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„Zu viel denken kann man nie.“

Der Komponist und sein Interpret: Beat Furrer war zu Gast bei den „Klangspuren“, dem Schwazer Festival für Neue Musik, Gerald Preinfalk spielte beim Klangforum Wien als Saxophonist Furrers Musik. In einer Pause trafen sich die beiden zu einem Gespräch über die Kopflastigkeit Neuer Musik, das Mysterium von Zwölfteltönen und die Frage, ob Regelmäßigkeit banal ist.

Gerald Preinfalk: Gibt es in der so genannten „Neuen Musik“ ein typisches Klangbild? Ist „Neue Musik“ eine Stilform?

Beat Furrer: Man muss den Begriff auseinander nehmen. Ich finde, die schönste Metapher für das Schaffen von Musik ist in Ovids Metamorphosen zu lesen: Fama baut sich an der Grenze zwischen Himmel, Meer und Erde ein Haus aus Erz. Es hat offene Fenster und Türen. Alles, was gesprochen und gesungen wird, alles, was einfach erklingt, vermischt sich in diesem Haus zu einem Klang. Und Fama hört. – Ich sehe das so: Diesen Raum, den wir Musik nennen, gilt es zu erweitern. Weniger in dem Sinn, dass ich immer neue Klänge erfinden müsste, sondern indem ich einfach mit offenen Ohren durch die Welt gehe und versuche, diese Welt hörend zu durchdringen, zu begreifen.

P.: Jeder Komponist wird beeinflusst von dem, was ihn umgibt. Aber warum kommt dabei ausgerechnet bei dir Neue Musik heraus? Du bist ja geradezu Stil prägend in diesem Bereich. Gibt es da eine spezielle Klangästhetik? Wenn ich das Repertoire der letzten 10 Jahre überblicke, gibt es sehr wohl eine Spielart, in der ich ein Stück Neue Musik zu spielen habe: Es gibt so oft Töne, die aus dem Nichts kommen sollen, schneller werdende Triller … und nach einer Weile soll der Ton wieder ins Nichts verschwinden …

F.: Natürlich hat sich mittlerweile ein Vokabular gebildet, klar. Ein Vokabular, das ständig erweitert wird, und das in verschiedenen Partituren immer wieder auftaucht. Aber diese fixen Formen der Neuen Musik müssen natürlich immer wieder hinterfragt werden – und das bedeutet nicht, dass ich vermeide, was andere getan haben. Ich gebe einer musikalischen Gestalt einen neuen Sinn, einen neuen Zusammenhang und schaffe sie somit wieder neu. Jeder Komponist durchläuft seine Geschichte. Der Beginn ist Imitation, und irgendwann nach 25 muss man darüber hinauskommen. Dann erst kristallisiert sich eine ganz persönliche, stark individuell geprägte Sprache heraus. Darauf hat man eigentlich wenig Einfluss. Wie das Eigene entsteht, wird erst im Rückblick sichtbar. Da kann ich vielleicht sehen: Aha, das bin ich! Aber im Moment des Komponierens ist das, was ich mache, eigentlich nur eine Notwendigkeit. Ich höre so.

P.: Gut, das heißt: Es – die Neue Musik – passiert ungewollt.

F.: Ich stelle gewisse Bedingungen an meine Arbeit. Wenn ich sie begreife als eine Projektion in die Zukunft – mit Materialien der Gegenwart – erwarte ich von Musik mehr als bloßes Entertainment. Sie ist für mich Erkenntnis auf einer anderen, nicht sprachlichen Ebene, in der Sprache der Musik eben. Es gibt Momente im Laufe einer Arbeit, in denen ich das Gefühl habe, dass sich mir etwas eröffnet, eine neue Welt. Das ist meine Motivation.

P.: Woran erkennt ein Zuhörer Neue Musik? Ist das eine bestimmte Rhythmik oder Dynamik, sind das bestimmte harmonische Verläufe?

