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„Am Horizont die Gefahr, sich zu verlieben“

Seine Gedichte werden in Fellini-Filmen rezitiert, dennoch ist Andrea Zanzotto, der Schriftsteller aus dem Veneto, im deutschsprachigen Raum ein nahezu Unbekannter. Porträt eines Dichters am Küchentisch, hinter dem Fenster die Alpen. Von Thomas Radigk

Topinambur, Helianthus tuberosus, Erdbirne. Gelbe Blüten am Straßenrand. Hier muss es sein. An der Hecke entlang, dahinter ein Garten. Aruffato – zerzaust, verwildert. Schattige Winkel, dunkle Ecken. Ein Tisch, ein Stuhl. Vielleicht arbeitet er manchmal hier. Gibt es eine Klingel? Es gibt eine Klingel. Ohne Namen, ohne Knopf. Sie hängt an einem Draht. Die Einfahrt steht offen. Andrea Zanzotto wartet schon. Die Hände hinterm Rücken verschränkt.

„Wenn wir denken, dass wir überhaupt nicht wissen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen … hinter unseren Schultern, da gibt es etwas Heiliges. Etwas worüber wir zwar sprechen und nachdenken können … aber dieses Heilige hat immer das letzte Wort. Was uns gegeben wird, kommt von irgendwoher, und wir spüren, dass es sich jenseits von uns selbst befindet.“

Früher ist er mit dem Rad gefahren, einfach so, durch die Landschaft. Allein oder mit Freunden. Auch in die Trattoria ist er gegangen und hat beim Kartenspielen zugeschaut. Oder er ist hinunter zum Fluss. An die Piave. Auenlandschaft, Handschmeichler, faustgroß, glatt geschliffen, Pfützen mit Kaulquappen. Keine Menschen. Ein roter Punkt, Lack auf einem Grenzstein, ein Fetzen Plastik, im Gestrüpp verheddert. Spuren von schweren Baumaschinen im Flussbett. Scheu sei er geworden, lebe zurückgezogen in Pieve di Soligo, einem Nest zwischen Treviso und Vittorio Veneto. Seine Gegend, die er kaum verlassen hat.

1921, am 10. Oktober ist er hier geboren. Sein Vater war Zeichenlehrer, Maler und Sozialist, einer der wenigen, die 1929 bei der Volksabstimmung nicht für den Faschismus gestimmt hatten. Giovanni Zanzotto nahm Andrea immer mit zum Malen. Landschaften, Berge, Wälder und Hügel.

„Ohne Distanz, die immer auch eine Distanz des Exils ist, könnte sich der perspektivische Blick nicht formen. Vielleicht habe ich zu lange nur hier, in Pieve geschrieben. Als ich weg war, fühlte ich, dass mir bestimmte geheimnisvolle Impulse fehlten, die von der Landschaft und von den Dialekten kommen – und natürlich auch von den Menschen, die es so nur hier geben konnte. Ein Beispiel: ein schönes Mädchen, wenn ich es in Venedig sah, na ja … aber wenn ich dann hier ein Mädchen sah, vielleicht sogar weniger schön als die in Venedig, hier, auf unseren Hügeln, dann war sie für mich einfach bellissima.“

Andrea Zanzotto lacht. Seine Augen blitzen, wenn er an die Bäckerstöchter denkt, die nach der Schule im Laden bedienten. Endlich konnte man mit ihnen mehr als nur einen Blick wechseln. Die kleinen Zettel, eng beschrieben, unter der Bank weitergereicht. Aber wurde man erwischt, dann hieß es, die Prüfungen im Oktober wiederholen. Die Geographie-Galerie der Schönheiten: Tizia aus Miane oder Caia aus Refrontolo. Wer war die schönste? Wie zu Zeiten Dantes, als Beatrice auf Platz neun unter den dreißig schönsten von Florenz zu finden war. Wussten Sie das? Wir sitzen am Küchentisch. Hinter dem Fenster die Alpen.

„Diese Gegend war für mich immer ein Katalysator. Diese Heimat (er sagt es auf Deutsch), in der etwas ‚Heimliches‘ steckt, an ihren Grenzen gleichzeitig aber auch etwas ‚Unheimliches‘, diese Gegenwart des ‚Unheimlichen‘ lässt den Strom der Poesie fließen, auch wenn es ein Strom von nur wenigen Volt ist. Fast wie das Schicksal, das in uns ist und immer vorwärts schreitet. Und so kommt es, dass sich die Poesie in Momentaufnahmen mit wenigen Versen zeigt. Das sind dann Gedichte, die ich ‚poetiche lampo‘, Blitzpoetik nenne. ‚Mai MaNcate NeVe di Maggio, chi Vuoi salVare?‘ – ‚Mai MaNcate NeVe di Maggio‘, das ist der Schnee im Mai, das sind unsere Voralpen, mit diesen Buchstaben, die in die Landschaft eingeschrieben sind. Sie zwingen fast dazu, die Landschaft zu lesen, als ob die Worte schon in der Landschaft geschrieben wären. Und dann kommt die Aussage, dieses Beharren der Natur, immer sie selbst zu bleiben: ‚chi Vuoi salVare‘, wen willst du retten?“

