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Landvermessung No.1, Sequenz 5
Reisen auf Linie
Obermauern/Virgental, Obere Seebachalm/
Defereggental

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: Stefanie Holzer und Walter Klier folgen seit der ersten Ausgabe von „Quart“ südlich des Alpenhauptkammes einer pfeifgeraden Linie, die vom äußersten Winkel des Südtiroler Vinschgaus zur Wallfahrtskirche von Obermauern im Osttiroler Virgental führt. Hier das fünfte (und letzte) Teilstück: über Schafzuchtgeheimnisse auf der Islitzer Alm, die Maße, die ein Grabmal keinesfalls überschreiten darf, und die genaue Funktionsweise eines Steyr CVT Exklusiv 6190.

„I want to live like this forever. Hmmhm“, sang im Felber-Tauern-Tunnel das „Tunnelradio“1. Wir sehnten uns eher nach Veränderung, das hieß in diesem Fall, endlich das Südportal zu erreichen. Auch wenn die Tunnels immer mehr werden und unzweifelhaft praktisch sind – gerade der Felber Tauern wäre ohne einen solchen schwierig zu überwinden –, hält man sich höchst ungern darin auf. Den fünften und letzten Teil unserer Reise „auf Linie“ gingen wir von Norden her an. Er führte uns in jenen Tiroler Landesteil, der manchen als der schönste gilt, dessen Bewohner sich von der Landeshauptstadt chronisch als zu wenig beachtet empfinden und dies, gefragt oder ungefragt, auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit kundtun.
Bei Matrei i. O.2 bogen wir ab ins Virgental. Als halbgebildeter Wörterkundler bildet man angesichts des Ortsnamens Virgen3 flugs die Hypothese, der Name könnte was mit virgo, virginis, Jungfrau, zu tun haben. Die altehrwürdige Wallfahrtskirche in Obermauern heißt immerhin „Zu unserer Lieben Frau Maria Schnee“. Doch davon wollen die zuständigen Autoritäten nichts wissen. Virgen, so schreibt der Tiroler Namenskundler Karl Finsterwalder, „kann“ aus dem Slawischen kommen; „tschechisch brh“ stehe für „Heuschober, Höhle“ und russisch beregu bedeute „hüten, bewahren“. In unserem Russisch- Kurs auf der Volkshochschule heißt u beregu zwar „am Ufer“, und obwohl das Russische immer für Überraschungen gut ist, ist uns bisher noch kein Verbum untergekommen, das im Infinitiv auf -u endet. Aber „Univ. Prof. Dr. W. Steinhauser (Wien)“ wird hoffentlich gewußt haben, was er seinerzeit Karl Finsterwalder mitteilte.4
Die Pfarrkirche von Virgen wurde, und hier wird die namenskundliche Verwirrung total, 1514 dem Hl. Virgilius geweiht. „Virge“ wird aber schon 1164 als Pfarre genannt. In Tirol kreuzen sich überdies die Wege des Hl. Virgilius mit denen des Hl. Vigilius. Letzterer wurde, geboren in Rom, um etwa 380 Bischof in Trient, während der in Irland geborene Virgilius knapp 400 Jahre später in Salzburg als Bischof wirkte und von dort aus vor allem im Kärntner Raum tätig war.
Die erste lokale Besonderheit des Virgentals sticht dem Reisenden vom Straßenrand her ins Auge: An den weißen Begrenzungspflöcken aus Plastik hängen auf der straßenabgewandten Seite kleine orangerote Kreuze an einer Stahlkette. Diese kleinen Kreuze baumeln frei im Wind. Auf Anfrage informieren die zuständigen Stellen5, es handle sich um „Wildwarnreflektoren“. Das Licht der Autoscheinwerfer werde von den orangen Kreuzen reflektiert, was die Tiere in ihrem Bestreben, die Straße zu überqueren, innehalten lasse. Der zuständige Straßenmeister berichtet, daß die Reflektoren seit knapp drei Jahren im Virgen- und im Defereggental, in Kals, an der Bundesstraße zwischen Huben und Matrei und zwischen St. Johann im Walde und Huben an den Begrenzungspflöcken baumeln. Der Erfolg sei unbestreitbar, die Zahl der Unfälle mit Wild signifikant gesunken. Von überall her kämen Jäger, um sich ein Bild von der Wirksamkeit dieser Einrichtung zu machen. Die Holländer hätten eine Versuchsstrecke eingerichtet. In der „Deutschen Jagdzeitung“ ist von einer Unfallreduktion um 20 bis 40 % die Rede. Kurios ist, daß sich in erster Linie Jagdpächter für diese Reflektoren interessieren und weniger Kfz-Versicherungen oder Autofahrerclubs.
