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Zwischen den Texten

„Über Architektur schreiben bedeutet Transformation von Zeichen, welche durch die Architektur bereits vorgegeben sind.“ – Bernhard Kathan über Lois Welzenbachers Sudhaus und die Frage, wie man Architektur sehen kann.

„Über uns“, erklärte er, als der Wagen in wieder gemäßigtem Tempo durch die Brauereianlagen glitt, „befinden sich die Silos für Gerste und die Hopfenspeicher. Erstere fassen zwölf Millionen Tonnen und bedecken bei dreißig Meter Höhe ein Areal von rund siebenhundert Meter Länge und tausend Meter Breite. Dazu kommen noch eine Anzahl Silos, die als Reservoire für das Darrmalz, das in der Mälzerei hergestellte Zwischenprodukt, dienen, welches dann in der Brauerei weiterverarbeitet wird.“ Der Raum, in welchem sich die Besucher gerade befanden, war niedrig und daher, wenn auch nicht dunkel, so doch in ein gewisses Zwielicht gehüllt, obwohl auch hier Boden, Decke und Seitenwände mit der weißen Emaille bezogen waren. Über ihren Köpfen sahen die Besucher die Klappenverschlüsse der Silos, schier endlose Reihen, und auf Schienen rollte Wagen auf Wagen geräuschlos und selbsttätig, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, einem bestimmten Ziele zu.

Das nach Plänen des Architekten Lois Welzenbacher in den Jahren 1926 und 1931 auf dem Adambräu-Gelände errichtete Sudhaus zählt zu den bedeutendsten Industriebauten der Moderne in Tirol. Wenngleich lange zuvor in amerikanischen Schlachtbetrieben ähnliche Überlegungen verwirklicht worden waren, so war es doch ungewöhnlich, den Ablauf der Bierherstellung vertikal zu organisieren. In der oberen Hälfte des Gebäudes befanden sich Malzsilos und Wassertank, in der unteren die Einrichtungen für den eigentlichen Brauvorgang: Kupferkessel der Maisch- und Würzpfanne, Maisch und Läuterbottich. Dieser Bereich war hinter einer großflächigen Eckverglasung zeichenhaft inszeniert. Mit der Stilllegung der Brauerei drohte dem Gebäude der Umbau in einen Büroturm. Schließlich gelang es doch, Welzenbachers Gebäude zu retten, mehr noch, als Zentrum der Tiroler Architektur zu revitalisieren. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass das Gebäude selbst längst ausgeschlachtet war.

Schreiben: „Es handelt sich darum, ein Material auf eine Oberfläche zu bringen (zum Beispiel Kreide auf eine schwarze Tafel), um Formen zu konstruieren (zum Beispiel Buchstaben). Also anscheinend um eine konstruktive Geste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen (zum Beispiel Kreide und Tafel), um eine neue Struktur zu formen (Buchstaben). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Verb graphein beweist das.“

Die Bodenfläche war mit Wasser bedeckt und glich einem Teich von nicht unerheblichem Ausmaß, der durch die geringe Höhe des Raumes noch größer erschien als er war. Aus dem Wasser ragten in langen Reihen die Hälften kreisförmiger Scheiben, und ein aufmerksamer Beobachter konnte bemerken, daß sich dieselben in langsamer Rotation befanden. Als das Fahrzeug sich senkrecht über der Wasseroberfläche befand, wurden die Scheiben durch Wegfall der Spiegelung als Bestandteil eines Systems von Transportschnecken erkennbar, welche sich in der ganzen Länge durch das Becken zogen und in halbkreisförmigen Rinnen rotierten, aus denen der Boden dieses künstlichen Teiches bestand. Unschwer konnten auch die Besucher erkennen, daß diese Transportschnecken ein Material von körniger Beschaffenheit unter der Wasseroberfläche von einem Ende des Raumes nach dem anderen bewegten. „Das Weichbecken!“ bemerkte Mix erklärend. „Die Gerste wird hier im Wasser zum Quellen gebracht, also aufgeweicht, und zwar dauert es etwa drei Tage, bis sie an das andere Ende gelangt.“