Einmal waren Dichter Helden. Auch Priester. Sie hatten eine präzise Aufgabe. Sie sollten Ordnung ins Chaos der Welt bringen. Sie haben besondere Gaben. Andrea Zanzotto ist einer dieser Dichter. Und er ist ein Reisender, ein Forscher, der Worte erst zum Schweigen bringt und sie dann befreit. Schon als Kind hörte Andrea den Klang, das Singen, das in der Sprache wohnt. Er las viel, den Corriere dei Piccoli, und erfand mit sieben die erste Reime. Seine Großmutter war eine wunderbar aufmerksame Zuhörerin. Mit sechzehn begann er als Aushilfslehrer zu unterrichten, um die Familie zu unterstützen. Mit siebzehn, an der Universität in Padua, lernte er Gedichte auswendig. Auf Französisch, Deutsch und Englisch. Vor allem Rimbaud, Baudelaire und Hölderlin. Sich in einer Sprache zu unterhalten interessierte ihn weniger, ihn faszinierten der Klang, der Gesang, der versteckte Sinn der Sprache, der in Gedichten deutlich wird. Vokabeln und Grammatik kommen dann wie von selbst.

1942 schließt er sein Literatur- und Philosophiestudium mit einer Dissertation über Grazia Deledda ab. Bis 1975 arbeitet er als Lehrer. Er ist Übersetzer (Balzac, Bataille, Michaux) und Literaturkritiker. Mit einer präzisen Aufgabe: anderen die vielschichtigen Beobachtungen und Erfahrungen auf der Reise ins Innere mitzuteilen.

„Alle, selbst die Bauern wussten damals, dass es Leute gab, die Verse schrieben: Dichter. Und dass die verrückt seien. Und auch schlau, gelang es ihnen doch, ohne Arbeit zu leben. Zum Beispiel D’Annunzio in seinem Vittoriale am Gardasee. Alle wussten, dass er reich war, dass der Staat ihn bezahlte, nur damit er dort sein Alter verbringen konnte. In unserem Dorf hatte es eine Contessa gegeben, die am Wiener Hof die Geliebte eines Schriftstellers gewesen sein soll … Pietro Metastasio. Maria Nina D’Altan, so hieß die Dame. Vielleicht war sie auch nur Metastasios Freundin und vielleicht hieß sie Marianna, denn Metastasio ist doch bekannt für die drei Mariannen, die sein Leben beeinflusst haben. Und eine war also die Maria Nina D’Altan. Meine Großmutter hatte sie noch gekannt, diese verrückte Contessa, die bei der Kommunion in der Kirche die anderen immer einfach wegdrängte. Sie wollte die erste sein. Es gab also diese Geschichte eines Dichters in Wien, am Hof des Kaisers, eine Geschichte von einem Dichter, der gratis gegessen hat.“

Seine Augen werden ernst. Er sitzt kerzengerade auf dem Stuhl. Helles Hemd, graue Hose, breite lederne Hosenträger. Seine Gedanken springen, bauen Brücken zwischen Erinnerungen, Erlebnissen und Beobachtungen. Der letzte heiße Sommer und die Anzeichen einer tief greifenden Klimaveränderung, das Grand Hotel am Abgrund, in dem alle so weitermachen, als sei nichts geschehen, die Staatsmänner, deren Eitelkeit er am liebsten zensieren würde. Langsam blättert er in seinem Buch. Beltà, Schönheit. Nicht bellezza oder Miss Italia. Beltà, fast archaisch, metaphysisch, eher eine Idee, die vielleicht auch im Himmel wohnen könnte. Wie bei Dante, Petrarca oder Leopardi. Nachdenkliches Streichen über die Seiten.

