zurück zur Startseite

Das Monument des kleinen Mannes

Der Wissenschaftler Fabian Kanz liest aus Haaren, Knochen, Zähnen und kommt zu überraschenden Ergebnissen: „Der Mensch kehrt nicht zum Staub zurück; etwas bleibt immer übrig.“ Michael Hausenblas hat den in Igls aufgewachsenen Forscher am Wiener Institut für Humanbiologie besucht.

Fabian Kanz hält das Unterkiefer eines Menschen in der Hand. Es stammt von einer Ausgrabungsstätte in Salzburg. „Mittelalter“, sagt Kanz. Dutzende Unterkiefer liegen wie Dominosteine aneinander gereiht auf einem Regalbrett. Kanz beginnt zu erzählen:

„Wenn mir ein Archäologe einen Knochen bringt, ist das erste, was ich zu ihm sage: Welche Fragen hättest Du diesem Menschen gestellt? … Also: Zu Beginn werden die so genannten Basisdaten ermittelt – Geschlecht, Körpergröße, Sterbealter. Diese Informationen sind relativ einfach zu bestimmen. Am Schädel existieren sehr viele männliche oder weibliche Merkmale. Die im Prinzip nicht sonderlich relevante Körpergröße finden wir anhand von Oberschenkel- oder Armknochen heraus. Beim Erlebensalter wird es schon schwieriger. Bis um das zwanzigste Lebensjahr ist es einfach festzustellen, weil der Knochen noch wächst. Später kann das Alter nur anhand von Abnützungsgraden geschätzt werden.

Zum Beispiel die Zähne: Die Abreibung der Kauflächen sagt etwas aus. Der Mensch, dem dieser Kiefer hier gehört hatte, wurde relativ alt, wie man an den abgeriebenen Zähnen erkennen kann. Allerdings hängt das auch von Epochen und Nahrungsgewohnheiten ab. Zu bestimmten Zeiten etwa gab es relativ viel Mühlstein im Mehl, was die Kauflächen zusätzlich beanspruchte – das war wie Schmirgelpapier. Um präzise Auskünfte geben zu können, untersuchen wir den so genannten Zahnzement. Im oberen Drittel der Zahnwurzel bilden sich jedes Jahr zwei Schichten, eine helle und eine dunkle. Das ist ähnlich wie bei den Jahresringen von Bäumen. Der Zahnzement hat die Funktion, den Zahn, der sich durch Abrieb von der Kaufläche entfernt, wieder nach oben zu schieben. Das ist eine Art selbstheilende Presspassung. Wir schneiden den Zahn mit einer Diamanttrennscheibe durch, nachdem er in Kunstharz eingebettet worden ist. Diese extrem dünnen Schnitte werden dann unter dem Mikroskop studiert.

Das ist der Moment, in dem der Mensch für mich auf gewisse Weise greifbarer wird. Ich könnte mir die Frage stellen, ob ich eine Beziehung zu dem Menschen aufbaue, dessen Zahn ich da in Händen halte. Natürlich suche ich die Person hinter dem Knochen. Wenn ich den Menschen auf Grund gewisser Ergebnisse allerdings zu deutlich sehe, kann es leicht passieren, dass ich das Bedürfnis habe, immer weiter zu suchen. Da muss man vorsichtig sein! Irgendwie hat das etwas Psycho-Detektivisches an sich. Man hat schließlich ein Opfer der Zeit vor sich. Und zu einem solchen werden wir letztendlich alle.

Ich möchte, wenn es so weit ist, verbrannt werden. Kann schon sein, dass dieser Wunsch etwas mit meinem Job zu tun hat. Ich werde mich aber rechtzeitig darum kümmern, dass meine Grunddaten in eine Metallplatte eingraviert und der Urne beigegeben werden. Fragt sich nur, was rechtzeitig ist.

Bei der Forschungsarbeit an den Gladiatoren-Skeletten von Ephesos hat mich eines verwundert: Das Interesse der Medien galt vor allem der Geschichte, dass Gladiatoren dicke Vegetarier waren. Das ging um die ganze Welt. Klar waren das ordentliche Pracker! Aber das Thema lediglich auf dieser Ebene in den Zeitungen wiederzufinden, hinterlässt mich auf eine gewisse Art ratlos. Die unglaubliche Brutalität dieser so genannten Wiege unserer Kultur wurde nie diskutiert. Man erheitert sich an dem Gedanken, dass Spartacus und Co als Körndlfresser durch ein meist sehr kurzes und äußerst brutales Leben gegangen sind.