Anlässlich der Eröffnung des „aut. Architektur und Tirol“ im Sudhaus sind eine Reihe sehr kluger Texte zur Revitalisierung des Gebäudes veröffentlicht worden. Sie behandeln die Geschichte des Hauses, haben formale und architektonische Lösungen zum Gegenstand. Würde man jemand, der weder das Bauwerk, noch Abbildungen davon gesehen hat, einladen, ausgehend von solchen Texten das Gebäude zu zeichnen, das Ergebnis würde wohl wenig Ähnlichkeit mit dem Sudhaus aufweisen, und dies trotz vieler detailreicher Hinweise. Freilich würden Architekten darin wesentlich besser abschneiden als Laien. Ein Gebäude zu beschreiben, also mit den Mitteln der Sprache abzubilden, ist ähnlich schwierig wie die Beschreibung von Körperempfindungen. Bautechnische Details, die sich nennen lassen, erlauben letztlich nur eine rudimentäre Vorstellung zur Beschaffenheit des eigentlichen Bauwerks. Solche Vorstellungen lassen sich mit Hilfe der Fotografie besser vermitteln. Allerdings kennt auch die Fotografie ihre Unschärfen. Eindeutig überlegen ist die Fotografie jedem Text hinsichtlich des Erkennungswertes. Gebäude prägen sich durch ihre Abbildungen ein. Die Fotografie lässt keinen Zweifel, dass sich das Abbild einem bestimmten Standort verdankt, dass wir es mit Perspektiven zu tun haben, die häufig durch frühere Aufnahmen vorweggenommen sind.

Fotografieren: „Ein erster Aspekt ist die Suche nach einem Standort, nach einer Position, von der aus die Situation zu betrachten ist. Einen zweiten Aspekt bildet die Manipulation der Situation, um sie dem gewählten Standort anzupassen. Der dritte Aspekt betrifft die kritische Distanz, die den Erfolg oder das Scheitern dieser Anpassung zu sehen gestattet. Ganz offensichtlich gibt es einen vierten Aspekt: Die Betätigung des Auslösers.“

„In dem folgenden Raum, welchen wir sogleich passieren, wandert die Gerste durch gleiche, jedoch nicht mit Wasser gefüllte Rinnen und beginnt zu keimen. Die erforderliche Zeitdauer beträgt jedoch sieben bis neun Tage, und dementsprechend ist der zurückzulegende Weg größer, und die Anlagen ziehen sich durch zwei Stockwerke hin. Es sind die sogenannten Malztennen.“

Die einfachste Form der Beschreibung eines Gebäudes findet sich in seiner Begehung. In einem Sudhaus wird sich diese zwangsläufig am Herstellungsprozess des Bieres orientieren. So löst sich das Bauwerk erzähltechnisch in eine Abfolge unterschiedlichster Perspektiven und Funktionen auf. 1931, also in jenem Jahr, in dem Lois Welzenbachers Sudhaus fertig gestellt wurde, erschien im Wiener Amalthea Verlag Ri Tokkos technische Utopie Das Automatenzeitalter. Hinter dem Pseudonym Ri Tokko verbarg sich der technikbesessene Chemiker Ludwig Dexheimer, der unter den Autoren der frühen deutschsprachigen Science Fiction allein deshalb aus dem Rahmen fällt, da er sich mit Fragen und Möglichkeiten der Architektur beschäftigt. Ri Tokkos Roman spielt im Jahr 2500. Die Technik ist so weit entwickelt, dass menschliche Arbeit, abgesehen von Ehrenämtern weniger, überflüssig geworden ist. Ob Häuser, Produkte des alltäglichen Bedarfs, alles wird zentral und vollautomatisch produziert. Essen wird mit der Rohrpost ins Haus geliefert. In der „Zentralküche“, einer riesigen unterirdischen Fabrik, befindet sich auch eine Brauerei. Welzenbacher war wie Ri Tokko davon überzeugt, dass sich die Welt neu schreiben lässt, sei es mit Hilfe der Technik, Architektur oder Sprache. Ri Tokko – in seinem Roman finden sich viele technik- und industriegeschichtliche Exkurse – dachte sich allerdings das ganze gesellschaftliche Leben als ein einziges großes Sudhaus. Architekt und Schriftsteller, sie sind zwar Autoren, insbesondere dann, wenn sie sich wie Welzenbacher oder Ri Tokko von der Masse anderer abheben, gleichzeitig sind sie aber auch Medien ihrer Zeit.