„Es heißt, Beltà sei ein schwieriges Buch. Aber das ist es nicht wirklich. Die einzelnen Kapitel sind Landschaften, die von einem tieferen Licht als andere durchdrungen werden. Dinge, Personen – einfach alles kann schön sein. Aber nur für eine Person, für eine andere schon nicht mehr, und nur unter einem einzigen Gesichtspunkt. Wenn wir den verändern, verliert sich die Schönheit. Schönheit ist also ein Trugbild, das sich in der Wirklichkeit festsetzt, wie und wo sie will. Wir wissen nicht, wann eine Person, ein Ding oder eine Landschaft schön sind, sind sie es doch nur für einen Moment, unter bestimmten, zufälligen Bedingungen, für wenige Minuten, für einen Augenblick, für eine Jahrmillion vielleicht. Wir benutzen ein- und dieselbe Sprache, um in einer Bar einen Kaffee zu bestellen und um ganz sublime Dinge auszudrücken. Und wie immer ergibt sich eine Art Treffpunkt im linguistischen System aus Gewichten, Gegengewichten und den Wundern der Sprache.“

Worte werden Abfall. Sie werden abgenützt, oft nur oberflächlich gebraucht. Das Telefon klingelt. Ein Glas Wasser. Längst sind wir über die vereinbarte Zeit hinaus. Auf dem Weg in den Garten einen Augenblick lang im Arbeitszimmer verweilen. Bücherregale, ein Schreibtisch, ein Sessel, ein Sofa, Wäschekörbe, alles voller Bücher, Zeitungsausschnitte, Notizen und Briefe. Er folgt meinen Blicken.

Keine Fotografien an den Wänden. Weder von den Freunden Pier Paolo Pasolini, Luigi Nono oder Federico Fellini, noch von den Begegnungen mit Tristan Tzara oder Ernst Bloch. Kein Hinweis auf die zahlreichen Literaturpreise, die ihm verliehen wurden. Nicht einmal der Doktorhut. Andrea Zanzotto ist der erste Dichter, den die Universität Bologna mit einer „laurea ad honorem“ ehrt. Und kein Filmplakat. Zanzottos Gedichte werden in Fellinis Filmen „Casanova“, „Die Stadt der Frauen“ und „Schiff der Träume“ rezitiert.

„Ich habe einen unbekannten Leser vor mir, fast einen Bruder, würde ich sagen. Wenn ich daran denke, dass sich unter meinen Lesern ein ‚du‘ befindet, dann kann dieses ‚du‘ von einem ‚du‘, das mit Liebe zu tun hat, zum freundschaftlichen ‚du‘ werden und sich schließlich auf das grammatikalische ‚du‘ reduzieren. Dahinter liegt ein Weg der Enttäuschung, der manchmal wieder ganz andere Richtungen nimmt, ich bin immer auf der Suche nach einem Ohr, das zuhört, nach einer Stimme, die wiederkehrt. Auch wenn ich sie nicht finde, geht es trotzdem weiter. Ein Dichter ist also in einer Situation, in der er die Realität durchbohrt. Er ist einer, der hinter den Erscheinungen den Nicht-Sinn sucht – als Ansporn, immer weiter zu gehen, um den Sinn im Un-Sinn zu suchen. Man könnte sagen, Sinn suchen bedeutet: sich im Unendlichen, im Undefinierbaren, im Nicht-Sagbaren zu verlieren. Und da erscheint dann auf einmal das Fantasma der Mathematik, der Wissenschaften insgesamt, die mit ihrer Anwesenheit immer wieder meine Arbeit mitbestimmen – auch wenn ich nie Wissenschaftler oder Mathematiker war. Viele wissenschaftliche Wörter, vor allem die, die in den allgemeinen Sprachgebrauch eingetreten sind und oft falsch verstanden werden, die habe ich benutzt, um ihre verschiedenen Bedeutungsschichten wieder freizulegen. Diese Worte sollten zu einem lebendigen Wesen werden. Jedes Wort hat eine Geschichte und trägt in seinem Innern die Spuren der Geschichte. Wenn ich jetzt, hier in Italien zum Beispiel das Wort ‚Sonne‘ auf Deutsch sage, dann beginne ich sofort zu denken, die Sonne, weiblich … die Sonne des Nordens, vielleicht ist sie mehr wie ein Löwe, also männlich? Der Mond. Das genaue Gegenteil: la luna im Italienischen, die Freundin luna der mediterranen Tradition. Aber in dem Wort ‚Mond‘ steckt auch mondo, die ‚Welt‘, es kehrt also in die neulateinische Sprache zurück: il mondo. Die Bedeutungen kommen und gehen, wenn man sich von einer Sprache in eine andere begibt.“

Geschichten. Aus dem ersten Weltkrieg. Bauern, die beim Pflügen die Knochen von Soldaten finden. Der Fluss, die Piave, la Isola dei Morti, die Toteninsel. Einmal war das Wasser rot vom Blut. Dahinter Hügel, Wälder und die Berge. Nur kurze Zeit später noch ein Krieg. Er hätte sich bei den deutschen Besatzern melden müssen. Aber, obwohl er krank war und eigentlich immer gedacht hatte, nie 20 Jahre alt zu werden, schloss er sich den Partisanen an.

