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Die Fünf vom Brunnenplatz

Warum heißt hier niemand so, wie er wirklich heißt? Von Ulrich Ladurner

An einem Sonntagvormittag kam F. in das Kaffee Brunnenplatz. Er stellte sich an die Theke. Die Gäste, die an einem Ecktisch saßen, betrachteten ihn aufmerksam. Sie grüßten ihn mit einem knappen Nicken. Er grüßte zurück. Man kannte sich. F. wandte sich der Kellnerin zu. Bevor er bestellte, machte er eine Pause, drehte sich noch einmal zu den Männern um. Sie schwiegen. Ein gespannter Ausdruck lag auf ihren Gesichtern.
„Jaa …“, sagte F. zur Kellnerin, „Was soll ich jetzt wohl bestellen?!“
„Das weiß ich nicht … vielleicht ein Glas Roten?!“
F. wiegte den Kopf hin und her. Dann sagte er: „Nein. Gib mir eine Spuma!“
Er hatte einen triumphalen Ton angeschlagen, als hätte er einen Sieg errungen.
„Spumele! Spumele!“, kam es laut aus der Ecke. Die Männer lachten. F. hob das Glas und trank.

Seit diesem Sonntag nannten die Männer F. einfach „Spumele“. Den Namen hat er nie mehr losbekommen. Der Spumele ist gestorben, hieß es, als die Nachricht von seinem Tod sich unter den Männern verbreitete. Wie er wirklich hieß, daran konnte sich schon kaum einer mehr erinnern.
„Der Spumele?“
„Ja, du weißt schon, der war so reich, dass er die halbe Stadt hätte kaufen können. Und dann trank er immer nur eine Spuma. Niemals Wein, niemals Bier, niemals einen Schnaps. Immer nur eine Spuma, eine einzige Spuma!“
So war das. F. war reich und geizig, was sich an seiner bescheidenen Trinkgewohnheit (eine Spuma, das billigste Getränk, das zu haben ist, Anm. d.A.) an Sonntagen im Kaffee Brunnenplatz ausdrückte. Er hatte freilich immer geleugnet, dass er Geld besaß wie Heu. Aber die Männer schüttelten nur den Kopf. Sie wussten es besser. Selbst, wenn er ihnen sein Bankkonto offen gelegt hätte, sie hätten ihm nicht geglaubt. Die Wahrheit interessierte nicht. Wichtiger war, was behauptet wurde. Die Männer behielten Recht. F. war reich, nur weil sie es so sagten. Sie hatten die Macht, es zu bestimmen.

Wie kommt es nun, dass eine Hand voll Männer etwas durchsetzen kann, das den Tatsachen nicht entspricht? Wie kann es sein, dass einer als reich gilt, ohne es wirklich zu sein, oder ein anderer als dumm, wenn er doch intelligent ist, oder als faul, schlau, gerissen, böse, gutmütig und was man sonst noch dem Menschen für Eigenschaften zuschreiben kann, ohne dass all dies zutreffend wäre? Wie ist es möglich, dass sich diese Zuschreibungen gegen die Realität behaupten können? Warum heißt in dieser Geschichte keiner, wie er wirklich heißt? Und warum riskiert jeder, der noch unter seinem richtigen Namen bekannt ist, bald schon einen neuen verpasst zu bekommen?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man sich zuerst einmal des Ortes vergewissern, an dem dies stattfindet.

Der Brunnenplatz liegt in Obermais, einem Stadtteil von Meran. Wer Schlösser und Burgen mag, der wird den Platz schön nennen. Denn in seiner unmittelbaren Umgebung befinden sich vier prächtige Schlösser, weitere zwei sind vom Brunnenplatz aus zu sehen, oben auf dem Berghang, der die meiste Zeit des Jahres sonnenüberflutet ist und daher von den Touristen geliebt wird. Dort oben liegt Schenna, bis vor vierzig Jahren noch ein armes Dorf, das heute blüht und gedeiht wie kaum ein anderes. Hotels, Pensionen, Garnis überall. Es heißt, dass es kein einziges Haus mehr gibt, das nicht Zimmer anzubieten hätte. Schenna ist gespickt mit Balkonen, über deren Rand die Geranien quellen, als müssten sich die Häuser selbst, erstickend an der eigenen Pracht und Fülle, dauernd übergeben.

