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Fragezeichen

Doppelte künstlerische Kraft, äußere Form und innere Vielfalt und: Was ist ein Otaku? Hans Platzgumer, profilierter Vertreter der aktuellen elektronischen Musikszene, über Walter Obholzers Arbeiten.

Diese Ausgabe von „Quart“ beginnt im Interrogativ und endet im Imperativ: Auf der Titelseite – gestaltet von Walter Obholzer – bilden farbige Ringe in scheinbar zufälliger Anordnung die schnell erkennbare, symbolkräftige Form eines bunten Fragezeichens auf weißem Hintergrund. Für die Rückseite lassen die verschieden gefärbten, transparenten oder deckenden Kreise seiner „Blood Streaming“-Serie auf schwarzem Hintergrund ein Rufezeichen entstehen, welches jenen Erfahrungsprozess beschließt, den jedes Öffnen einer Kulturzeitschrift im besten Falle auszulösen vermag.

Das Titelsymbol des Fragezeichens kann hier, für jeden Betrachter individuell verschieden, eine ganze Kette sich eröffnender Fragen aufwerfen. Für Walter Obholzer, den in Tirol aufgewachsenen und in Wien lebenden Künstler und Professor für Abstraktion an der Akademie der Bildenden Künste, trägt es vorerst nur seinen ursprünglichen Charakter der Fragestellung. Es verkörpert rein den Wissensdurst und die Neugier, die ein Leser bekundet, indem er dieses Heft in die Hand nimmt, aufschlägt, betrachtet, liest (oder wenigstens durchblättert) bis er am Ende das in seiner ganzen banalen Pracht so überzeugende ‚Aha‘-Symbol des Ausrufezeichens erreicht.
Und genau auf diesen Weg von purer Neugier zu unterschiedlicher persönlicher Erkenntnis (denn laut Obholzers im Gespräch mit Hans-Ulrich Obrist 1992 gewonnener Überzeugung können Bilder nur so klug sein wie der, der sie betrachtet) wird der Leser über Walter Obholzers Arbeiten geschickt. Denn sein anfänglich so klar und einfach erscheinendes Werk schafft es, den Interessierten schnell in einen Sog des Hinterfragens und der Vertiefung in die elementaren Prinzipien der zeitgenössischen Kunst hineinzuziehen. Bei näherer Betrachtung verlieren diese Werke – ähnlich wie sich die Gestalt des Fragezeichens auf der Titelseite erst auf den zweiten Blick eröffnet – sogleich ihre verführerische, optische Leichtigkeit, ihre Verspieltheit und scheinbare Oberflächlichkeit und stehen als Frage und Antwort zugleich: über die ganze Kraft, über Sinn und Zweck der Kunst im Allgemeinen. Die großartigen Möglichkeiten und erkennbaren Grenzen der abstrakten Kunst werden diesem „Quart“ sozusagen bereits auf den Umschlag gebunden und über die im Heftinneren abgedruckten Arbeiten Obholzers weiter elaboriert.

Denn genügt sich das Fragezeichen bereits in dieser seiner ästethisch clever gelösten Form? Reicht allein schon sein ansprechendes Design, weder irritierend oder verstörend noch belanglos oder lieblich, weder sachlich trocken noch kitschig überladen? Hat es nur durch seine gestalterische Kraft, durch seine ästethische
Wirkung schon genügend Daseinsberechtigung?

Besonders bei einem Künstler, der (entgegen seiner eigenen Definition) beständig der Ornamentik zugeordnet wird, stellt sich diese Frage nach der Mehrdimensionalität der Kunst.
Neben dem unschuldigen Dienst der Verschönerung kann das Ornament über plakative Symbolik hinaus als Ausschmückung, als Rand und Begleiter monumentaler Kunst oder Architektur seine dekorative Bedeutung längst umgehen, wenn es als Mittel der Gliederung, der Abgrenzung und Betonung verstanden wird und somit dem Transport neuer Inhalte dient. Es erhält eine immense Aufgabe, indem es Einheiten bildet, Trennlinien zieht und dadurch Konzentration schafft in einer diffusen, vielschichtigen Umgebung.