F.: Der Begriff „Neue Musik“ ist nicht mehr als eine Schublade. Da schwingen gewisse Präferenzen mit, die sich auch wieder verändern werden. Heute lächeln wir ja auch, wenn wir Mozart-Interpretationen aus den 50er Jahren hören. Es gibt in der Neuen Musik so viele Erscheinungsformen. Die Positionen heute sind nicht mehr so ideologisch gefärbt wie noch in den 60er oder 70er Jahren, wir machen keine Schlachtpläne mehr. Wir kreieren Formen, die nicht vorherbestimmt sind und gehen mit verschiedenen Materialien ganz selbstverständlich um. Man kann nicht einmal mehr sagen: Neue Musik zeichnet sich durch eine spezifische Behandlung der Harmonik aus. Es gibt viele Möglichkeiten des Zugangs. Wir haben nicht einfach alles über Bord geworfen … die Tradition, auch die Tonalität nicht. Es ist nicht so, dass einfach alles passé wäre und wir ohne Gepäck durch einen luftleeren Raum fliegen.

P.: Aber warum sind dann bestimmte Dinge in der Neuen Musik so verpönt, durchgehende Rhythmen etwa – oder alles, was man im herkömmlichen Sinn als Groove bezeichnen würde?

F.: Ich glaube, das ist mittlerweile nicht mehr verpönt.

P.: Meine Erfahrung ist: Es gibt ein paar musikalische Parameter, die in der Neuen Musik fehlen. Wenn ein Stück von A bis Z leise ist, schafft es zwar eine eigene Welt, aber es fehlt etwas.

F.: Ich glaube, es macht einen Unterschied, ob etwas aus ideologischen Gründen fehlt, oder ob es sich um eine bewusste Aussparung handelt. Wenn ich einen rhythmischen Puls habe, den ich jedoch in den Hintergrund schiebe, habe ich ihn als Möglichkeit mitgedacht. Dann habe ich nicht das Gefühl, dass etwas fehlt. Ich habe zwar einen Ausschnitt, aber in dem Ausschnitt ist alles enthalten. Ich glaube, das ist schon ein Unterschied! Wenn ich hingegen sage: Es darf nichts wiederholt werden, weil der Lehrer hat gesagt, es gibt ein Wiederholungsverbot – das wäre eine rein ideologische Barriere. In der seriellen Musik hat es geheißen: Regelmäßigkeit ist banal, also darf man das nicht machen. Das ist ein abgeschlossenes System. Aber Musik muss so weit geöffnet sein, dass auch das Banale darin Platz findet. Ein gewisse Regelmäßigkeit gibt es ja auch im Jazz, aber nicht im mechanischen Sinne. Dort erzeugt die Regelmäßigkeit einen Drive, es gibt Abweichungen. Das ist höchst komplex!

P.: Noch in den 70er Jahren hast du in Jazzspelunken Keyboards gespielt. Wie war dein Weg vom improvisierenden zum komponierenden Musiker?

F.: Ich habe im Jazz grundlegende Erfahrungen gesammelt, die meinen Weg bestimmt haben. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich im Kreis drehe, dass Komponieren und Improvisieren sich gegenseitig die Kraft nehmen und ich mich entscheiden muss. Improvisierend kam ich nicht mehr weiter – höchstens in Richtung technischer Perfektionierung. Das war aber nicht das, was mich interessierte.

P.: Es wundert mich, wie man von der Freiheit des Improvisierens Abstand nehmen kann.

F.: Diese Freiheit konnte ich auch in meiner kompositorischen Arbeit gewinnen!

P.: Kann man eigentlich sagen: Jazz oder improvisierte Musik kommt eher aus dem Bauch, während die Neue Musik kopflastiger ist, da sie sich vermehrt mit Hochgeistigem auseinandersetzt?

F.: Da bin ich vehement dagegen. Ich würde das nicht reduzieren auf das Gegensatzpaar Kopf – Bauch. Das ist gefährlich. Auch im Jazz gibt es sehr intellektuelle Musiker! Ich denke, der einzige Unterschied ist, dass der Jazz von Instrumentalisten entwickelt worden ist. Es ist Musik aus dem Geist des Instrumentes, oft sind das gerade jene Instrumente, die in der Klassik wenig eingesetzt worden sind, Saxophon und Schlagzeug etwa. Die haben erst im Jazz eine richtig große Entwicklung durchgemacht, als eine eigene Musik für sie geschrieben wurde. Da gibt es noch eine Einheit zwischen dem Physischen der Klangerzeugung und dem Denken.

