Zähne berührt hatte. „Das ist der Leib Christi“, war uns eingeschärft worden, „und wenn ihr ihn beißt, tut ihm das weh“. Und das wollte ich auf keinen Fall. Oder die fieberhafte Suche nach Sünden in der Pause vor der Schulbeichte, Gott sei Dank hatte man uns einen kopierten Zettel mit möglichen Verfehlungen gegeben. Und dann mein schlechtes Gewissen, als die Beichte nicht mehr verpflichtend, sondern in Eigenverantwortung zu besuchen war, und ich mich deshalb nicht mehr hinzugehen traute, weil meine Angst vor dem Satz „Meine letzte Beichte war am …“ von Tag zu Tag gewachsen war. Und warum kann ich immer noch nicht offen über meinen Glauben, meine Religion sprechen? Reicht das schon für
eine Neurose? Und wer kann mir das beantworten?

Vierte Station

Pater Dr. Andreas Resch ist Angehöriger des Redemptoristenordens, war lange Zeit als Psychotherapeut tätig und gründete 1978 das „Institut für Grenzgebiete der Wissenschaft“ (IGW) in Innsbruck. Im Augenblick arbeitet er an einem Lexikon der Paranormologie. Dieser Mann muss der Experte sein, nach dem ich suche. Ich überfliege noch einmal die Homepage des IGW: „Gemeinsam mit der Internationalen Interessengemeinschaft Imago Mundi befasst sich das IGW mit den Phänomenen, Verhaltensformen und Kenntnissen in den Grenzbereichen von Physis, Bios, Psyche und Pneuma, von Beweis und Lebenserfahrung, von Gesetzmäßigkeit und Spontaneität, von Immanenz und Transzendenz und versucht diese durch Interpretation, Publikation, Information und Dokumentation einem wahrheitsgerechten Welt- und Menschenbild einzugliedern.“ Ich bin gespannt.

Fünfte Station

Das einfache Holztor neben der Herz-Jesu Kirche in der Innsbrucker Maximilianstraße fällt kaum auf im Schatten des benachbarten Kirchenportals. Auf einem einfachen Messingschild steht: IGW, Institut für Grenzgebiete der Wissenschaft, darunter zwei Klingelknöpfe: P. Andreas Resch und Resch-Verlag. Wie telefonisch vereinbart, klingle ich bei beiden. Hinter der Tür finde ich mich auf einem unerwartet großen, sonnendurchfluteten Innenhof wieder. Die Kirche, kleiner als von der Straße aus vermutet, zeigt mir ihre sympathisch baufällige Rückseite, ein bunter Kinderball liegt da unter einer Teppichstange im Gras. Doch da ruft schon in der Ferne eine Frau nach mir und winkt. Hierher solle ich kommen, hier sei das Institut. Erst jetzt fällt mir das flache, lang gestreckte Gebäude am Ende des Innenhofs auf. Abgetrennt durch einen mannshohen Maschendrahtzaun wirkt es ein wenig wie ein Versuchslabor für streng geheime militärische Forschungen, und als mir Pater Resch im Eingangsbereich die Hand schüttelt und erklärt, er komme gerade von einem Gespräch mit zwei Physikern, die für die NASA arbeiten, wird meine Ahnung zur Gewissheit. Jeden Moment bin ich darauf gefasst, einer Alien-Leiche auf einem Seziertisch zu begegnen.

„Ich halte ja nicht viel von diesen Kirchenhetzern!“, verkündet Pater Resch in meine Richtung und führt mich durch seine Bibliothek, die mehr Thronsaal als Arbeitsraum zu sein scheint, nach oben in sein Privatbüro. Wir setzen uns. Resch, jetzt ganz Wissenschafter, lehnt sich zurück, verschränkt seine Arme und wartet. „Sie fragen, ich antworte!“

Sechste Station

„Nun gar die Rhodocephalen! Ihr Haar ist straff und brennrot, sie sind mager und bleich, mit stechendem, unwirschem Blicke. Es ist dies der Blick des religiösen Schwärmers, der nach Protestantenblut lechzt und nach der siebenten Maß und dem sechsten ‚Viertele‘ visionäre Erscheinungen himmlischer Gestalten bekommt oder den Teufel durch Schlucken von warmem Kuhmist aus der Seele vertreibt.“ Diese bekannte Analyse einer bestimmten Tiroler Schädelform stammt von Karl Techet, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Pseudonym Sepp Schluiferer in „Fern von Europa. Tirol ohne Maske“ seine Wahrnehmungen aufzeichnete. Freilich ist das Literatur, doch nicht umsonst wurde Techet seiner Stellung als Hauptschullehrer in Kufstein enthoben und aus dem Land gejagt.