In Mitteldorf behinderten Erntearbeiten den touristischen Verkehr. Ein drei Wagen umfassender Silage- Konvoi hemmte die brausende Fahrt, sodaß man in aller Ruhe bewundern konnte, wie stilsicher Mitteldorf den Streifen Erde zwischen Gehsteig und Fahrbahn verschönt: Nicht irgendeine der üblichen „dankbaren“ Gründeckerpflanzen war hier zum Zug gekommen, sondern ein reizend buntes Gemisch aus Mohn, Margeriten und Kornblumen.
An der ersten Straße rechts annoncierte ein Schild den für Osttirol doch ziemlich auffälligen Namen „Brontë House“. Vor Ort trafen wir eine Dame in kurzen Hosen und Sonnenbrille bei der Gartenarbeit an. „Kann ich Sie helfen?“ fragte sie uns, bevor wir fragen konnten, weshalb das Haus so heiße. „Weil ich bin aus Yorkshire“, lautete dann bündig tirolisch die Antwort. Nicht direkt aus Haworth, aber aus der unmittelbaren Nähe des Brontë-Heiligtums bei Keighley.
Wie sollen Hotels und Gasthäuser heißen? Berühmte Häuser in Tirol heißen „liebes Rot-Flüh“ oder „Trofana Royal“. Bei Pensionen inspirieren oft herausragende Gipfel oder die Alpen als ganzes, häufig ist der Vorname der Dame des Hauses ausschlaggebend. Restaurants hierzulande heißen schon einmal „El Greco“6, nicht nach dem Maler, sondern um auf spanisch darauf hinzuweisen, daß es sich um ein griechisch kochendes Lokal handelt. Kein Mensch käme hierzulande auf die Idee, sein Haus nach einer Schriftstellerin oder einem Maler zu benennen. Komponisten werden als einzige mit dieser Ehre bedacht. Wenn man es genau bedenkt, dann ist es eigentlich ein Komponist, der mit dieser Ehre bedacht wird: Mozart. Ein paar Häuser nach dem „Brontë House“ annoncierten Schilder das „Beach-Stüberl“ und die Café-Pension „Schöne Welt“.
Wir rollten das Tal von hinten auf. Bis zum gebührenpflichtigen Parkplatz im treffend benannten Hinterbichl fuhren wir durch und gingen das kurze Stück zur Islitzer Alm, wo gerade die ersten Schafe von der Alm geholt wurden.
Ein unglaubliches Drama rollt ab, wenn Schafe nach einem Sommer in Freiheit wieder nach Hause ins Tal müssen. Weiße und braune Bergschafe bunt gemischt mit schwarz-grauen Steinschafen stehen Leib an Leib im Pferch. Männer von kräftiger Statur drängen sich zwischen sie, um die ihrigen herauszusuchen. Kaum ist ein eigenes an der Ohrmarke erkannt, stemmt sich der Eigentümer mit beiden Beinen in den Boden und zieht das Schaf an seinem dicken Fell aus der schützenden Mitte der anderen heraus. Oder einer der Jungbauern will zeigen, wie stark er ist, dann schnappt er ein halbwüchsiges Schaf, hebt es hoch und trägt es hinaus zum Wagen wie einen mittelgroßen wolligen Bären. Das Schaf haxelt wehrhaft und versucht, wieder Boden unter die Füße zu bekommen, sodaß die Bauern zu wahrhaft beeindruckenden körperlichen Höchstleistungen gebracht werden. Einer kam aus dem Pferch und hielt sich den Kopf. Nach ein paar Minuten war er wieder zurück im Getümmel, ein ziemlich großes Pflaster zierte seine Stirn dort, wo ihn ein Horn oder ein Huf getroffen haben dürfte.