P.: Es wird aber der Neuen Musik sehr oft nachgesagt, dass sie kopflastig sei. Irgendwo muss das ja herkommen! F.: Prinzipiell glaube ich: Zu viel denken kann man nie. Kopflastigkeit wäre für mich ein hermetisches Arbeiten. Kopflastig ist etwas, wo eine Intention, wo ein Wille fehlt. Zum Beispiel jetzt beim Musikfestival der Biennale in Venedig: so viel Musik, die so dahinplätschert und technisch sehr schön gemacht ist. Dann kommt Francisco Guerrero (spanischer Komponist, 1951–1997, Anm.) und man merkt sofort, da ist eine große Kraft dahinter, der will noch weiter! Das ist für mich eine Qualität. Und ich glaube nicht, dass der Guerrero weniger gedacht hat als die anderen. Denken tun sie alle, aber der eine hat mehr Kraft. Verstehst du? Ein Komponist, der sein Handwerk versteht …

P.: Genau, Handwerk! Was gehört in deinen Augen zum Handwerk eines Komponisten?

F.: Ich denke, das müsste noch viel umfassender gedacht werden. Handwerkliches Können bedeutet auch, dass man sich in einen Instrumentalisten, der bestimmte Klänge spielt, hineinversetzen kann. Handwerk ist das Nachvollziehen-Können eines physischen Vorganges, die Einsicht, dass alles Physische auch das Klangliche bedingt, dass jeder Klang so ist, wie er erzeugt wird. Ich hab einmal Salvatore Sciarrino gefragt: Warum schreibst du so toll für Flöte? Bist du ausgebildeter Flötist? Er sagte: Nein, ich habe überhaupt kein Instrument gespielt. Sciarrino instrumentiert unheimlich gut, er behandelt Instrumente nicht wie abstrakte Maschinen, er kann den Produktionsvorgang des Klanges nachvollziehen. Gutes Handwerk ist in meinen Augen, wenn sich jemand die Zusammensetzung eines Klanges wirklich präzise vorstellen kann. Darüber kann man nie genug wissen, ich glaube, dass man sich ein Leben lang damit beschäftigen muss. Zu wissen, der notierte Tonumfang eines Saxophons reicht vom kleinen B bis zum dreigestrichenen F – das kann jeder! Das ist zu wenig.

P.: Als Musiker bekommt man oft Stimmen vorgesetzt, von denen auch der Komponist weiß, dass man sie nicht notengetreu wiedergeben kann. Ist das auch ein Konzept der Neuen Musik, mit dem Unmöglichen zu spielen? Für einen Musiker ist das jedenfalls furchtbar.

F.: Wenn ich wüsste, das ist nicht spielbar, was ich da schreibe, wäre das für mich sehr unbefriedigend, weil daraus eine gewisse Ungenauigkeit entsteht. Bei Stücken von Brian Ferneyhough ist das öfters der Fall, dass die Grenzen des Spielbaren erreicht werden und er dadurch einen Gestus kreiert, der so nur am Rande der Spielbarkeit entstehen kann. Aber man muss trotzdem ganz genau wissen, wo die Grenze ist. Alles andere finde ich ärgerlich.

P.: Wo liegt für dich die Grenze zwischen Kunst und Scharlatanerie?

F.: Ich glaube, was sich in der Musik vermittelt, ist die Freiheit des Komponisten. Ich geh diesen Weg und ich weiß, dass es noch andere Möglichkeiten gäbe, aber ich entscheide mich genau dafür. Das ist durchdacht. Die Grenze liegt dort, wo das Mögliche nicht mehr in Betracht gezogen wird, wo ein Komponist Dinge anhäuft, die er nicht durchschaut. – Ein Extremfall: Bei einem Ferienkurs hat kürzlich ein Komponist einfach eine Tabelle von Mehrklängen abgeschrieben, einen nach dem anderen. Er hat geglaubt, das wäre ein Stück. Das ist natürlich triste Papierverschwendung! Noch viel öder ist, wenn gesagt wird: Dieses Stück ist gut gemacht. Das ist eigentlich ein schlechtes Urteil, weil ich das Gemachte ja höre. Ich höre die Nähte, ich höre wie das gestrickt ist. Ich höre eine Verliebtheit in das Material … aber wo ist die Musik? Das, was ich zwischen den Zeilen als das Resultat, als das Nicht-Gemachte erfahren möchte?

P.: Wie soll sich das Publikum dabei zurechtfinden?