Siebente Station

Inzwischen weiht mich Pater Resch in die Grundbegriffe der Psychotherapie ein. „Eine Neurose ist immer ein Konflikt zwischen Intellekt und Gefühl“, erklärt er, jedes seiner Worte genau abwägend. „Das Gefühl will etwas, was der Verstand nicht gut heißt. Der Nährboden der Neurose sind die Emotionen.“ Auf meine Frage, wie es um den ekklesiogenen Anteil dieser Erkrankungen stünde, wehrt Resch ab. Er sehe keinen wirklichen Zusammenhang zwischen Kirche und Neurotisierung, ausschlaggebend sei vielmehr das von Individuum zu Individuum verschiedene Maß der Verarbeitungsfähigkeit von Einflüssen. Jeder Mensch verfüge über ein unterschiedlich ausgeprägtes Manipulationsbedürfnis. Freilich beschneide der Zölibat gewisse naturdynamische Regungen, was sich durchaus auch psychosomatisch auswirken könne. Aber dazu seien Normen in der Regel auch gedacht: um Emotionen im Zaum zu halten. „Der Primat des Intellekts beginnt schon mit Platon und Aristoteles. Frauen wurde der Verstand überhaupt abgesprochen, man betrachtete sie als emotionale und deshalb minderwertige Wesen.“ Während er spricht, fixiert Pater Resch durch seine feine randlose Brille einen imaginären Horizont hinter den Bücherstapeln auf seinem Schreibtisch. Nur manchmal würdigt er mich eines misstrauischen Blickes von der Seite her.

„Und was halten Sie von Menschen, die von sich behaupten, Visionen oder religiösen Erscheinungen ausgesetzt zu sein?“ Pater Resch zögert kurz, seine gepflegten Hände verschwinden in den Taschen seines weißen Arbeitsmantels. „Sofern diese Menschen an die Öffentlichkeit gehen, handelt es sich meistens um ein Minderwertigkeitsgefühl, das kompensiert werden soll.“ Er glaube zwar an Menschen mit heilenden Fähigkeiten, diesen rate er aber dringend, ihre Kenntnisse für sich zu behalten. „Vor allem in Fällen, in denen man nicht helfen kann, ist man schnell als Verrückter oder Hexe abgestempelt.“

Von so einer „Hexe“ hatte ich schon gehört. Von einer eigentümlichen Frau in den Fünfzigern, die von Tür zu Tür zieht, um körperliche und seelische Leiden mit Heilkräutern zu kurieren. Außerdem soll sie in direktem Kontakt zu den Verstorbenen stehen. Pater Resch begleitet mich hinaus: Zum zweiten Mal durchschreiten wir den Thronsaal, hinter einer massiven Holztüre vernehme ich das Gespräch der beiden NASA-Physiker wie fernes Murmeln. Am Ende gibt mir Resch noch einen Rat mit auf den Weg, einen Satz eines Mystikers, der auch ihm immer als Lebensmotto gedient habe: „Nur so weit hineingehen, wie man wieder aus eigener Kraft herauskommt.“

Achte Station

Am Donnerstag, dem 10. Februar 2000, ist Elisabeth zum letzten Mal mit ihrem Auto unterwegs. Vielleicht ist der Himmel nebelverhangen und ein Niesel- oder Sprühregen liegt in der Luft, die Scheibenwischer quietschen bei jeder Bewegung ein wenig. Oder es schüttet, und ein vorbeifahrender LKW wirft eine Wasserfontäne gegen die Windschutzscheibe, die Gischt einer nahenden Brandung, hunderte Kilometer von der nächsten Küste entfernt. Vielleicht liegt aber auch ein Sonnentag über den oberösterreichischen Hügeln, viel zu warm zwar für die Jahreszeit und doch weht ein kühler Wind, und hemdsärmlig holt man sich am Ausgang des Winters noch eine letzte Erkältung.