Werkzeuge des Schreibens: „Um schreiben zu können, benötigen wir – unter anderen die folgenden Faktoren: eine Oberfläche (Blatt, Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben. Die Komplexität liegt nicht so sehr in der Vielzahl der unerläßlichen Faktoren als in deren Heterogenität. Die Füllfeder liegt auf einer anderen Wirklichkeitsebene als etwa die Grammatik, die Ideen oder das Motiv zum Schreiben.“

„Der eigentliche Brauereibetrieb“, erklärte Mix weiter, „beginnt mit dem Abtransport des Malzes aus dem Silo. Wieder werden trommelförmige Mühlen passiert, dann strömt das Mahlgut in einem Mischrohr, dem Maischrohr, wie man es unter Beibehaltung des alten Fachausdruckes nennen kann, mit fünfundsiebzig Grad heißem Wasser zusammen, durchfließt es im Laufe von zwei Stunden unter Beibehaltung dieser Temperatur und unter beständigem Rühren und verläßt die sich anschließende Filtertrommel als klare Maische. Diese gelangt in ein Kochrohr, der Würze- oder Braupfanne der alten periodischen Arbeitsweise entsprechend, in welchem sie zum Sieden gebracht und etwa ein bis zwei Stunden darin erhalten wird; dann wird der Hopfen in bemessenem, ununterbrochenen Strom zugeführt und eine weitere Stunde gekocht.“

Über Architektur schreiben bedeutet Transformation von Zeichen, welche durch die Architektur bereits vorgegeben sind, in eine Abfolge von Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Welzenbachers Sudhaus ist selbst bereits Zeichen. Als Zeichen hebt es sich von seinem bebauten Umfeld wie von der Naturlandschaft ab. Die Außenflächen des Sudhauses bieten Lesarten für das, was im Inneren geschieht. Die großen Fenster dienen weniger dazu, Licht in das Innere des Sudraumes fallen zu lassen oder den Blick auf die umliegende Landschaft freizugeben, sie sollen vor allem Passanten und Passagieren Einblick geben, wenngleich der Herstellungsvorgang selbst diskret bleibt. Von außen betrachtet erinnert der Blick in den Sudraum an schematische Abbildungen, die dazu dienen, die physiologischen Vorgänge im Inneren des menschlichen Körpers zu erklären. Es ist, als sei die Haut eines Körpers aufgeklappt, um einen Einblick auf die inneren Organe zu erlauben. Diese Metaphorik ist nicht abwegig, ist doch die Herstellung des Bieres durchaus mit der Verdauung in Beziehung zu setzen. Da wie dort wird zugeführt, fermentiert, filtriert und ausgeschieden. Und schließlich erinnern die blank polierten Sudkessel an überdimensionierte weibliche Brüste. Mögen die Lesarten letztlich auch indifferent bleiben, entscheidend ist, dass Passanten und Passagiere zum Lesen angehalten werden. Die Präsentation des Sudraumes stand in ihrer Exaktheit den Dioramen naturhistorischer Museen nahe, die ihre Wirkung dem Eindruck verdanken, Natur oder Wirklichkeit zu sehen, obwohl wir es mit Konstrukten zu tun haben. Wie Vitrinen und Dioramen kennt auch das Sudhaus eine Beschriftung. Sie könnte knapper nicht sein: ADAMBRÄU. Das Bezeichnende und das Bezeichnete fällt in eins. Deutlich wird, es geht nicht um die Erklärung des Herstellungsvorganges, sondern um das Produkt, die Marke und ihre Erkennbarkeit. Zweifellos hat Welzenbacher die Glasflächen dem Schaufenster des Kaufhauses entlehnt. Freilich dachte er nicht nur an Bier, sondern vor allem auch an sein Produkt. Er war wie andere Architekten bemüht, die von ihm geschaffenen Bauten mit Hilfe der Fotografie medial bestmöglichst zur Geltung zu bringen. So verbrachte er nach der Fertigstellung des jeweiligen Gebäudes mit Fotografen einige Tage am Grundstück, um das Objekt umfassend zu dokumentieren. Im Interesse der Wirkung scheute er sich auch nicht, Fotos nachträglich zu bearbeiten.