F.: Das erfordert vom Publikum Mut und Selbstvertrauen. Viele fragen sich: Werde ich da jetzt verarscht oder ist das etwas ganz tolles Neues? Es ist für ein Publikum schwer zu unterscheiden, was Qualität und was Scharlatanerie ist, das ist sicher eines der großen Probleme bei der Rezeption Neuer Musik. Aber ich denke, das war zu keiner Zeit anders …

P.: Ich hatte da eine wirklich prägende Erfahrung: Wir haben ein Stück einstudiert, es gab ein 8-taktiges Thema, wirklich schön geschrieben, und alle 4 Takte war es um einen Zwölftelton verschoben. Was haben wir alles gemacht! Ich hab mir die Stelle mit meinem Pro- Tools-Programm am Computer ausrechnen lassen, aber live war das ein Mysterium! Wir haben versucht, uns an irgendeinen Mitspieler zu halten, von dem wir geglaubt haben, er sei richtig. In Wahrheit war es nicht möglich, diesen Part zu auszuführen, nicht einmal der Dirigent hat es gehört und der Komponist auch nicht – und ich weiß, dass dieser Mann alles andere als ein Scharlatan ist. Aber einen Zwölftelton, wer hört das?

F.: Ja … ja –

P.: Oder, ein noch anschaulicheres Beispiel: Bei der Probe für die Wiederaufnahme einer Oper hat niemand, wirklich niemand gehört, dass die ohnedies transponierte Partitur vom Verlag nochmals transponiert und genau so an die Musiker verteilt worden war. Erst nach einer halben Stunde Probe wurde durch die korrigierende Frage eines Musikers herausgefunden, wo der Hund begraben lag.

F.: Oh Gott! … gut, das ist noch einmal ein anderer Fall wie das Beispiel mit den Zwölfteltönen vorhin. Es gibt natürlich eine Grenze. Ich hab zum Beispiel bei einem Stück – einfach, weil ich gewisse Frequenzverhältnisse übernommen habe, die im natürlichen Spektrum liegen – zu bestimmten Tönen dazugeschrieben: „+ 12 Cent“ oder „– 14 Cent“. Jetzt kann man sagen, okay, ob das jetzt minus 14 oder minus 12 ist, hör ich nicht, das wäre nur mit einem Stimmgerät möglich. Die Musiker ärgern sich vielleicht, dachte ich. Ich hab es trotzdem stehen lassen, weil es das natürliche Verhältnis ist. Es funktioniert auch, mit dem Orchester der Oper Zürich hat das wunderbar geklappt.

P.: Aber das ist okay, das ist die Naturterz!

F.: Genau… na ja, das ist natürlich auch ein gewisses Risiko, das man eingeht. Es gibt Komponisten, die gerade in diesen Mikrotönen das Neue suchen, bei ihnen ist Musik immer ein harmonisches Konzept. Für mich ist Harmonik eine Sache, aber dann gibt es noch die Geste, die Bewegung eines Klanges. Bei „nuun“ (das Stück, das bei den Klangspuren aufgeführt wurde, Anm.) gibt es eine konstante chromatische Aufwärtsbewegung, jede Klanglichkeit definiert ihre eigene harmonische Bewegung. Harmonik äußert sich als Gemeinsamkeit eines dynamischen Prozesses. Das ist Bewegung immer irgendwo anders hin, ein Durchgang mit Ziel- und Anfangsklängen. Es ist so, wie wenn verschiedene Stimmen über dasselbe Thema sprechen, ein und denselben Text, aber nicht synchron … oder wenn jede Stimme für sich etwas spricht.

P.: Da wir jetzt so konkret bei der Harmonik angelangt sind, habe ich eine Frage, die ich schon lange beantwortet haben wollte: Wo ist für dich die Verbindung zwischen einem abstrakten Stoff, von dem man im Musiktheater ausgeht, und der Note Fis der Klarinettenstimme, sagen wir in Takt 231?