Dabei ist das Wetter eigentlich nebensächlich an diesem Nachmittag. Elisabeth parkt ihr Auto und macht sich auf den Weg. Die letzten drei Kilometer will sie zu Fuß gehen. Unterwegs telefoniert sie noch mit ihrer Mutter. „Ich komme jetzt für immer heim.“ Die Mutter freut sich, hat sie ihre Tochter in den letzten Jahren, die sie im oberösterreichischen Kirchberg verbracht hatte, doch vermisst. Kurze Zeit später ist Elisabeth tot, von einem Personenzug überrollt. In der einen Hand hält sie ein Heiligenbild, in der anderen einen Kristall, einen Amethyst, das Symbol der göttlichen Weisheit. Mehrere Stunden wird es dauern, bis man ihn aus der geschlossenen Faust der Toten entfernen kann.

So oder ähnlich erzählt man sich diese Geschichte, die auch ich zum ersten Mal am Telefon aus dritter Hand gehört habe. Ich bin losgefahren, um dem Ganzen nachzugehen. Berta W., die Mutter Elisabeths, sitzt mir gegenüber. Sie ist die „Hexe“, die sich selbst „Kräuterberta“ nennt, und seit dem Selbstmord ihrer Tochter als Heilpraktikerin durch die Lande zieht. Ihre langen geflochtenen Haare sind unter dem Haarnetz zu einem Kranz arrangiert. Unter der braunen ärmellosen Walkjacke trägt sie ein schwarzes T-Shirt mit glitzernden Strasssteinen. Auf den ersten Blick ist nichts Auffälliges an ihr, eine Osttiroler Bäuerin, der man die zehn Kinder, die sie zur Welt gebracht hat, nur ein wenig um die Hüften herum ansieht. Nur ihr Gesicht mit den wasserhellen Augen hinterlässt einen seltsam unentschiedenen Eindruck, so als sei alles noch in der Schwebe, als stünde noch nichts fest.

Neunte Station

Das Gebiet der ekklesiogenen Neurosen ist weitläufig. Sind es zum einen vor allem kirchliche Amtsträger, die darunter leiden, so wächst zum anderen die Anzahl der Menschen, die an die Öffentlichkeit gehen, weil sie von ekklesiogen Neurotisierten misshandelt oder missbraucht wurden.

Seit Mai 2002 betreibt der Verein „Bürger beobachten Kirchen e.V.“ eine Anlaufstelle für Opfer kirchlicher Gewalt. „Vom Pfarrer missbraucht? Sie erhalten Hilfe von erfahrenen Therapeuten. Alle Gespräche und Informationen werden natürlich streng vertraulich behandelt“, heißt es da in einem Aufruf mit dazugehöriger Telefonnummer im Internet. Am Telefon, so verspricht die Anzeige, meldet sich dann „der Beauftragte für die Opfer kirchlicher Gewalt“.

Auch die Initiative „ein mahnmal für die millionen opfer der kirche“ informiert auf ihrer Homepage „www.kirchenopfer.de“ regelmäßig über aktuelle Missbrauchsfälle und seelische Störungen. Immer wieder ist da auch von katholischen Heimen und Orden die Rede. So wird „Hilfe für einen Aussteiger“ aus einem katholischen Orden gesucht, den man jetzt „mürbe machen“ wolle: „Kennt ihr Selbsthilfegruppen von ‚Kirchenaussteigern‘ oder habt ihr irgendeinen Rat, was wir tun können? Wir sind sehr verzweifelt und in Angst.“

Zehnte Station

Berta W. spricht von der heilenden Kraft der Natur, die sie in einer eigenen Kräuterstube in Tiegelchen und Fläschchen füllt, und von der langen Tradition der Heilkunst in ihrer Familie und in den längst entschwundenen Generationen Osttiroler Bäuerinnen. „Unsere Großmutter gab uns jede Woche einen Löffel Sand zu essen … zur Reinigung der Darme.“ Ihre Tochter erwähnt sie erst nach einer halben Stunde. Und auch wenn sie die Geschichte inzwischen schon so oft erzählt hat, dass unweigerlich etwas Routiniertes an ihr haftet, hält sie kurz inne, als sie vom letzten Anruf ihrer Tochter erzählt.