Dennoch waren die Bauern nicht die stärksten am Platz. Das war ein gigantomanischer Traktor aus dem bewährten Hause Steyr, im Eigentum des Stadtlerhofs in Dölsach: Ein Steyr CVT Exclusiv 6190. Dieses Ungetüm ist etwa drei Meter hoch, wiegt knapp sieben Tonnen und hat 192 PS. Es kostet, man ist versucht zu sagen und gibt dieser Versuchung für einmal nach, schlappe 90.000 Euro. Die Marke ist brandneu; in ganz Tirol gibt es erst drei oder vier davon.7
Wir wanderten noch ein Stück iselaufwärts zu einem Meilenstein in der Geschichte des Naturschutzes, den einst schwer umkämpften Umbalfällen. Schier unfaßliche Wassermassen stürzen hier schäumend zutal und formen aus dem anstehenden Gestein Skulpturen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie jedem TIWAG-Menschen die Seele weh tut, sprich der Geldzählfinger nervös zu pochen beginnt, wenn er solche Naturgewalt sieht, aus der kein Geld entsteht, oder nur mittelbar: Denn die Wanderung entlang auf dem Wasserschaupfad ist bei den Gästen beliebt. Aus Osttiroler Sicht bleibt das so erwirtschaftete Geld wenigstens gleich im Land. Der Strom kommt sowieso aus der Steckdose.
Wieder unten bei der Islitzer Alm waren die Bauern immer noch damit beschäftigt, Schafe zu sortieren. Wir schauten eine Weile zu. Ein ziemlich alter, ziemlich gut erhaltener Bauer mit grünem Hut auf dem Kopf und einem zwei Meter langen Hüterstab erklärte uns, daß um 1840/50 die Gemeinde Schlaiten die Alm nördlich der Clara-Hütte gekauft habe, weil einheimische Bauern ihre Steuern nicht mehr zahlen konnten. Jemand, der von sich aus über eine weit zurückliegende Zeit wie das 19. Jahrhundert zu sprechen anhebt, der, so dachten wir, weiß auch über Neueres bescheid. So fragten wir ihn, wie die Schafzüchter sicherstellten, daß nicht am Ende des Sommers gefleckte Schafe, braun, weiß und schwarz auf die Welt kämen, also statt der erwarteten rassereinen lauter Promenaden- oder soll man sagen Almwegmischungen? Solche Fragen lieben Bauern. Er rammte seinen Hüterstab in den Boden und meinte: Da paßt der Hüter schon auf, daß nichts passiert. Er lachte dabei so, daß man seine 36 im Originalzustand erhaltenen Zähne in voller Schönheit bewundern konnte. Ein Bild von einem Menschen, aber glauben konnte man ihm offenbar kein Wort.
Beim zweiten Versuch, dieses zentrale Schafzuchtgeheimnis zu lüften, wandten wir uns an einen der vielen blonden, hoffentlich weniger schlitzohrigen Jungbauern. Doch er verwies uns gleich an einen älteren, grauhaarigen, der gerade ein Schaf aus dem Pferch schob und zog. Der lachte auch, als er hörte, was wir wissen wollten. Das ist wie bei dir, sagte er, so wie dein Mann auf dich aufpaßt, passen die Böcke auf ihre Schafe auf. Nun lachten alle. Die Nachfrage, ob das auch wahr sei, brachte sie alle noch mehr zum Lachen.
In dem seit 1606 bestehenden Gasthof Islitzer im Prägratner Ortsteil Hinterbichl quartierten wir uns auf die Empfehlung des altbewährten Standardwerks „Wo ißt Österreich?“ hin ein, der die Küche dieses Gasthofs wärmstens empfiehlt.
Den linken Oberarm der für uns zuständigen Kellnerin zierte eine Tätowierung, die eine Stacheldrahtgirlande vorstellte, das rechte Bein ein gleichermaßen appliziertes chinesisches Schriftzeichen und, als das T-Shirt nach oben rutschte, durften wir an ihrem Rückgrat die Ausläufer von etwas bewundern, das von weiter unten heraufkam, in dieser fragmentarischen Form aber nicht identifiziert werden konnte. Überdies war die junge Dame traditionell (Ohren) und modisch (Augenbraue) gepierct. Gern hätten wir die lebensfroh wirkende Maid gefragt, was sie dazu bringt, sich so existentialistisch, ja beinah nihilistisch zu schmücken. Doch das wagten wir nicht. Auch wenn die junge Dame uns eine verstörend synkretistische Zusammenstellung von Symbolen präsentierte, konnte man sie nicht gut fragen, was sie sich dabei gedacht habe. Was, wenn die Dinge keine tiefere Bedeutung hatten, wenn sie also den Stacheldraht „nur so“ ausgesucht hatte? Dann hätten wir uns zum zweiten Mal an einem Tag zum Narren gemacht. Also lassen wir es mit der Beschreibung dieses modernen Osttiroler Bilderrätsels bewenden. Eine Übernachtung beim Islitzer ist so empfehlenswert wie die Gastronomie des Hauses. Besser, man bleibt gleich zwei oder besser drei Nächte. Denn der Wildbach vor dem Haus rauscht mit solchem Getöse in der ansonst wundersam stillen Nacht, daß sich im Schlafenden die sonderlichsten Dinge tun. Das Unterbewußtsein versucht die ungewohnte Geräuschkulisse abzuwehren, indem es das Rauschen, Zischen und Brausen zu Starkregen uminterpretiert. Man träumt sich Erklärungen zurecht, damit man nicht aufwachen muß. In den schön getäfelten altmodischen Zimmern gibt es richtige Tuchenten, die duch ihr Gewicht und die Wärmeentwicklung die Träume zusätzlich anheizen.