Das mit der Ethik ist so eine Sache. Eine Stadt ist doch im Prinzip auf Knochen gebaut. Ihr Ursprung war eine Kirche. Sobald die Stadt wächst, wächst sie auf ihren Toten. Wenn man heute im ‚Kleinen Cafe’ in Wien sitzt und ein Bier trinkt, befindet man sich über einer Gruft der Franziskaner, in der 300 bis 400 Mumien aus der Zeit des Barock bestattet sind. Es liegen dort unten zum Beispiel Handwerker, die im Dienste des Klosters standen. Man könnte auch viele andere Schicksale entdecken. In der Michaeler-Gruft sind 800 Tote bestattet; der Platz unter dem Stephansdom – ein einziges Gräberfeld. Darauf spazieren die Touristen herum. Im Prinzip wimmelt es nur so von Toten.

Für unsere Forschung bleiben von einem Menschen in der Regel so genannte Hartgewebe übrig, das sind Knochen, Zähne, Haare, auch Fingernägel. Das hängt sehr stark von den Liegebedingungen ab. Aus den Haaren könnte man rein theoretisch sehr viel ablesen. Allein die Haarlänge und die Haarmoden lassen Rückschlüsse zu. Wenn die Haare länger werden, entsteht ein Archiv, das nach außen wächst. Man liest ja oft, dass Drogenkonsum im Haar nachweisbar ist. Es geht aber auch um etwas sehr Intimes. Anthropologen verwenden für ihre Forschungen in erster Linie Haar vom Hinterhaupt. Während eines Tibet-Aufenthalts kam ich in heikle Situationen, denn für den Tibeter ist diese Stelle des Körpers die Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt. Abgesehen von DNA-Analysen sagen uns vor allem die Haarformen etwas. Das asiatische Haar ist kreisrund im Querschnitt, das afrikanische nierenförmig. Auch Haarfarben können je nach Bodenbeschaffenheit rekonstruiert werden. Man glaubte zum Beispiel lange Zeit, dass Pharaonen rothaarig gewesen seien, dabei veränderte der Prozess der Einbalsamierung die Haarfarbe. Das Haarige am Haar ist seine Fähigkeit, Ionen tauschen zu können. Sobald es im Boden liegt, reagiert es auf die natürlichen Einflüsse. Damit werden relevante Signale verfälscht. Ansonsten wäre das Haar als Quelle ideal, da man gerade die Zeiträume kurz vor dem Todeszeitpunkt untersuchen könnte. Haare und Nägel eignen sich auch einwandfrei dazu, schleichende Vergiftungen – zum Beispiel durch Arsen – nachzuweisen.

Knochen an sich sind eine geniale Konstruktion! Ist alles Wasser aus einem Skelett entwichen, wiegt das gesamte Konstrukt nur mehr gute zwei Kilo. Es ist doch ein Wahnsinn, was dieses Gerüst im Stande ist zu leisten! Bis zu 30.000 Jahre nach dem Tod des betreffenden Individuums lassen sich anhand von Knochenmaterial DNA-Analysen durchführen.

Aber viel interessanter ist die Frage: Warum ist der Knochen überhaupt noch da? Letztendlich ist es natürlich eine chemische Angelegenheit, man könnte aber auch sagen: Du bleibst über, weil dich der Boden nicht braucht. Oder nicht will. Wenn du Pech oder Glück hast – das ist in erster Linie eine religiöse Frage – überdauert ein Skelett Jahrmillionen. Man denke an die Dinosaurier. Ich bin natürlich froh, wenn wir liegen bleiben. Ob das so sein soll oder nicht, ist wieder eine andere Geschichte.

Ich denke, der Knochen ist eine biologische Urkunde. Nicht nur für die Wissenschaft. Der Knochen ist ein Monument, das Denkmal des kleinen Mannes. Die Informationen, die in seinem Inneren stecken, sind bis heute nur zu einem sehr geringen Teil lesbar. Sie immer weiter zu entschlüsseln, darin liegt der Reiz meiner Arbeit.

Ich befürchte, man wird im Rahmen der Anthropologie nie etwas über den Intellekt oder die Ausstrahlung eines Menschen herausfinden können. Leidensgeschichten sind da natürlich ein Anhaltspunkt. Wenn ich anhand der Knochen sehe, dieser Mensch hatte über viele Jahre große Schmerzen, kann ich mich, wie bereits erwähnt, ein wenig mehr seinem Gemütszustand annähern. Berühren tut mich so was je nach Alter. Wenn ich ein Skelett untersuche und weiß, der war bereits in der senilen Phase, also älter als 60, dann denk ich mir: Okay, der hat sein Leben gelebt.