Trotzdem, Schenna ist Land geblieben, ein Dorf, bevölkert von Gscherten. Diesen Ausdruck jedenfalls benutzen viele Meraner, wenn sie von den Bewohnern Schennas reden. Worin dieses Gschertsein besteht, kann kein Städter genau definieren, aber es hat was mit der Art des Sprechens und sich Bewegens zu tun. Beides ist beim Gscherten schwerfälliger als beim Städter, der sich selbst freilich als verfeinert empfindet. Am Gscherten ist irgendwie alles zu breit, zu laut, zu groß. Die Worte, die Schritte, die Gesten, die Blicke. Der Gscherte ist unverschämt raumgreifend, während der Städter alles mit wohlbedachtem Maß zu setzen weiß.

Der Brunnenplatz selbst war einmal Dorf gewesen, das Herz von Obermais. Die Städter allerdings rücken dem Platz schon seit mehr als einem Jahrhundert auf den Leib. Kaum dass sich einige unter ihnen Luxus leisten konnten, wurde Obermais zum Objekt ihrer Sehnsüchte. Der Brunnenplatz fand sich bald eingeschnürt von den Begehrlichkeiten der Vermögenden. Villa folgte auf Villa.

1923 wurde Obermais eingemeindet. Heute leben hier die Reichsten der Reichen aus Meran. Sie genießen die beste Luft des Luftkurortes Meran, die schönste Aussicht auf den Talkessel von Meran und auf die drei Täler, die auf Meran zulaufen, das Vinschgau, das Passeier- und das Etschtal. Obermais ist ein wahrlich herrschaftlicher Sitz. Hier haben sich die Menschen niedergelassen, die vom Dorf die Ruhe schätzen, nicht aber die Dorfbewohner. Menschen, die zwar dörfliche Stille lieben, nicht aber den Lärm eines Wiesenfestes. Menschen also, welche die Gscherten gerne als Stadtler bezeichnen. Ein abschätzige Bezeichnung auch dies. Sie soll eingebildetes Stolzieren durch die Welt bedeuten, ahnungslose Arroganz, die vergessen macht, dass man sich die Hände buchstäblich dreckig machen muss, um ein halbwegs anständiges Leben führen zu können. Der Stadtler ist in den Augen des Gscherten im besten Fall ein harmloser Luftmensch, im Schlimmeren ein Ausbeuter, der von anderer Menschen Arbeit reich wird.

Auf dem Brunnenplatz prallen die Gegensätze aufeinander, oder besser: sie fließen ineinander, ohne sich wirklich zu vermischen. Denn es ist nicht so, dass die Menschen sich hier laut stritten, dass sie sich mit kaum verhohlener Verachtung begegneten und sich die jeweiligen Vorurteile entgegenschleuderten. Sie versuchen auch nicht, zu überzeugen. Sie leben nebeneinander her. Gscherte und Stadtler, die Worte liegen wie schwere Steine in den Taschen. Niemals werden sie geworfen. Der Brunnenplatz ist deshalb kein Platz im mediterranen Sinne, kein Ort des Austausches, kein Hort der Demokratie, in der nach Herzenslust gestritten wird, um ein besseres Leben zu erreichen. Und doch findet im Verborgenen ein hartnäckiges, dumpfes Ringen um die Vormacht statt. Es geht um Lebensstile und Weltanschauungen. Wer setzt sich am Brunnenplatz durch? Die Stadt oder das Land? Oder ist es am Ende etwas Drittes, für das noch kein Name gefunden ist?

Die Auseinandersetzung findet im Wesentlichen an drei Schauplätzen statt. Das Kaffee Brunnenplatz, der Gasthof Kirchsteiger und die Bar, die keinen Namen hat, aber die alle nur „Luis“ nennen, weil sie dem Luis gehört. Es handelt sich bei ihm um einen bebrillten Mann mittleren Alters, der meist guter Laune ist, manchmal aber einen derart dichten Unwillen verströmt, dass selbst die Gäste, die nur schnell einen Caffè Macchiato trinken wollen, die Bar aus Atemnot schnell wieder verlassen müssen.