Die Macht der Wörter: „Ein ganzes Gesindel von Wörtern kann sich gegen mich erheben und gegen die Tasten der Maschine andrängen. Eine solche écriture automatique, ein solcher ‚Bewußtseinsstrom’ ist eine Verführung und eine abzuwehrende Gefahr. Es ist schön, in den Strom der Wörter einzutauchen, ihn von innen durch die Finger, über die Tasten der Maschine und gegen das Blatt Papier fließen zu lassen, um die ganze musikalische Schönheit der Wörter, ihren Reichtum an Konnotationen und die Weisheit der Generationen zu bewundern, die sie geprägt haben. Aber ich verliere mich in dem Strom, und die Virtualität, die darauf drängt, in die Maschine getippt zu werden, löst sich auf.“

Der Wagen der Seilbahn glitt durch ein sich bei der Annäherung automatisch öffnendes Tor in einen Raum von nicht übersehbarem Ausmaß, dessen ganze Bodenfläche fast mit gewaltigen Rohren von drei bis vier Meter Durchmesser bedeckt war. Stellenweise waren in diese bei einem Teil der Apparate Trommeln eingebaut. Mix wies mit einer Handbewegung auf diese Röhrensysteme und sagte: „Vierzehn parallele Anlagen bewältigen das Maischen und Würzekochen und bestehen aus je ebensoviel Maisch- und Kochrohren von hundert Meter Länge.“

Die Architektur in ihrer Zeichensprache steht nach wie vor der Handschrift nahe. Wie Fingerabdrücke behauptet die Handschrift die Einzigartigkeit der Person, mehr noch, sie verspricht, Ausdruck eines bestimmten Charakters, bestimmter Begabungen zu sein. Inneres wird buchstäblich nach außen gekehrt und lesbar. Bei der Schreibmaschine entspricht jeder Anschlag einem exakt festgelegten Zeichen. Auf der Schreibmaschine getippte Briefe gelten als unpersönlich. Keine Handschrift, charakterlos eben. Welzenbachers Sudhaus ist ein handschriftliches Zeichen, wenn auch aus Beton, Eisen und Glas geformt. In Ri Tokkos Automatenzeitalter stehen die Gebäude dem gedruckten Zeichen näher. Sie haben alles Handschriftliche abgestreift, werden sie doch in vorgegebenen Formen gegossen. Es handelt sich um serielle Produkte, die nur noch auf Maschinen, aber auf keinen Autor oder Architekten verweisen.

Wie heutige Architekten dachte Welzenbacher seine Gebäude im Sinne möglicher Lektüren. Sein Sudhaus ist diesbezüglich ein beredtes Beispiel: Schriftzug, Schaufenster, Vitrine, Diorama – die weiße Kinoleinwand. Mögen die Benutzer eines Zuges, deren Blick auf das Sudhaus mit den Braupfannen fällt, auch in Bewegung sein, das Präsentierte ist unbeweglich, geradezu stabil. Mit Hilfe der Nanotechnik wird es womöglich bald Glasflächen geben, die sich dem menschlichen Auge je nach Lichteinfall anzupassen vermögen. Auch hier dachte Ri Tokko weiter als Welzenbacher. Ri Tokkos Architektur bringt selbständig neue Lesarten hervor. Ist das Essen beendet, verschwinden Tische und Stühle im Boden, der sich wiederum zu einer Couch formen kann, damit sich Liebende darauf räkeln. In der Grundposition sind alle Räume leer wie ein unbeschriebenes Blatt, ein wesentlicher Grund, warum die Wände bei Ri Tokko keine Unebenheiten kennen. Wie der Film sich einer Abfolge von Bildern verdankt, so produzieren die Räume ständig neue Bilder. Bei Ri Tokko wechseln die Menschen weniger zwischen unterschiedlichen Orten als ständig sich ändernden Texturen. Wahrnehmung und Verhalten der Menschen sind denn auch radikal Ausdruck der Architektur und ihrer Technik. Formt sich die Wand zur Liege, dann soll sie auch benutzt werden. Was aber, wenn sich die Wunschmaschine irrt, die Liebenden sich an andere Orte wünschen?

Die Schreibmaschine: „Ein verbreiteter Irrtum ist der Glaube, daß die Maschine die Freiheit der Geste ‚einschränkt’. Man ist freier, wenn man tippt, als wenn man mit einem Füller schreibt: nicht nur weil man schneller und mit geringerer Anstrengung schreibt; sondern weil die Maschine besser als der Füller das Überschreiten der Regeln der Geste gestattet, und zwar genau deshalb, weil sie die Regeln augenfällig macht.“