„Wir verteilten Flugblätter und überbrachten Nachrichten. Das war nicht ungefährlich. Aber dass ich nicht wirklich kämpfen konnte, machte mich traurig, denn ich glaubte an etwas Höheres. Gleichzeitig hatte ich Schuldgefühle, konnten doch jüngere als ich, die vielleicht weniger nachdachten, Großes vollbringen … Schuldgefühle, vor allem dann, wenn einer sterben musste. Ich dachte an diese Toten immer als vorausgeeilte Genossen, die das Maximum erreicht hatten. Uns blieb nichts, als die Erinnerung an sie zu bewahren. Gern denke ich nicht an diese Zeit … In der Zeit der deutschen Vergeltungsmaßnahmen war ich in den Bergen beim Kommando der Partisanen, um neue Befehle entgegen zu nehmen. Unten sah man die Dörfer in Flammen. Eine ununterbrochene Linie von Bränden, von Pieve di Soligo das ganze Tal entlang.“

Nach dem Krieg findet Andrea Zanzotto keine Arbeit. Er muss emigrieren, seine Landschaft verlassen. Er findet in der Schweiz Anstellung als Kellner, Barkeeper und Lehrer in einem internationalen Internat. Er unterrichtet alle Fächer, auch Mathematik (in französischer Sprache). Mit dem ersten selbst verdienten Geld kauft er sich zwei Anzüge und einen Mantel. 1947 kehrt er nach Pieve zurück.

Viel hat sich seitdem verändert. Seine Landschaft ist zerstört. Fabrikshallen, Supermärkte, Mega-Diskotheken. Gestrandete Flugzeugträger zwischen ville, villette, villone, Häuser mitten in den Weinbergen.

„Wenn ich nachdenke, dann … es ist, als ob sich langsam alles auflösen würde. Ich denke also wie der Überlebende einer vergangenen Zeit. Ich sehe eine Blume und vergesse, dass es auch fleischfressende Pflanzen gibt. Einen Augenblick lang denke ich nur an die Blume, denke ich aber weiter, bin ich mit Bösartigem konfrontiert. Trotzdem. Ich schreibe. Ich kann einfach nicht anders. Die Worte singen in meinem Ohr, sie veranlassen mich zu imitieren. Es kommt vor, dass ich ein Gedicht wieder finde, das ich vielleicht vor fünf Jahren begonnen habe … es ist wahr, manchmal kann ein Gedicht bereits ‚fertig‘ entstehen, manchmal kommt es aber auch später, in Wellen. Vielleicht fehlte nur ein bestimmtes Wort, das nach Jahren wie von selbst auftaucht. Ich habe also diesen unbesonnenen, unüberlegten Akt begangen, Gedichte zu schreiben.“

Ein kurzes Lächeln auf die Frage, wann ein Gedicht ein gutes Gedicht sei. Die Meinung eines Dichters zähle nicht mehr als die eines Kritikers oder irgendeines anderen. Eine Einladung, sich und seinen Assoziationen zu vertrauen.

„Es ist schwierig zu beschreiben, da sind die Realitäten des Lebens, Krankheit, ein Trauerfall … und am Horizont, da droht immer die Gefahr sich zu verlieben, (er lacht) die ja manchmal auch … ich will sagen, dass es nichts Schlimmeres als eine platonische Liebe gibt. Es ist wahr, es gibt sie. Ich zum Beispiel habe mich oft und schnell in Mädchen verliebt, die etwas kränklich waren, und mein Verliebtsein war nützlich, um ihnen zu helfen, sie aufzurichten. Diese Liebe empfand ich nicht als körperliche Anziehung, eher als platonische Liebe. Aber diese Art von Liebe ist nicht weniger zerstörerisch als die anderen …“

Er lächelt. Wir stehen auf der Terrasse, schauen in den Garten. Hinter der Hecke die Straße, dazwischen Topinambur. Schade, dass die Pflanze so gern auf Müllhalden wächst. Gegenlicht. Dann, auswendig, ein Gedicht, ein Geschenk: „Über allen Gipfeln ist Ruh“, fast wie ein Gebet, das Grenzen und Barrieren überschreitet.

Andrea Zanzottos Gesamtwerk erscheint auf Deutsch im Folio- Verlag (Wien, Bozen). Bisher: La Beltà/Pracht. Gedichte (Bd. I); Gli Sguardi i Fatti e Senhal/Signale, Senhal. Gedichte (Bd. II); Auf der Hochebene und andere Orte. Erzählungen (Bd. III)

 

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