Ob von Osten oder Westen, ein Glasl beim Luis schmeckt immer noch am besten

Dieser Spruch hängt neben der Eingangstür. Es ist eines der wenigen Zeichen, das einen Stadtler dazu verleiten würde, dem „Luis seine Bar“ den Gscherten zuzuschlagen. Ansonsten ist alles beim Luis modern, die Einrichtung, die Kaffeemaschine, die Beleuchtung. Der Cappuccino, den er serviert, ist so vollendet in Geschmack und Aussehen, dass er mühelos mit jedem römischen Caffè konkurrieren kann. Der Luis ist über die Zeitungen, die er zum Verkauf anbietet, mit der Welt verbunden. Er hat fast alle Publikationen, und was er nicht hat, das kann er auf Bestellung besorgen. Einem in der Nähe wohnenden Journalist zum Beispiel besorgt der Luis täglich die International Herald Tribune. Manchmal wird auf den wenigen Tischen im hinteren Teil der Bar über Weltpolitik diskutiert. Dann wird US-Präsident George W. Bush durchaus kompetent gerupft, der Russe Putin kriegt sein wohlverdientes Fett ab und der Namen Osama bin Laden fällt hier auch, und nicht nur als Schimpfwort. Mühelos werden die Parallelen geschlagen, von den Erfahrungen vor Ort und dem Lauf der Geschichte irgendwo im hintersten Winkel des Erdballs. Bush, Putin, Osama, sie alle finden beim Luis kurzfristig eine Heimstatt. Die Leute kennen sich eben aus, bei sich zu Hause und in der Welt.

Nein, der Luis ist eindeutig Stadt, allerdings gibt es im Laufe des Tages Ausnahmen. In den mittleren Morgenstunden und am frühen Nachmittag übernimmt der Gscherte die Herrschaft beim Luis. Er bleibt etwas länger als der Stadtler, der zumeist schnell einen Kaffee trinkt, oder gar nur die Zeitungen oder Zigaretten kauft. Der Gscherte, sagt der Stadtler abschätzig, braucht eben bei allem, was er tut, mehr Zeit, weil er nun einmal langsam ist und schwer von Begriff. Aber das ist nur die Rache dafür, dass er sich
beim Luis breit macht.
Der Luis liegt von allen drei Lokalen am verkehrsgünstigsten. Vier Straßen laufen nahezu direkt auf ihn zu, drei aus Meran und eine aus Schenna. Wer an der Bushaltestelle wartet, der sieht die Bar vom Luis, wer zur Sparkasse am Brunnenplatz geht, der läuft am Luis vorbei – und fällt hinein, auf einen Kaffee, ein Glas Roten, ein Bier.

Das Kaffee Brunnenplatz und der Kirchsteiger sind in dieser Hinsicht benachteiligt. Man sieht sie nicht auf den ersten Blick und sie haben auch keine Zeitungen im Angebot mit deren bunten Erscheinung sie in den Fensterauslagen um Aufmerksamkeit werben könnten. Die beiden sind älter, ehrwürdiger als der Luis. Der Kirchsteiger trägt die Züge eines Landgasthofes. Das Mobiliar ist schwer und dunkel, den ganzen Tag über brennt Licht, dass man denken könnte, draußen herrsche immerzu kalter Winter oder es gehe ein Feind umher, vor dem man sich verbergen müsse. Der Kirchsteiger hat sich mit der Zeit in eine Pizzeria verwandelt und durch die Qualität seiner Pizza einen guten Ruf erlangt. Die Gäste kommen spät abends und sie bleiben lang. Da ist mitunter viel los beim Kirchsteiger, nachts. Aber nachts zählt nicht, den nachts ist kein Leben am Brunnenplatz, die paar vorbeibrausenden Autos ausgenommen. Beim Kirchsteiger kann man tagsüber Sprüche hören wie:
„Da kam einer in die Bar und sagte: ‚Schade, ich habe den Sack voll Geld, aber keinen Durst!‘“
Es folgt schallendes Gelächter – und der nächste Spruch.

So etwas hört man beim Luis nicht, und im Kaffee Brunnenplatz ist es ebenfalls eher die Ausnahme. Dieses Lokal liegt zwischen der den Zeitungen geschuldeten Mondänität des Luis und der saftigen Erdverbundenheit des Kirchsteiger. Es ist von allem ein bisschen. Pensionierte und aktive Politiker kommen zu Besuch und drücken ihm den Stempel der Wichtigkeit auf, eine in Schönheit gealterte Dame, Tochter eines k. u. k. Offiziers, umweht ein Hauch der verflossenen Monarchie, der Ladenbesitzer von nebenan sorgt mit seiner Anwesenheit für eine gewisse Verankerung des Kaffees in den ökonomischen Realitäten. Politik, Ökonomie, Kultur – das Kaffee Brunnenplatz hat ein wenig von allem. Während der Luis den Stadtlern zuneigt, der Kirchsteiger den Gscherten, befindet sich das Kaffee Brunnenplatz in einem unsicheren Schwebezustand. Das Kaffee Brunnenplatz ist ein Zwitter. Er trägt die Hauptlast des Kampfes zwischen Stadtlern und Gscherten.