Um 8 Uhr früh stand eine der Kellnerinnen, die am Abend an der Bar verkündet hatte, morgen sei ihr freier Tag, da gehe sie ins Gebirge, in Wanderkleidung vor dem Haus. Der Alte mit dem Hüterstab leistete ihr Gesellschaft, bis sie mit dem Hüttentaxi talein verschwand. Welche Geschichten er ihr auftischte – sie lachte mehrfach schallend – konnte man ebenso wenig hören wie ihr Lachen, der Bach, der einst die noch vorhandene Islitzer-Mühle angetrieben hatte und jetzt, siehe oben, leidergottes kein Kraftwerk, übertost an dieser Stelle alles andere.
Das erste Hotel in Hinterbichl war übrigens das „Hotel Wiener Sängerknaben“. Die Sängerknaben waren in der Zeit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg alle nicht besonders stramm, was die musikalische Qualität offenbar so beeinträchtigte, daß man die Buben in die Sommerfrische schickte. Die bis dahin im Virgental vorhandene Unterbringungsmöglichkeit war den blassen Knaben aber gar zu ländlich, also entschloß man sich kurzerhand nach der Fertigstellung der ersten Straße bis nach Prägraten im Jahr 1928, wohin vorher nur ein Karrenweg geführt hatte, eben hier in Hinterbichl das „Hotel Wiener Sängerknaben“ zu bauen. 1950 veräußerten die Sängerknaben ihr Hotel, denn normale Hotelgäste vertrugen sich auf Dauer schlecht mit dem „Knabenkonvikt“. Nicht lange danach brannte es auch noch ab und wurde unter dem Namen „Hotel Niederrhein“ wiedererrichtet. Versprengte Ex-Sängerknaben kommen bis heute nach Hinterbichl, um das Idyll ihrer Kindheit und Jugend wiederzusehen.8 Wer Schwierigkeiten hat, sich vorzustellen, was die beiden Weltkriege in kleinen Orten wie Prägraten, das heute etwas mehr 1200 Einwohner zählt, bedeutet haben, der möge die allgegenwärtigen Kriegerdenkmäler einer kurzen Inspektion unterziehen. Im Ersten Weltkrieg verlor Prägraten 24 Söhne, im Zweiten 37. Seither verlieren diese Gemeinden ihre jungen Männer in erster Linie durch das Autofahren. Man könnte den Namen und Fotos der Gefallenen die der seit 1945 Verunglückten auf einer dritten Tafel hinzufügen. Für diese Toten stimmt der martialische und holpernde Reim in der Kriegergedächtniskapelle vielleicht eher: „Rann hier auch unser Herzblut rot, Seid stolz, wir starben den schönsten Tod.“
In der Pfarrkirche zum heiligen Andreas9 mahnt der Pfarrer mittels Verlautbarung an der Sakristeitür zur Stille. Die Kirche sei kein Museum, stellt er fest – falsch. Die Kirche ist natürlich auch Museum. Diese Tatsache sollte allerdings ebenfalls zur Stille anhalten. Es klingt nur oberflächlich paradox, aber unpassendes Geräusch hindert nicht nur am Gebet, sondern auch am konzentrierten Betrachten. Man sieht im Museum schlechter, wenn die Ohren über Gebühr beschäftigt und abgelenkt werden.
