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Freischwimmen in Graun

Den Reschensee erkennt man an der Kirchturmspitze, die aus dem Wasser ragt. Ulrich Ladurner erzählt die Geschichte eines Kalenderblattbildes, das es wirklich gibt.

Graun ist 1950 untergegangen. Das Wasser stieg und stieg planmäßig, bis das gesamte Dorf in dem neuen Stausee verschwunden war. Nur der Kirchturm ragte noch aus dem Wasser hervor. Jeder, der je über den Reschenpass gefahren ist, kennt diesen Turm. Er ist eine touristische Attraktion, kein Bildband über das Vinschgau kommt ohne ihn aus. Der Stausee, der Kirchturm und im Hintergrund das Ortlermassiv. Ein bizarrer Anblick, der in Form von Postkarten schon zehntausende Male verschickt worden ist. Das versunkene Dorf ist eine weltweite Berühmtheit.

Die Umstände seines Untergangs sind bekannt. Warum und wie Graun geflutet wurde, dass die Bevölkerung sich dagegen bis zum Schluss wehrte, dass der Stromkonzern Montecatini keine Rücksicht nahm, dass er nicht einmal die vertriebenen Bewohner angemessen entschädigte. All dies ist bis ins Detail beschrieben, beklagt und beweint worden.

Bis heute wird die Erinnerung an die Seestauung mit großem Aufwand am Leben erhalten. Alle sind daran beteiligt. Politiker, Priester, Journalisten, Künstler, Werbefachleute, Lehrer, Schüler – sie alle haben im Laufe der Jahre in der einen oder anderen Weise ihren Teil dazu beigetragen, dass die „Katastrophe“ nicht vergessen wird. Jeder hat etwas davon, jeder nimmt sich daraus, was er braucht.

Für Südtirol ist die Seestauung eine von vielen Geschichten, in denen die schuldlosen Südtiroler Opfer einer fremden, größeren, gnadenlosen Macht werden; für Tirolbewerber ist der Grauner Kirchturm eine unverhoffte Sehenswürdigkeit, mit der ordentlich gewuchert wird; für das neue Dorf Graun ist die Stauung das Identität stiftende Merkmal.

Im Jahr 2000 veranstaltete die Grundschule Graun zur fünfzigsten Wiederkehr des Untergangs allerlei Initiativen, unter anderem wurde ein Theaterstück aufgeführt und ein Gedichtwettbewerb abgehalten. Die Schülerin Tamara schrieb:

Das versunkene Dorf

Die Sonne scheint übers Tal.
Ein Bauer spaziert übers Feld ein letztes Mal.
Am Dorfbrunnen ist es still
weil kein Kind mehr spielen will.

Die Menschen müssen verlassen Hof und Haus
und sollen in die fremde Welt hinaus.

Sie verstehen die Welt nicht mehr
dort wo ihre Heimat ist, soll ein Stausee her.

Traurig blicken sie zurück
langsam versinkt ihr Dorf Stück für Stück.

Nur eines blieb bestehen
der Kirchturm ist heute noch zu sehen.


Wenn sich schon Schulaufsätze damit befassen, warum soll hier noch einmal eine Geschichte über Graun erzählt werden? Das ist eine durchaus berechtigte Frage.

Südtirol gehört gewiss zu den besterschlossenen Berggegenden der Welt. Kein Gipfel, der nicht bestiegen worden ist, kein Tal, das nicht beschrieben ist, keine Bergwand, kein Wasserfall, kein Acker und keine Wiese, die nicht Erwähnung finden. In unzähligen Büchern beschreibt sich Südtirol permanent selbst, in den Buchhandlungen stöhnen die Regale unter dem Gewicht der Tirolensien. Alles ist besetzt durch die Selbstdarstellungswut des Landes, alles eingenommen von dem Willen, noch jedem Stein eine Sehenswürdigkeit abzupressen. Und so ist es auch mit Graun und seinem Kirchturm.