1998 hatte Elisabeth ihre Stellung als Kellnerin aufgegeben, um im Naturhaus Hildegard von Bingen im oberösterreichischen Kirchberg Heilpraktikerin zu werden. Ihre heilenden Fähigkeiten hätten sich schon bald weit über das gewöhnliche Maß hinaus entwickelt. Im Jänner 2000 sei Elisabeth nach langer Zeit zum ersten Mal wieder nach Osttirol gekommen. „Doch ihr Wissen wurde im Tal nicht angenommen. Ihr Inneres, ihre Seele zerbrach.“ Der Geist ihrer Tochter, erklärt Berta, sei nach deren Tod in sie eingefahren. Elisabeth wirke und spreche in ihr und bei der Herstellung von Salben führe sie ihr die Hand. Ihr ganzer Wissensschatz sei plötzlich auf sie übergegangen.

Andreas, derjenige von Bertas Söhnen, der Elisabeth am nächsten gestanden war, hat den Selbstmord seiner Schwester nicht so leicht verkraftet. Während der zwei Stunden, die ich mich in der Stube mit seiner Mutter unterhalte, sitzt er, der seine Mutter auf ihren Hausbesuchen als Chauffeur begleitet, draußen im Regen im Auto. Er geht nicht mehr unter Menschen. „Der Böse hat in ihm die Macht ergriffen.“ Berta weiht mich ein: Manchmal sitze er am Küchentisch und deklamiere Kriegserinnerungen seines Großonkels, Dinge, die er nicht wissen könne. „Er braucht einfach Zeit.“ Einen Besessenen jedoch habe sie mit ihren Kräutern bereits geheilt, einen gewissen Igor in Corvara, einem Ort im Südtiroler Gadertal. Der führe jetzt selbst eine Kräuterstube dort.

Elfte Station

Gewisse Orte verfügen über besondere Kräfte und Eigenschaften. So berichtete die Süddeutsche Zeitung in ihrem Magazin vom
5. 2. 1999 vom so genannten „Jerusalem-Syndrom“, das der israelische Psychiater Bar El in Kfar Shaul seit nunmehr über 20 Jahren untersuche und therapiere. Immer wieder würden vorwiegend protestantische Pilger angesichts der Heiligen Stadt ihren Verstand verlieren. Im Zuge der letzten zwei Jahrzehnte habe der israelische Mediziner 470 Touristen behandelt und untersucht, die meisten von ihnen, so Bar El, hätten schon vor ihrer Reise Probleme gehabt. „Meist suchen sie Stätten aus dem Leben Jesu auf, dort führen sie magische Zeremonien durch, mit viel Halleluja und noch mehr Abrakadabra.“ Schließlich würden sie sich selbst für „Apostel“ oder „Erlöser“ oder für eine konkrete biblische Gestalt halten.

Zwölfte Station

„Nein, wirklich nicht! Da haben Sie bei uns kein Glück! Wir haben schon so schlechte Erfahrungen gemacht …“ Die Frau im Türrahmen macht eine abwehrende Geste. Ich bekräftige noch einmal, dass ich nichts verkaufen wolle, sondern nur gekommen sei, um ein wenig mit ihrem Mann zu sprechen. „Hauskapelle statt Sauna“ hatte der ORF-Tirol einen Beitrag für die Sendung „Tirol heute“ übertitelt. Es ging darin um Oswald Strasser aus der Osttiroler Gemeinde Kartitsch, der sich im Keller seines Einfamilienhauses, vor dem ich jetzt stehe, einen Hausaltar mit Betstuhl eingerichtet hat. Ich erkläre, dass ich zwar von der „Tirol heute“-Sendung gehört, sie aber leider selbst nie gesehen hätte. „Wenn es nur das ist … Die können wir Ihnen zeigen.“ Da ich nun schon einmal da bin, bekomme ich auch Kaffee und Ribiselkuchen. Oswald Strasser, ein hochgewachsener, weißhaariger Mann mit ruhiger Stimme, legt die Videokassette ein und schon sehe ich das Ehepaar, das mit mir am Küchentisch sitzt, im Fernsehen. Nach der Hauskapellenreportage folgt noch ein älterer Beitrag über eine selbst gebaute Fastenkrippe, die ich zuvor im Hausgang bewundern durfte. Sichtlich stolz lächeln die beiden am Ende der Vorführung.