Ein ganz besonders schönes Museum ist die Wallfahrtskirche „Zu unserer lieben Frau Maria Schnee“ in Obermauern. Exakt diese Kirche ist der Punkt im Virgental, der auf unserer vorgegebenen Linie liegt und ihren Endpunkt bezeichnet. An der Außenwand ist neben bemerkenswerten Reliefs (Petrus mit Schlüssel, die Heiligen drei Könige) unter anderem ein imposantes Christophorus-Fresko zu sehen. Der Schutzpatron der Reisenden steht wie immer mitten im Fluß. Um seine Waden schwimmen nicht nur Fischlein, Krebse und Seepferdchen, sondern auch eine kleine Königin oder Prinzessin mit einem hübschen Krönchen. Eigentlich sieht Christophorus wie ein Flußgott aus, der sich in den Dienst eines rein äußerlich zwar kleineren, aber ungleich mächtigeren – Jesus wiegt so schwer, daß er ihn kaum tragen kann! – Gottes stellt. Der Urheber des Freskos aus dem Jahr 1486 kann kein Osttiroler gewesen sein, sonst wären die Berge im Hintergrund eindeutig steilwandiger ausgefallen – denkt man, bis einen die Inschrift, die er hinterlassen hat, eines besseren belehrt: „das gemel hat gemachsebastian maller purger zu luntz 1468.“10
Im üppig geschmückten Kircheninneren sind die Fresken des Südtiroler Malers Simon von Taisten (ca. 1460–1530) die zentrale Attraktion: Simon von Taisten hieß eigentlich Simon Marenkl, er stammte aus Taisten bei Welsberg im Gsieser Tal. Er war der Hofmaler beim letzten Görzer Landesherrn Leonhard und seiner Gattin Paola Gonzaga in Lienz. Die sehr gut erhaltenen, farbintensiven Fresken erzählen vom Leiden und Sterben Jesu und seiner Mutter Maria. Neben andern kleineren Themen sind die reizvolle Schutzmantelmadonna und der sellenvoll ruhig dreinblickende Hl. Sebastian zu erwähnen, den zwei ebenfalls abgebildete Armbrustschützen schon mit 21 Pfeilen durchbohrt haben. Taisten hat wohl als Knabe zumindest mit einer Steinschleuder geschossen; er wußte, daß nicht jeder Pfeil trifft: Der Baum, an den der Heilige gebunden ist, hat auch vier Treffer abbekommen.
Freunde der sakralen Freskenkunst seien auf die an Ernst Nepo erinnernden Deckenfresken des Schwazer Malers Karl Rieder aus dem Jahr 1937 hingewiesen: Eine moderne Hl. Cäcila spielt in der Orgelempore der Virger Pfarrkirche. Als Kontrast kann man dann in der Kirche von Huben, 1924/28 erbaut nach Plänen von Lois Welzenbacher, sehen, wie ein Künstler im Alter, nach dem Zeitgeist schielend, aus den Augen verlieren kann, wo seine Stärke liegt: Der älter gewordene Rieder wurde am Eigenen irre und verlor sich in farbiger Patzerei.
Apropos Fresken: Eine Sehenswürdigkeit der besonderen Art offeriert die Pfarrkirche von St. Jakob im Defereggental11: Der Bruder des Schriftstellers Josef Georg Oberkofler, Johann Baptist Oberkofler (1895– 1969), war Priester und Maler. Von ihm stammt das große Deckenfresko im Langhaus (fertiggestellt 1935), das zeigt, wie die vier Erdteile, dargestellt durch Indianer, Afrikaner, Chinesen und Tiroler, Christus als König verehren. Es dürfte eines der ganz wenigen erhaltenen künstlerischen Bekenntnisse nicht nur zum Ständestaat, sondern gar zum Legitimismus sein, also zur Auffassung, nach der die Habsburger immer noch das legitime Staatsoberhaupt stellten: Zu ihrem Schöpfer aufblickend stehen beisammen der kürzlich seliggesprochene Kaiser Karl I., der damals gerade ermordete Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, Heimwehrführer Ernst Rüdiger von Starhemberg und der dubiose Emil Fey, der während der dramatischen Stunden des 25. 7. 1934 im von den Nazi-Putschisten besetzten Bundeskanzleramt herumgegeistert war, zu dieser Zeit Innenminister, danach Präsident der DDSG12 und am 16. 3. 1938 durch Selbstmord geendet.13
Der Punkt, wo unsere Linie das Defereggental schneidet, liegt ziemlich weit hinten im Tal, knapp hinter der Oberen Seebachalm. Im Gasthof Alpenrose in Erlsbach stärkten wir uns zunächst mit hervorragenden Schlipfkrapfen, die wir brüderlich mit einigen noch sehr jugendlichen Spatzen, die zutraulich auf dem Boden herumhüpften, teilten.