Der subtile und überzeugende „Umbau“ des Sudhauses durch die Architekten Rainer Köberl, Thomas Giner, Erich Wucherer und Andreas Pfeifer ist gleichermaßen Ergebnis der Lektüre wie der Zeichenproduktion. An die Sudkessel von einst erinnern heute nur noch große Kreise in der Bodenfläche – die ehemaligen Öffnungen wurden durch Holzbohlen verschlossen. Vermutlich ist es ein großes Glück, dass die Diskussion um den Erhalt des Sudhauses erst begann, als die Kessel bereits demontiert waren. Dies zwang, das Gebäude neu zu denken und bewahrte es vor seiner Musealisierung. In einer Zeit, in der nur noch wenige Konzerne den Biermarkt kontrollieren, wäre es nicht abwegig gewesen, daraus ein Brauerei- oder Biermuseum zu machen. Zum Glück war dies nicht mehr möglich. Das teilweise demolierte Gebäude erlaubte Eingriffe in die bestehende Substanz, etwa Silos und Wasserbecken zu öffnen, um diese Behälter zu Räumen mit neuen Funktionen zu machen, wenn auch unter strikter Bezugnahme auf ursprüngliche Intentionen. Das Ergebnis ist auf eine architektonische Hermeneutik zurückzuführen, die nicht der Versuchung verfällt, das heutige Bauwerk mit dem Original gleichzusetzen. Das Ideal liegt nicht in einem „wiederhergestellten“ Original, sondern in einer Annäherung an dieses, und sei es mit Hilfe von Zeichen oder Metaphern. Das Sudhaus in seinem heutigen Zustand kennt zwar eine neue Nutzung, verweist aber in vielfältigster Weise auf seine ursprünglichen Funktionen; – dies auch in einem metaphorischen Sinn: Die ehemaligen Malzsilos dienen auch heute als Speicher. Überzeugenderweise sind die sich überlagernden Texturen für Rezipienten vielfach erkennbar und dechiffrierbar. Wenn Rainer Köberl und Erich Wucherer in einem Text zu den Umbauarbeiten „die sieben wichtigsten Entscheidungen“ nennen, dann machen sie deutlich, dass durchaus auch andere Lektüren denkbar gewesen wären: „Die vier großen runden Öffnungen wurden im Laufe des Planungsprozesses unterschiedlich geschlossen – komplett mit Gittern, Glas usw. – bis die Entscheidung fiel, einfach Holzbohlen zu verwenden, die auch fallweise entfernt werden können und das Provisorische der Bausituation veredelt nachstellen.“

Schreiben: „Die Geste des Schreibens gehorcht einer spezifischen Linearität. Dem abendländischen Programm entsprechend beginnt sie in der linken oberen Ecke einer Oberfläche; sie rückt bis zur rechten oberen Ecke vor; um auf die linke Seite zurückzukehren, springt sie genau unter die bereits geschriebene Linie und fährt fort, auf diese Weise vorzurücken und zu springen, bis sie die rechte untere Ecke der Oberfläche erreicht hat.“

„Wie man aber bei Trinkwasser die Abwesenheit von Eisenverbindungen fordert, um die Entwicklung von Algen zu verhindern, so ist bei unseren Kochanlagen vollkommene Sterilität aller verwendeten Materialien wie der damit in Berührung kommenden Luft Bedingung. Zudem gibt es Röhrenreinigungsapparate schon lange. Sie bestehen aus mehreren miteinander verbundenen Einzelteilen, Schabern, Messern und Bürsten, welche mittels Wasserdruck durch die Röhren hindurchgetrieben und gleichzeitig durch eine turbinenähnliche Vorrichtung in Rotation versetzt werden.“

Das Ergebnis des Umbaus ist ein Bedeutungswerk – zumal sich die Architekten ausgehend von vorgegebenen Texturen grundlegend mit deren Lektüre und Interpretation befasst haben. In einer landfläufigen Vorstellung schafft der Architekt nicht allein einen Baukörper, sondern ein Bedeutungswerk. Bereits Juan Pablo Bonta, er verfasste eines der wenigen Standardwerke zur Interpretation von Architektur, weist dem Architekten diesbezüglich eine untergeordnete Rolle zu: „Sie schaffen zwar die Dinge, doch ist es der Interpret, der sie klassifiziert und deutet. […] Die Wirkung eines Gebäudes [hängt …] weniger vom Entwurf als von seiner Interpretation ab.“ Bedeutungen von Architektur verdanken sich ihren Rezipienten, vor allem jenen, die sie fotografisch in Szene setzen oder über sie schreiben.