Und hat das Ornament diese verdiente Wichtigkeit (zurück)erlangt, so wird es – wie die Kunst an sich – in seiner primären Funktion nicht mehr in Ruhe gelassen. Nicht länger darf es in seiner angebrachten Freiheit gedeihen und rein dem Auge und den Sinnen seiner Betrachter dienen, es wird benutzt, interpretiert, missbraucht und zerredet. Kunst muss politisch sein, auch wenn sie es nicht will, so scheint es fast. Nicht mehr rein ob ihres künstlerischen Gehalts wird sie wertgeschätzt, sondern primär nach theoretischen Inhalten und Konzepten durchsucht und abschließend beurteilt. Die allgegenwärtige politische Kraft der Kunst gönnt ihr selbst keine Verschnaufpause mehr und zwängt sie in ein Korsett der Theorie und Interpretation, in einen Überbau aus Fachwissenund erzwungener Bedeutsamkeit.

Dieser Frage nach dem grundlegenden Sinn und nach der Freiheit der Kunst stellt und entzieht sich Walter Obholzer auf geschmeidige Weise, indem er dekorative Kunst erschafft, die rein optisch ergreift und auch in zweiter Instanz politisch und theoretisch fundierte Fragen stellt, ohne Antworten vorzugeben, ohne Lösungen parat haben zu müssen. Obholzers Fragezeichen bedient den emotionalen und kognitiven Bereich gleichermaßen und löst einen Denkprozess aus für die Menschen, die sich damit auseinandersetzen wollen. In keinem Fall erzwingt Obholzers Arbeit diese Reflexion; sie genügt sich schon auf der äußersten,
dünnschichtigen Ebene, einfach und erstaunlich anziehend.

Noch deutlicher als bei den Interpunktionszeichen, die dieses Heft wie eine wohlwollende, ja schützende Hand umschließen, wird Obholzers doppelte künstlerische Kraft in seiner im Heftinneren gezeigten „Otaku“-Reihe (S. 44/ 45), die sich auf ein streng geometrisch durchdachtes, am Computer verwirklichtes Design-Prinzip stützt. Die Maße seiner „Otaku“- Rechtecke bestimmen sämtliche Winkel und Proportionen ihrer inneren Bestandteile. Das dabei entstehende Muster kann an nahezu jegliche äußere Vorgabe angepasst werden, ohne seinen distinktiven Charakter zu verlieren. Sogar in willkürlich entnommenen Detailaufnahmen bewahren die (errechneten) „Otaku“-Werke noch ihre charakteristische Aussagekraft.

Über diese von traditioneller Ornamentik inspirierte Technik verbindet Walter Obholzer nun Elemente seines Wissens über Kunstgeschichte mit Paradigmen unserer heutigen Gesellschaft, indem er die Arbeit über ihren Titel auf eine sozialkritische Ebene holt. „Otaku“ (japanisch für „Zuhause“ bzw. „Eigenheim“) bezeichnet jenes Mitte der 1990er Jahre von japanischen Medien beschriebene Gesellschaftsphänomen der nahezu autistisch anmutenden, fanatischen Absonderung japanischer Jugendlicher, die sich durch völliges Spezialisieren auf ein einziges Interessengebiet in eine, der Außenwelt immer unverständlichere, selbstgeschaffene Sphäre zurückziehen und ihr gesamtes Leben von dieser einmal gewählten Dimension bestimmen lassen. Mit Beginn des Internetzeitalters haben solche ‚klassischen‘ Otakus (wie Heavy Metal- oder Hardcore-Manga-Fanatiker) über das WWW wieder Zugang zu einer gewissen Außenwelt bekommen und werden inzwischen „Hikikomoris“ („Zurückgezogene“, „Eingesperrte“) genannt.

„Otaku“ (als Ausdruck in den offiziellen japanischen Wortschatz eingegangen) spannt also einen Bogen zum Interrogativ der Titelseite, zur Frage der politischen Verantwortung elitär gewordener Kunst. Denn im immer abgeschirmteren, selbstgesponnenen Netz der nach außen immer transportunfähigeren eigenen Wichtigkeit wird eine gegenseitige Befruchtung mit dem Fremden immer unwahrscheinlicher und der überlebensnotwendige Dialog mit Andersartigkeiten bleibt notgedrungen auf der Strecke. Der sich völlig isolierende Otaku kann – ähnlich dem religiösen Fanatiker oder klassisch abgehobenen Chauvinisten, ähnlich einer, in nur mehr eigenen, elitären Zirkeln verstandenen Kunst – keine Kommunikation mit seiner Umwelt mehr aufbauen und muss sich im Endeffekt in sich selbst verlieren (eine Entwicklung, die durchaus höchst interessante Extreme erreichen kann).