Das Auto blieb bei der Oberhaus-Alm zurück. Von hier ging es in Gesellschaft einiger Wanderer und aller nur denkbaren Rinderrassen (hauptsächlich Fleckvieh, Grauvieh, Pinzgauer, Schwarzbunte und sogar ein paar Pustertaler Sprinzen waren dabei14) in Richtung Seebachalm. Man konnte hier beobachten, daß der Pinzgauer Ochse seinen breiten Stierschädel und den stämmigen Hals trotz Kastration bewahrt, während der Kopf des Fleckviehochsen dem einer Kuh gleicht. Die Anwesenheit der Ochsen – der „Almochsen“ – belegt, daß sich die werbliche Initiative der Fleischwirtschaft bis an die Basis durchgesprochen
hat.
Abgesehen von den Rindern müßte der Tannenhäher hier das markanteste Tier sein, denn das hinterste Defereggental prunkt mit Europas größtem geschlossenem Zirbenwaldgebiet15. Wir sahen aber keinen einzigen und hörten auch keinen; vielleicht legen Tannenhäher am späten Nachmittag eine Ruhepause
ein.
Die Seebachalm ist in Südtiroler Besitz, was man nicht nur daran merkt, daß auf dem Talweg ununterbrochen kleine staubige Autos mit Bozener targa16 talein und talaus rasen und weitere Unmengen Staub aufwirbeln. In Nord- und Osttirol versteht sich fast ein jeder Almeler auch als Wirt; der südtirolische dagegen ist nur Bauer, er grüßt keinen Wanderer, und ausgeschenkt wird auch nichts. An der Stallmauer der Alm kann man Jahreszahlen und rätselhafte Buchstabenkombinationen bewundern.
Trotz drohenden Regens wagten wir uns im verschärften Schnellwanderschritt noch weiter talein. Dort liegt die berühmte Jagdhausalm auf etwas über 2000 Metern, „ein ‚Pueblo‘, wie wir nach erster Überraschung feststellen. Urplötzlich fühlen wir uns in eine fremde Welt versetzt, die in gesundem Rhythmus die Stille und den Frieden atmet.“17 Sie ist ebenfalls in Südtiroler Besitz. Vor einer der 16 steinernen Hütten weht eine rot-weiße Fahne. Vor dem Haus sitzen zwei von der Sonne halbgedörrte Männer und trinken jeder ein Bierchen aus der Flasche. Möglicherweise handelt es sich hierbei um die Jausenstation, die die Wanderkarte vermerkt. Doch die zwei Aborigines machen eindeutig den Eindruck, als zögen sie es vor, das hier gelagerte Bier selber zu trinken. Mit Fremden sprechen auch sie nicht.
Gesprächiger ist dann die Almerin, die wir ein paar Hütten weiter antreffen. In Frühling kommen 340 Stück Vieh und fünf Aufsichtspersonen mit dem LKW aus Rein18 zur Alm. Im Herbst dagegen gehen die Tiere zu Fuß nach Hause, nach einem Sommer im Gelände sind sie der Reise konditionell gewachsen. Früher, erzählt die Frau, waren im Sommer alle Hütten bewohnt und manche selbst über den Winter.19 Sie wundert sich selber, es müßte wohl hier heroben Wald gestanden sein, damit man Holz zum Heizen hatte. Jetzt befindet man sich hier eine Gehstunde über der Waldgrenze. Die Gebäude wirken zum Teil recht ramponiert. Es gibt, abgesehen vom Jagdschloß in Hinterriß, im ganzen weiten Bundesland Tirol kaum ein bemerkenswertes Bauwerk, das frank und frei dem Verfall entgegengeht, und den Betrachter befällt eine Art von mentalem Juckreiz: Da müßte man doch etwas dagegen tun.

Ende.

1   Der Name des Senders, den man während der Fahrt im Tunnel empfangen kann. Außerhalb desselben hört er auf „Ö3“.
2   Einst „Windisch Matrei“.
3   „Als Kind habe ich noch Würgen gesagt.“ Helmuth Schönauer, Vaterlandsdichter sucht Vaterlandsorte. Einer der, wenn nicht der liebevollste Text über Osttirol überhaupt, zuerst veröffentlicht in: Thurntaler 17/1987, dann in: Gegenwart 16/1993.