Texte von Architekturjournalisten sind in dem Sinn oft enttäuschend konservativ, als sie eine Narration und Geschlossenheit behaupten, welche die Moderne und mit ihr die Architektur längst verworfen hat. Texte, die in unterschiedlichen Feuilletons zum selben Objekt geschrieben werden, wirken oft austauschbar. Tatsächlich ließen sich auch viele andere Perspektiven erschließen, etwa die von Nutzern, deren Erfahrungen im Widerspruch zu den Behauptungen der Architektur stehen können. Aber es wäre ungerecht, dies allein den Architekturjournalisten zum Vorwurf zu machen. Damit ein Text in der Neuen Zürcher Zeitung etc. abgedruckt wird, bedarf es eines Anlasses (etwa die Eröffnung des aut), eines medienrelevanten Projekts oder eines bedeutenden Architekten (etwa Welzenbacher). Persönliche Kontakte sind von Vorteil. Sind solche Kriterien nicht oder nur ungenügend gegeben, ist es in der Regel schwierig, einen Text unterzubringen, und dies selbst dann, wenn es sich um ein höchst interessantes Bauwerk oder Bauprojekt handelt. Es ist müßig, hier die Frage zu stellen, ob Architektur interpretiert werden soll oder nicht, Susan Sontag zu zitieren, die jede Hermeneutik verwirft und für eine „Erotik der Kunst“ plädiert. Schreiben ist immer ein Interpretationsvorgang, der bereits dort ansetzt, wo man Einzelnes festhält, anderes negiert oder wieder verwirft. Wichtiger erscheint mir, auf die ökonomischen Bedingungen des Schreibens zu verweisen. Ob Architektur oder Architekturjournalismus, da wie dort haben wir es mit Abhängigkeiten und spezifischen ökonomischen Bedingungen zu tun. Dies beginnt bereits dort, wo Architekturjournalisten auf Unterlagen, vor allem auf Bildmaterial angewiesen sind. Meist werden sie mit Material bedient, welches zu Werbezwecken aufbereitet wurde.

Guter Architekturjournalismus lebt vom Begehen, Beschreiten, kennt Neugier und Fragen, scheut sich nicht, vorgegebene Behauptungen außer acht zu lassen. Er kann sich sogar programmatisch geben, die Welt also noch einmal erfinden, das Gebäude noch einmal bauen, selbst über Gebäude schreiben, die nie gebaut werden. Er mag sich Paul Scheerbarts Glasarchitektur, die geradezu programmatisch-leichtfüssig daherkommt, zum Vorbild nehmen. Ohne alle Hierarchisierung entwirft Scheerbart darin ein heiteres Paragraphenwerk künftigen architekturgeleiteten Lebens. Seine Neugier leitet ihn, nicht das, was Redaktionen von ihm erwarten. So kann er denn auch die Pyrotechnik getrost Pyrotechnikern, die Gartenbaukunst Gartenbaukünstlern überlassen. Scheerbarts Glasarchitektur erschien bereits 1914, liest sich aber heute noch erfrischend. Scheerbart war übrigens ein großer Biertrinker. Zweifellos hätte ihm Welzenbachers Sudhaus gefallen, hätte er es gekannt. Scheerbart starb leider bereits 1915, nicht zuletzt am Ekel an einer Welt, die sich der Technik einzig bediente, um Europa destruktiv zu beschriften.

Geflüsterte Wörter: „Meine Arbeit beginnt erst nach meiner Entscheidung, geflüsterte Wörter in Form von Buchstaben der Schreibmaschine zu artikulieren. Zunächst muß ich die Wörter so ordnen, daß das erst nur verschwommen Gedachte zum Ausdruck kommt. Verschiedene Ordnungen zwingen sich auf. Die logische Ordnung: und ich überzeuge mich davon, daß das Auszudrückende sich dagegen wehrt, logisch geordnet zu werden. Man muß das Auszudrückende zurechtschneiden. Sodann ...“

Die Brauereizitate sind Ri Tokkos Das Automatenzeitalter (1931) entnommen. Das Buch wurde 2004 vom Shayol Verlag neu aufgelegt, ergänzt um jene Passagen, die in der Erstausgabe vom Lektor gestrichen wurden. Also auch eine Leerstellengeschichte. Die Zitate zu Schreiben und Fotografie finden sich in: Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bollmann Verlag 1991. Beide Bücher empfehlen sich als Begleitlektüre für Architekturbegeisterte.

 

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