Obholzers Interrogativ ist somit als grundlegender Beitrag zur Frage, ob Kunst als Ausdruck einer politischen Kritik überhaupt geeignet ist, sofern sie durch ihre intellektuelle Limitation die Grenzen ihrer ohnehin schon gleichgesinnten Betrachterschaft nicht überschreiten kann – eine Frage, die sich besonders bei den Wandmalereien stellt, welche durch ihre Anlehnung an martialische Symbolik eine aktuelle Kritik an politischen Tendenzen übten. Wenn Kunst nur so klug wie ihr Betrachter sein kann, dann bleibt die Überlegung, welche Wirkung sie überhaupt zu erzielen im Stande ist.

Obholzers Arbeiten beantworten diese Polemik indem sie, ähnlich beharrend und konsequent wie ihr politischer Gegner, nicht aufgeben, sich durch ihre offensichtlich abgesteckten Grenzen nicht beirren lassen und somit einen, wenn auch kleinen und leisen und trotzdem wichtigen Beitrag zur politischen Diskussion darstellen.

Formell begrenzt in Obholzers „Otaku“-Reihe also die äußere Form die innere Vielfalt, politisch umgelegt bestimmt damit die Peripherie ihren eigenen Inhalt. Diese philosophisch umgesetzte, freiwillige Einengung, diese Konzentration auf eine eigene, kleine Hierarchie (Hegemonie könnte man überspitzt sagen) zeigt der Künstler als eine offensichtliche Konsequenz einer heutigen, verwaschenen Gesellschaftsstruktur und begibt sich damit auf ein Feld, das weit über den dekorativen Rahmen seiner Kunst hinausgeht und endgültig den rein optischen Bereich seiner Arbeit hinter sich lässt.

Obholzer ortet eine generelle Unklarheit in der modernen, medial dominierten Gesellschaft, in welcher eindeutige Werte und Grenzen, Eckpunkte und Trennlinien, über die sich der Mensch noch selbst definieren könnte, großteils fehlen. Längst ist ein Che Guevara kein Sozialrevolutionär mehr, ein Punk kein Rebell. In dieser Verwischung der Begriffe bleiben nur noch wenige Positionen der Eigenständigkeit und des Idealismus‘, selten können Tabus noch gebrochen werden und wenig Spielraum für Provokation bleibt dem Individualisten, will er Grenzen erkennen zwischen Verbot und Gebot oder Aktion und Reaktion.

Obholzer zeigt in seiner künstlerischen Arbeit mehrere Modelle für einen Ausweg aus dieser zermürbenden Unklarheit:
Die streng formelle, beinahe asketische Flucht in die eigene Behausung seiner „Otaku“-Serie, die lustvolle Verspieltheit und Leichtigkeit seiner Blood Streamings oder das symbolhaft Fundamentale und in sich selbst Verwobene in seiner Arbeit mit Rosetten (S. 52/ 53). Obholzer lässt uns die organische, ursprüngliche Kraft seiner Wandmalereien und T-Shirt-Aufdrucke spüren (S. 46/47), wo bereits die Zick-Zack-Linien der zu Grunde liegenden Handzeichnungen die Bedeutung einer späteren Farbauswahl relativieren, da sie in ihrer Formgebung bereits einen Naturalismus, eine tiefe Körperlichkeit entstehen lassen. Und er zeigt uns – bewusst das Ornamentale verlassend – im Bild mit dem Titel „gefüllt“ (S.48) Ringe, die an den Computerspiel- Klassiker Tetris denken und in ihrer gekünstelten Zufälligkeit ewige Muster und Assoziationen entstehen lassen.

Walter Obholzer hat die Wellenform seines Fragezeichens im Endeffekt geglättet, ohne konkrete Antworten geben zu müssen – ähnlich wie auch der Hikikomori schon als bloßes Gesellschaftsphänomen eine rethorische Frage aufwirft. Wie jede gute Frage führt Obholzers Interrogativ zu einer solchen Komplexität der Beantwortung, dass allein das Auslösen eines möglichen Erkennungsprozesses als politische Legitimierung reicht. Das Fragezeichen hat seinen Zweck durch seine reine Fragestellung bereits erfüllt. Und so darf sich dann schließlich auch der Betrachter der Werke Obholzers nach intensiver Reflexion einem, wenn auch abstrahierten, Ausrufezeichen gegenübergestellt sehen.

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