4   Karl Finsterwalder, Tiroler Orstnamenkunde. Gesammelte Aufsätze und Arbeiten. Hrsg. von Hermann M. Ölberg und Nikolaus Grass. 3 Bde. Universitätsverlag Wagner Innsbruck 1990 ff. Natürlich denkt man bei Virgen auch unwillkürlich an den Orts- bzw. Flurnamen Wörgl und Wörge und dessen problematischen Zusammenhang mit dem mhd. twerch für quer (Finsterwalder Bd. 1, S. 271). In diesem Zusammenhang muß auch gesagt werden, daß Finsterwalder nur Etymologien mit landwirtschaftlichem Hintergrund gelten läßt und von „heiligen“ Namen, ob christlich oder unchristlich, nichts wissen will.
5   Gendarmerie, Baubezirksamt.
6   In Oberndorf bei Kitzbühel.
7   Kraftpaket CVT. „Jeder CVT-Traktor von STEYR wird von einem emissionsarmen 6,6 l Turbo-Dieselmotor mit Intercooler angetrieben, der die EUAbgasnorm Tier II erfüllt. Alle Modelle haben ein elektronisch gesteuertes, stufenloses, hydro-mechanisches Getriebe mit Kriechgeschwindigkeiten. Die 4-fach-Heckzapfwelle gehört zur serienmäßigen Ausstattung. Außerdem können alle fünf Traktoren dieser Serie mit Frontzapfwelle geliefert werden. Das Hydrauliksystem zeichnet sich durch ein starkes Hubwerk und die automatische Schwingungstilgung ‚Ride Control‘ aus. Mit dieser Funktion wird ein Aufschaukeln des Traktors mit Anbaugerät bei hohen Fahrgeschwindigkeiten verhindert. Allradantriebs- und Differenzialsperren-Management sind serienmäßige Funktionen. Je nach Modell hat der Kunde die Wahl zwischen verschiedenen Vorderachsen, unter anderem auch eine gefederte Vorderachse. Diese und nasse Scheibenbremsen sorgen für zusätzliche Sicherheit beim Straßentransport schwerer Lasten.
Der Komfort des CVT.
Die Liebe zum Detail macht sich überall am neuen CVT bemerkbar, speziell in der gefederten Komfortkabine von STEYR. Als erstes fällt natürlich die ausgezeichnete Rundumsicht ins Auge, aber diverse andere Funktionen sind einfach unübersehbar. Da wären zum Beispiel der Traktormonitor mit neuester Spitzentechnologie (integriert in der Instrumententafel), der Leistungsmonitor (an der ASäule), das neue zentral positionierte Bedienpult für die Arbeitsscheinwerfer mit Speicherfunktionen und ein Joystick für die Einstellung der Teleskoprückspiegel (sofern Teil der Ausstattung). Klimaanlage, integrierte Kühlbox, der genau einstellbare Komfortsitz mit Lendenwirbelstütze und die höhen- und neigungsverstellbare Lenksäule sichern einen stressfreien Arbeitstag.
Die Bedienelemente des CVT.
Die Bedienelemente sind in der rechten Armlehne und auf dem rechten Bedienpult logisch und ergonomisch angeordnet. Mit ihren komplett programmierbaren Funktionen - beispielsweise das Feld-Ende-Management Easy Tronic, Timerfunktion für alle Zusatzsteuergeräte, Motor-Management; hinzu kommen noch der elektronische Tempomat, das Allradantriebs- und Differenzialsperren-Management – hat der Fahrer wirklich alles unter Kontrolle.“ (www.steyr.traktoren.com)
8   Vgl. Alexander Witeschek, Hinterbichl, das Paradies der singenden Engel. Merian Osttirol, 1962. Darin überhaupt viel Lesenswertes und Kurioses, etwa zur Rolle Virgens in der Filmgeschichte; hier wurde 1930 der erste deutsche Tonfilm im Freien gedreht: Der unsterbliche Lump mit Gustav Fröhlich, Liane Haid und Adalbert von Schlettow. Oder auch (zwar abseits unserer Linie, aber wenn wir gerade dabei sind) zur arabischen Inschrift auf der Kirche St. Justina bei Anras.