Das ist auch der Grund, warum gerade hier die Protagonisten dieser Geschichte mit Vorliebe sitzen. Die Männer, die eifrig Spitznamen verteilen und allen, derer sie mit ihren Augen und ihrer Phantasie habhaft werden können, ein imaginäres Schild an die Brust heften. „Spumele!“, das ist ihre Erfindung.
Am produktivsten sind diese Männer an Sonntagen, so gegen Mittag, wenn sie vom Kirchgang kommen und vor dem Nachhausegehen sich noch einmal zusammensetzen. Die Schuldigkeit gegenüber Gott ist getan, das Diesseits darf wieder genossen werden. Die Geschichten fliegen zwischen ihnen hin und her. Ein Schnattern ist zu hören, ein Tuscheln und Murmeln, immer wieder von dröhnendem Gelächter unterbrochen. Die Männer sind meist zu fünft.

Auf der Topographie des Brunnenplatzes sind sie eindeutig den Gscherten zuzuordnen. Das erkennt man daran, dass sie nach wie vor auf die eine oder andere Weise der Erde verhaftet sind. Entweder sind sie noch Bauern oder sie haben irgendetwas mit den Erzeugnissen dieser Erde zu tun, als Holzhändler zum Beispiel. Die Gesichter erinnern Touristen mit Gewissheit an den knackigen Luis Trenker, der Stadtler allerdings denkt nur an den von ihm mit stiller Inbrunst verachteten Gscherten.
Sonntags errichten sie an einem Ecktisch ihr kleines Reich. Sie werfen ihre Netze aus und ziehen immer irgendjemand an Land, den sie nach ihrer Lust und Laune benennen. Einen Spumele finden sie immer.
Warum sie das tun?

Darauf haben sie keine Antwort. Es ist einfach so, es war immer schon so. Sie selbst sind doch die ersten Opfer dieser Namensgebung. Keiner von ihnen ist nämlich unter seinem wirklichen Namen bekannt. Es lohnt sich, sie der Reihe nach durchzugehen, damit man ihr Geheimnis ein wenig lüften kann.

Der Hammer, hat sich diesen Namen verdient, weil er immer auf alle einschlägt und alles besser weiß. Er ist auch bekannt dafür, dass er innerhalb kürzester Zeit über jeden beliebigen Menschen der Umgebung alles Interessante in Erfahrung bringen kann. Freilich dient das Erfahrene nur dazu, den Betroffenen fertig zu machen. Der Hammer ist eine Art lokaler KGB mit eingebauten, automatisierten Fallen für jedermann. Keiner hat bei ihm eine Chance. Die anderen machen sich ein Vergnügen daraus, Zeugen dieser verbalen Vernichtungsfeldzüge zu sein. Dem Hammer fehlt jede Sentimentalität, durch sein grausames Urteil erscheinen die Menschen bar jeden edlen Gefühls, getrieben nur von niedrigen Instinkten. Der Hammer schlägt so lange zu, bis diese bittere Wahrheit sichtbar wird.

Tata, bedeutet so viel wie Vater. Der Tata ist ein lediger Bauer. Er hat nie eine passende Frau gefunden. Er heißt so, weil er das, was er einer Familie nicht geben konnte, seiner Umgebung gegeben hat. In seiner Jugend war er ein Feuerwehrhauptmann – immer da, wenn es brannte. Ein Musterbeispiel gesellschaftlichen Engagements. Zu Weihnachten lädt der Tata Leute zu sich ein. Er ist nicht gerne allein am Heiligen Abend. Er baut sich eine Familie zusammen, für ein paar Stunden jedenfalls. Er kümmert sich väterlich um seine Gäste und er kümmert sich um sich selbst. „Das Essen schmeckt dem Tata!“, sagen Freunde. Der Speck vor allem und natürlich der Wein.

Der Sack, hat diesen Namen bekommen, weil er irgendwann vor langer Zeit gerne Pluderhosen trug. Das fiel natürlich auf. „Sack!“, sagte einer, und seitdem heißt er Sack. Vielleicht hat er sich diesen Namen auch verdient, weil er in seiner Jugend in der Schweiz gearbeitet hat. Die Schweiz gilt selbst unter diesen Männern als besonders gschert. Sack, das ist ein grobes Wort, auch unter den Groben des Kaffee Brunnenplatz.