Ich schätze, ich hatte bereits mit 15.000 Individuen zu tun. Sehr gut kann ich mich an das Schambein der Prinzessin Arsinoe erinnern, deren Skelett wir vergangenen Sommer untersucht haben. Sie war Cleopatras Schwester und wurde als junges Mädchen im Auftrag von Marcus Antonius und Cleopatra in Ephesos ermordet. Das ist natürlich pikant, aber ich hab mir schon gedacht, wenn du diese Frau zu Lebzeiten berührt hättest, wärst Du schnurstracks erledigt gewesen.

Ich kann mir Menschengesichter im Gegensatz zu Namen über viele Jahre merken und versuche, das auch im Falle von Skeletten und Schädeln hinzukriegen. Das klappt allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Ich dachte immer: Irgendwann wird das wie bei Zeitgenossen funktionieren, denen ich auf der Straße begegne. Dem ist aber nicht so. Ich vermute, das hat etwas mit unserem genetisch bedingten Wahrnehmungsvermögen zu tun. Das ‚Tier’ Mensch benötigt diese Weichteilbedeckung, um erkennen zu können. Man merkt sich ja die feinsten Mimiken – sogar unterbewusst.

Was die Gesellschaft von unserer Arbeit hat? Nun, ich denke, unsere Forschungen sollten dazu beitragen, zu einer viel intensiveren Auseinandersetzung mit dem Tod zu kommen. Der Tod hat in unserer Gesellschaft viel zu wenig Raum. Man muss nur in ein Altersheim gehen und sich genauer umschauen. Und dieses Schicksal blüht vielen von uns. Was die Archäologie oder Geschichtsforschung betrifft, überkommt mich oft das Gefühl, dass in diesen Disziplinen nichts anderes geschieht, als die Spuren der eigenen Eliten zu sichern. Es geht in erster Linie um Architektur, um Monumentalbauten, Denkmäler, die von vergangen Eliten geschaffen wurden. Mir kommt vor, dass auch die Führungsschicht von heute sicher gehen will, ihre Spuren in Form von Monumenten zu hinterlassen. Der Reiz besteht für mich darin, sich von diesem Ansatz zu distanzieren und den Knochen als etwas zu betrachten, was von jedem einzelnen bleibt. Somit können wir untersuchen, wie es den Nicht-Eliten auf ihrem Weg durch die Geschichte ergangen ist. Ich möchte mit meiner Arbeit Geschehenes rekonstruieren.“

Fabian Kanz umschreibt die Anthropologie als „Lehre der menschlichen Variabilität in Zeit und Raum“. Der Forscher, Jahrgang 1969, der am Wiener Institut für Humanbiologie studierte, arbeitet im Dienste der wissenschaftlichen Erforschung von Skeletten. Darüber hinaus will er die Methoden zur Bestimmung von Funden weiterentwickeln.

Einen persönlichen Coup landete der Forscher mit der Entwicklung einer Software zur Dokumentation des Erhaltungszustandes adulter Skelettindividuen, die er auf dem Bildschirm seines Laptops vorführt wie eine computeranimierte Geisterbahn. Das Programm Bone erlaubt eine standardisierte Aufnahme von Gräberfeldern, was Zeit spart und Fehlerquellen beinahe ausschließt. Früher wurde laut Kanz jedes Knöchelchen nummeriert, aufgezeichnet und fotografiert. Mit Bone wird der zu bearbeitende Skelettteil per Mausklick aufgenommen und abgespeichert. Das Skelett wird zum Datensatz, das Gräberfeld zur Datenbank.

Fabian Kanz und sein Partner Carl Großschmidt rekonstruierten auf Grundlage der 1993 auf einem Gladiatorenfriedhof gefundenen Skelette und natürlich mithilfe von Bone Kämpfertypen sowie Todes- und Verletzungsarten. Die Ergebnisse wurden unter anderem im Rahmen der Ausstellung „Tod am Nachtmittag. Gladiatoren in Ephesos“ gezeigt. Ein großer Erfolg waren für das Duo Kanz und Großschmidt auch die anthropologischen Untersuchungen an Mumien für die Ausstellung „Mumien aus dem Alten Ägypten“ im Kunsthistorischen Museum Wien (1998).

Zur Bildstrecke

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.