9   Auszug aus der Friedhofsordnung der Gemeinde Virgen. §17 Gestaltungs- und Erhaltungspflicht.
1. Die Grabstätten sind spätestens sechs Monate nach einer erfolgten Beisetzung in einer der Würde des Ortes entsprechenden Weise zu gestalten.
2. Es dürfen nur solche Pflanzen gepflanzt werden, die andere Grabstätten oder öffentliche Wege und die allgemeine Anlage nicht beeinträchtigen. Bäume und winterfeste Sträucher dürfen nur mit Bewilligung der Gemeinde gepflanzt werden.
3. Die Verwendung künstlicher Blumen, das Bestreuen der Grabstätten oder der Flächen dazwischen mit Kies oder ähnlichen Materialien ist nicht gestattet.
4. Verwelkte Blumen, Kränze udgl., Kerzen, Metall und sonstiger Restmüll sind in die dafür vorgesehenen Behälter (Container) zu verbringen.
5. Unpassende Gefäße, wie Blechdosen, Flaschen, Einsiedegläser und dgl. oder unpassende Vasen zur Aufnahme von Schnittblumen sind nicht gestattet. Sie können vom Friedhofwärter ohne vorherige Mitteilung an den Nutzungsberechtigten entfernt werden.
§18 Grabmale.
1. Die Aufstellung eines Grabmales bedarf der Bewilligung der Gemeinde Virgen.
2. Grabmale müssen standsicher und dauerhaft errichtet sein.
3. Die Sockel sollen den bisherigen Sockelformen angepaßt werden und dürfen die folgenden Maße nicht überschreiten: Länge: 0,70 m, Breite: 0,20 m, Tiefe: 0,40 m.
4. Grabkreuze dürfen (mit Sockel) eine Höhe von 1,80 m, gehauene Steine eine Höhe von 1,00 m nicht übersteigen. Wird ein Kreuz nur auf die Umrandungssteine aufgesetzt, muß es mindestens 1,50 m hoch sein (ausgenommen Kindergräber). Der Querbalken des Kreuzes darf die Grabbreite von 0,70 m nicht überschreiten.
10   Sebastian Gerumer, dem auch die Fresken in der Franziskanerkirche zu Lienz zugeschrieben werden.
11   „Bis etwa 1548 gehörte St. Jakob zu Virgen. ‚Man erzählt, daß man die Leichen der im Winter Verstorbenen dort selbst, weil der Weg im Winter fast ungangbar ist, gefroren aufbewahren mußte, bis man sie im Frühjahr zum Begräbniß zur Pfarr hierher bringen konnte.‘“ (Virger Zeitung, 2002) Diese Geschichte wird auch über Hintertux und Galtür erzählt; möglicherweise soll sie zeigen, wie hart früher die Winter waren.
12   Das längste Wort im Deutschen, das auf diese Weise auch einmal den Weg ins Quart findet: Donaudampfschiffahrtsgesellschaft.
13   Ausgezeichnete Charakterskizzen dieser Zeitgenossen (und dazu noch vieles andere Ausgezeichnete) findet man in Gordon Brooke-Shepherd, Österreich. Eine tausendjährige Geschichte. Übersetzt von Edith Haßlacher, Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998.
14   Nur die schottischen Hochlandrinder, die sich im Alpenraum immer größerer Beliebtheit erfreuen, fehlten hier ausnahmsweise.
15   Nach anderen Angaben Mitteleuropas bzw. der Ostalpen. Gibt es außerhalb von Mitteleuropa überhaupt Zirben?
16   Italienisch (auch südtirolerisch) für Autokennzeichen.
17   Walter Mair, Hohe Tauern – Südseite. Auswahlführer. Bergverlag Rudolf Rother, München 1981.
18   Vgl. Reisen auf Linie, Teil 4, Quart 4. Dort übrigens der „höchstgelegene Zirbenbestand der Ostalpen“.
19   Die Jagdhausalm hat eine bescheidene Kapelle, darin ist ein vergilbter Zettel angeschlagen:
„Bischöfl. Ordinariat Brixen
Brixen den 13. 5. 1955
An das Hochw. Pfarramt in Rain. Mit Reskript der hl. Pönitentiarie vom 6. des Monats n. 3765/55 wird hiemit das Indult, in der Jagdhauskapelle den Portiunkulaablaß zu gewinnen, auf weitere 7 Jahre verlängert. Dr. J. Untergasser Generalvikar“

 

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