Nachdem er in der Schweiz genügend Geld verdient hatte, eröffnete er unten in der Stadt einen Obststand. Sein Obst war teuer wie kein anderes. Eifrig polierte er jeden Morgen die Äpfel und Birnen, bis sie glänzten wie Spiegel. Von den geblendeten Touristen erhielt er gutes Geld. Das verschwand sehr schnell in seinem Sack, den er nur selten, und wenn, nur zum eigenen Vergnügen aufmachte. Wahrscheinlich hat er sich auch deshalb den Namen Sack wie eine Krankheit zugezogen.

Der Lumpi, hat Verwandtschaft mit dem Spumele. Er besitzt nämlich nachweislich den größten Hof in Obermais. Fünfzehn Hektar Äpfel. Geld hatte er immer. Schon in den dreißiger Jahren hatte er eine bemerkenswerte Erbschaft gemacht. Dabei ist er sparsam und gibt selten einen aus, auch nicht seinen Freunden im Kaffee Brunnenplatz. Der Lumpi ist tiefreligiös und pilgert zwei Mal im Jahr nach Süditalien zu dem Heiligen Padre Pio. Wenn ihn die Wut packt, das passiert manchmal, dann schimpft er auf die Freimaurer, die seiner Meinung nach an allen Missständen schuld sind. Bei allem Glück des Geldes und Besitzes hat er jedoch ein Problem. Er hat fünf Töchter und er weiß nicht, wem er einmal seinen Hof vererben soll. Nur eine der Töchter ist verheiratet. Mit einem Chauffeur! Soll der etwa seinen Hof übernehmen?! Kann gut sein, dass er sich deshalb wirklich als Lumpi fühlen wird, wenn er ins Grab steigen muss – als einen, dem nichts mehr bleibt als seine Lumpen, weil er seinen Hof nicht in gute Hände geben konnte.

Der Kuckuck, hat seinen Namen verpasst bekommen, als alle besoffen waren. Irgendwo in Lazag, einem Viertel, das zu Meran gehört aber schon an Schenna grenzt, haben sie gefeiert. Das liegt sehr lange zurück. Als sie wieder bei sich waren, hieß er für alle Kuckuck. Wie? Warum? Das weiß keiner mehr. Kann sein, dass er in seinem Rausch den Kuckuck nachgeahmt hat, kann sein, dass er eine Geschichte erzählt hat, die mit einem Kuckuck zu tun hatte, vielleicht hat ihm jemand ein Kuckucksei gelegt. Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, das ist alles, was blieb von jener Nacht. Diese im Alkoholnebel halb versunkene Episode reichte, um ihn fürs Leben zu markieren.

Das also sind die Hauptdarsteller dieser Geschichte. Ein scheinbar harmloses Rudel alter Männer. Denn sie stellen eine Art öffentliche Meinung her, die jenseits oder unterhalb der allgemein bekannten besteht. Sie haben die Kraft, Neues zu erfinden. Sie sind Schöpfer und Schöpfungen zugleich.
Das Kaffee Brunnenplatz ist ihr bevorzugter Versammlungsort. Nur hier trifft man sie alle gleichzeitig an, sonntags. Dann sichten und besprechen sie die Informationen, die sie gesammelt haben. An Wochentagen nämlich streifen sie wie emsige Jäger auf dem Brunnenplatz umher. Sie wandern, einzeln, vom Kirchsteiger zum Luis, vom Kaffee Brunnenplatz zum Kirchsteiger, vom Luis zum Kirchsteiger. Sie spitzen ihre Ohren und halten die Augen offen. Nichts entgeht ihnen. Sie sind so penibel in ihrer Beobachtung, dass man meinen könnte, sie erfüllten eine Pflicht. Und vielleicht ist es ja genau das. Sie haben eine Aufgabe: Sie sind die Protokollanten des Alltages auf den Brunnenplatz. Natürlich halten sie sich nicht an die Regel, dass man das Forschungsobjekt sine ira et studio zu betrachten hat.
Wie sollten sie auch?
Das hat ihnen niemand beigebracht.
Warum müssten sie auch?
Sie gehören zur Partei der Gscherten. Sie müssen sich nicht zurückhalten.
Selbst wenn sie diese Zuordnung vehement ablehnten. Sie hätten keine Chance auszubrechen. Die Stadtler sorgen schon dafür, dass es für die Männer aus ihrem Gschertsein kein Entkommen gibt. Ohne den Gscherten gibt es keinen Stadtler. Ohne den Derben als Gegenstück kann der Zivilisierte nicht sein. Dieses existenzbegründende Vorurteil hält alle in seinem eisernen Griff fest.