F.: Das ist gar nicht so abstrakt. Beim Musiktheater gehe ich im Prinzip von den Figuren aus und stell sie mir vor. Ich arbeite gerade an einem Stück, das Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ zur Grundlage hat. Ich habe das Fräulein Else aus dem Text herausgeschnitten, es bleibt wirklich nur das übrig, was mich an dieser Figur interessiert. Alles andere lass ich weg, den Zeitkolorit der Jahrhundertwende, alle anderen Figuren. Ich möchte nur die Bewegungsimpulse dieser einen Figur verstehen. Das ist eine ganz junge Frau, die sich über Projektionen definiert. Einmal träumt sie: Sie heiratet einen Amerikaner, hat eine Villa am Mittelmeer und liegt nackt auf den Marmorstufen. Und dann stellt sie sich wieder vor, dass sie doch den anderen heiraten und ein ganz anderes Leben führen würde. In dem Stück geht es auch um die Verdinglichung der Erotik, es dreht sich immer alles um Zahlen und Geld … Diese Figur untersuche ich. Das ist nicht abstrakt. Ich frage mich: Wie bewegt sich die Figur in einem ganz bestimmten Raum, wie kann sie sich auf der Bühne entwickeln, wie kann ich sie verwandeln? Wie ist das Verhältnis Sprache/Musik? Ich versuche, aus der Sprache heraus die Musik zu entwickeln und dann suche ich die Mittel dazu. Dann finde ich die harmonischen, rhythmischen, technischen Möglichkeiten, um eine Verbindung zu schaffen. Ich hab aus dem Schnitzler-Text ein Libretto zusammengestrichen und jetzt bin ich dabei, die Musik zu konkretisieren. Da gibt’s manchmal eine plötzliche Idee für die Anfangsszene, ich hab einen bestimmten Klang im Ohr, etwas sehr Starkes, Voluminöses: Die Figur ist rundherum immer in Bewegung, man hört sie nicht an einem bestimmten Ort, sie kreist im Raum. Und dann folgt eine Bewegung hin auf die Stimme dieser Frau. Das wird der Mittelpunkt des Stückes sein. Mir kommen einfach plötzlich von da und dort konkrete klangliche Ideen.

P.: Das heißt: Du schickst diese Frau durch den Raum und sofort kommen tausend musikalische Bilder?

F.: Ja, dadurch entsteht die Musik. Ich kann nicht eine Oper schreiben und eine Fraustimme irgendeinen Text singen lassen. Ich muss untersuchen, was diese Frau darstellt. Ist das eine Schauspielerin, die das Fräulein Else spielt, oder ist es wirklich Fräulein Else oder ist das eine Frau, die sich an ihre Jugend erinnert? Es ist ganz wichtig, dass ich das weiß, ganz genau weiß. Diese Figur muss ich angreifen können.

P.: Gut, die Frau ist jetzt da. Was ist der nächste Schritt? Welches musikalische Vokabular verwendest du?

F.: Man möchte ja auch immer das machen, was man noch nie gemacht hat. Es wird sozusagen etwas fortgeschrieben. Ich hatte bei dieser Arbeit am Anfang eine Idee: Dort, wo meine letzte Oper „Begehren“ aufgehört hat, würde jetzt das neue Stück beginnen. Bei „Begehren“ gibt es zwei Figuren, die sich kreuzen, aber in unterschiedlichen Räumen, wie wenn ein Glas dazwischen wäre. Die eine hat als Eurydike begonnen – ganz stilisiert, wie eine Figurine in einem Museum – und war am Ende eine Frau von heute. Und der andere sagt: „Ich war mal Orpheus! Ich hab diese Erfahrung gemacht: Ich bin hinuntergegangen in die Unterwelt und habe gesungen.“ Irgendwo gibt es eine Szene, wo sie sich fast ineinander verlieren. Und dann gehen sie wieder auseinander. Sie sprechen nicht dieselbe Sprache. Es sind immer Beziehungen, die im Entstehen sind.

P.: Und diese Beziehungen legst du dann 1:1 auf die Musik um? Hab ich das richtig verstanden: Die Figuren werden zuerst visualisiert, dann instrumentiert? F.: Das passiert nicht so streng hintereinander. Es gibt oft Dinge, die musikalisch sofort klar sind. Es ist ein Zusammenfügen von Bausteinen. Irgendwann hat man das Gefühl: Jetzt hab ich eine Form gefunden, die dieser Idee einer Figur genau entspricht.

P.: Du hast viel Musik geschrieben, darunter auch drei Opern, die vierte ist im Entstehen. Was gibt es noch Größeres für den Komponisten Beat Furrer?

F.: Sagen wir so: Komponierend erforsche ich den Zwischenraum zwischen Stimme und Sprache. Für mich ist die Beschäftigung mit der Stimme etwas Zentrales, mit der Stimme an sich, in der sich Körperlichkeit so stark vermittelt – noch viel stärker als bei jedem Instrument. Das fasziniert mich immer wieder. Die Stimme versucht, etwas vorsichtig zu verbergen, sie ist unsicher oder wütend oder … Das kann auch jeder Mensch hören! Du hörst sofort in meiner Stimme, in welchem Zustand ich bin. Das ist ja eine unglaubliche Leistung!

 

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