„Eigentlich wäre ich ja gerne Pfarrer geworden“, erinnert sich Oswald Strasser, „aber mein Vater ist schon früh gestorben und so mussten wir zu Hause arbeiten.“ Schließlich kam Oswald zur Lehre nach Sillian in einen kleinen Installateurbetrieb, dem er bis zu seiner Pensionierung treu blieb. Und dabei wäre Kartitsch der ideale Boden für eine Priesterkarriere gewesen: „Vor gar nicht langer Zeit hat es noch sechzehn aktive Pfarrer aus Kartitsch gegeben, und das bei tausend Einwohnern!“ Und dann zeigt mir seine Frau Fotos vom Priesterjubiläum, das drei Pfarrer vor ein paar Jahren gemeinsam in Kartitsch gefeiert haben. Oswald Strasser hat zu diesem Anlass überdimensionale Porträts der drei aus Sperrholz und Seidenpapier gefertigt und von hinten beleuchtet in seinem Garten aufgestellt. Für die Hauskapelle gibt es eine einfache Erklärung: „Der Hausaltar im Keller ist ein Erbstück und der Betstuhl ist nach einer Kapellenrenovierung in Sillian nicht mehr gebraucht worden.“ Er sei eben immer schon ein Sammler und Bastler gewesen, fügt Oswald mit leuchtenden Augen hinzu. Dann klingelt es und die Krippenfreunde stehen vor der Tür. Mit einem vollkommen unneurotischen Händedruck bedanke ich mich für den Kaffee und mache mich wieder auf die Suche.

Dreizehnte Station

Corvara („die Rabenhafte“) liegt bereits hinter mir. Igor ist mir nicht begegnet. Er sei gerade mit seiner Mutter in Bruneck, man wisse nicht, wann er zurückkomme, hat man mir bei einem Cappuccino im Hotel Diamant erklärt. So bin ich jetzt auf dem Weg in das kleine Bergdorf Welschellen, wo ich Giuseppe Crafonara treffen will, einen religiösen Schwärmer, wie man mir glaubhaft versichert hat.

Eine alte Frau mit Kopftuch steht am Wegrand, verwundert ob des fremden Fahrzeugs, ein Mann mit sonnengegerbtem Gesicht und einer monströsen Axt über der Schulter erklärt mir freundlicher als vermutet den Weg zum „Giuseppe de Joche“, wie man ihn hier nennt. Die enge Asphaltstraße wird zu einem schlecht befestigten Pfad mit Schlaglöchern, ehe man zu zwei allein stehenden Gebäuden gelangt, einem Einfamilienhaus und einem alten Hof. Ein Schwarm Hühner stiebt auseinander. Giuseppes Frau Sarah öffnet mir die Tür.

Eine Viertelstunde später sitzen wir am Stubentisch, Giuseppe, vielleicht fünfundvierzigjährig, im Wollpullover, noch etwas zerknautscht. Er leide ab und zu an Migräne und habe sich eben ein wenig hingelegt, erklärt er mit ruhiger Stimme und streicht sich dabei die Haare glatt. Und dann findet in der dunklen Stube eine zögerliche Unterhaltung statt, mit vielen Nachdenkpausen und stillen Momenten. Giuseppe erzählt, wie er seine Frau kennen gelernt hat, von der Situation am Hof, den fünf Kindern, der Bedeutung von Glauben und Religion. „Irgendwann bin ich an den Punkt gekommen, dass ich Sarah sagen musste, dass nicht mehr sie das Wichtigste in meinem Leben ist, sondern Jesus.“ Sein Blick wandert über den Tisch zu seiner Frau, die erwidert ihn mit einem traurigen Lächeln. Auf meine Frage, wie sie damit umgehe, schweigt Sarah einen Moment. Am Anfang sei es schwer gewesen, sie habe sich nicht ausgekannt, sie habe ihn, ihren Mann, nicht mehr wiedererkannt. Inzwischen habe sie jedoch begriffen, dass es auf die Freiheit des einzelnen ankomme. Und dann ist es wieder gespenstisch still im Raum, nur die beiden sehen einander in die Augen.

Vierzehnte Station

Und so habe ich mich auf den Weg gemacht. Ich sitze wieder am Küchentisch, dieses Mal allein. Ein Gedanke von Pater Resch kommt mir in den Sinn. Er meinte, unser Leben sei geprägt von zwei gegensätzlichen Kräften: von der Sehnsucht nach Freiheit und größtmöglicher Individualität einerseits und dem Verlangen nach Sich-Auflösen und Geborgenheit andererseits. Der Unabhängigste sei auch der Einsamste. Demnach müsse Gott sehr einsam sein, gab ich zu bedenken. „Ja“, meinte er darauf, „wenn er nicht Gott wäre, schon.“

 

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