Nachdem die Männer ihr Material aufgenommen und protokolliert haben, beginnt ihr eigentliches Werk, das sie im Kaffee Brunnenplatz zur Vollendung führen. Sie reduzieren die gehörten Geschichten und Geschichtchen, die Gerüchte und das Gerede auf einen einfachen Begriff. Sie produzieren Schlagworte, Schlagzeilen für eine Zeitung, die nie erscheinen wird und nur in ihren Köpfen existiert: Das Brunnenplatzer Alltagsblatt.
Die Zeitung lesen können nur diese Männer. Sie haben den Schlüssel zu den Geschichten in der Hand. Sie sind die Wächter eines Schatzes, der allerdings unbeachtet bleibt. Das wissen sie durchaus. Die Gscherten sind nämlich zum Aussterben verdammt. Natürlich dürfen sie noch vorkommen als Ornament für den Brunnenplatz. Auf die Touristen wirkt es herzerfrischend, wenn einer dieser Männer, schweren Schrittes und in blaue Schürze geworfen, an ihnen vorbeitrottet. Die Gäste warten auf den Bus, der sie in die Berge bringen wird, wo sie noch mehr Exemplare solch scharfwürziger Menschen zu sehen hoffen. Der Anblick auf dem Brunnenplatz bereitet ihnen deshalb Vorfreude.

Die Männer wehren sich auf ihre Weise. Sie bestehen auf ihrem Gschertsein mit grimmiger Entschlossenheit. Sie tun es, indem sie in ihren Worten „mitschreiben“, während draußen die offizielle Geschichte des Landes, der Stadt, des Viertels, sich entfaltet. Sie bringen alles Schwierige, Unerklärliche und Verwirrende mit ihrer unbeholfenen Feder auf einen einfachen Begriff. Sie wehren sich gegen die Realität, weil diese zu komplex ist; sie wehren sich, weil für sie keine Rolle mehr vorgesehen ist, außer die eines folkloristischen Kurzauftritts in einer Welt, die nur mehr modern, nur mehr Stadt sein will.

Der Kampf ist schon entschieden. Der Stadtler wird am Brunnenplatz den Sieg davontragen. Jeden Sonntag werfen sich die Männer im Kaffee Brunnenplatz gemeinsam mit all ihrem Gewicht in die Waagschale. Immer wieder aufs Neue. Sie beanspruchen ihren Platz, ihr Recht auf eine Existenz, ihren Anspruch, eine Geschichte zu haben, gelebt zu haben. Sie stemmen sich gegen die Wirklichkeit.
Es gelingt ihnen noch, sie umzubenennen. Aber es wird nicht viel helfen. Der Gscherte wird bald nur mehr ein herumirrendes Gespenst sein, das keiner mehr erkennt.
Spumele, Hammer, Tata, Sack, Lumpi, Kuckuck – das werden nur mehr Begriffe ohne Bedeutung sein. Geräusche. Keiner wird sie mehr verstehen. Bevor die Männer für immer verstummen, nehmen sie noch ausgiebig Rache an der unerbittlichen Gegenwart. Die Spitznamen lauern schon in ihren Köpfen. Mit jedem Tag, an dem der Tod sich nähert, werden sie spitzer. Es gibt keine Ruhe, bis zum Ende nicht.

In einer fernen Zukunft wird vielleicht ein Archäologe diese Worte irgendwo aufgeschrieben finden, in einem Tagebuch, auf einer Karte oder einer Mitteilung. Es wird ihm obliegen, die Welt dieser Männer zu entziffern. Mit etwas Glück und Vorstellungsvermögen wird er den Ecktisch im Kaffee Brunnenplatz wiederauferstehen lassen, die derben Männer mit ihren Bosheiten, ihren Indiskretionen und ihrem Erfindungsgeist. F. wird hereinkommen. Er wird sich eine Spuma bestellen. „Spumele! Spumele!“ wird es aus der Ecke kommen. Und sie werden noch mal laut lachen, auf dass alle es hören.

 

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