Dagegen ist nichts einzuwenden, denn kann es Schöneres geben als ein Land, das sich dauernd selber neu erzählt und auch im kleinsten Detail noch etwas Einmaliges finden will, um sich seiner Existenz zu vergewissern? Kann es Ehrenvolleres geben, als Menschen, die ihre Ahnen ehren und vor dem Gewesenen sich in Respekt verneigen? Gewiss nicht. Aber es bleibt die Frage nach der Freiheit, die Landschaft wahrzunehmen wie er es möchte, sie nicht verstellt vorzufinden durch einen Hinweisschilderwald. Es bleibt der allzumenschliche Wunsch, die Oberfläche zu genießen – und nichts weiter.

Für Graun hieße das: Man möchte gerne am Ufer eine Pause einlegen und den Turm betrachten, ohne gleich die schweren Worte ins Ohr geflüstert zu bekommen:

„… solange hast du deine Heimat nicht gesehen, noch nie hast du deine alte Heimat gesehen, noch nie in Wirklichkeit, durch den Untergang von 50 Jahren …“1

Man möchte über die Wasserfläche des Sees blicken können, ohne dass man Zeilen hören muss wie:

„O gibt es größeres Leid? Und für immer seh’ ich alte Leute mit Tränen in den Augen ihr Haus verlassen.
Der Bernhardiner heulte mit zu den Sternen erhobenem Schwanz, mit Bissen verjagend, die ihn wegzuschleppen versuchten.
Und das „Schwarz Trinali“, uralt, weigerte sich, aus ihrer Wohnung zu gehen. Mit Gewalt – mit Fußtritten wehrte sie sich – musste sie weggeschleppt werden.
Und das letzte Mal hörte ich vom Turm die Glocken wimmern und dröhnen. Ach – o Jammer – unser Herz blutete.“
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Und man möchte durch die klare Luft das weiße Ortlermassiv betrachten, ohne dass einem der Blick vernebelt wird durch Sätze wie:

„… Grauner Turm wacht als Augenzeuge über dem See bis in unsere Tage.
Hart wie ein Stein in der Brust Einsam in sich – der Verlust Der Heimat, nach der ich nun frage.“
3

Es geht also darum sich freizumachen. Das gilt für Graun, aber das gilt auch für alle anderen Tiroler Attraktionen, die solange beschrieben, fotografiert, besungen, gepriesen sind, bis sie keiner mehr erkennen kann.

Wie kann die Freiheit wieder gewonnen werden? Für Graun, für den Reisenden, für den, der hier lebt?

Ein Weg besteht darin, die Trümmer des untergegangenen Dorfes anders zusammenzufügen, freier und leichter – jedenfalls so, dass das Gebilde, das daraus entsteht, einem noch die Luft zum Atmen lässt. Über das Versunkene ließe sich mit guten Gründen eine Geschichte erzählen, die einen weiten Bogen schlägt vom Pioniergeist des 19. Jahrhunderts über Wirkungsmacht vorsokratischer Philosophen bis zu großen Taten im alten Ägypten.

Diese Geschichte geht so:

1967 schlugen die Israelis die arabischen Armeen in weniger als sechs Tagen vernichtend. Sie stießen dabei tief nach Ägypten vor. Der Suezkanal wurde geschlossen. Es war eine wirre, eine dramatische Zeit. In diesem Durcheinander fiel es gar nicht auf, dass Diebe sich an einem Denkmal zu schaffen machten, das am Suezkanal stand. Sie rissen es vom Sockel und verluden es auf einen Lastwagen. Seither gilt es als verschwunden. In Wahrheit aber steht es in dem Garten eines steinreichen arabischen Sammlers, der ein begeisterter Liebhaber europäischer Technik des 19. Jahrhunderts ist. Dieser Prinz ist verrückt nach allem, was irgendwie mit den Pionieren dieser Zeit zu tun hat. Wer ihn fragt, wie denn ein arabischer Prinz solch seltsame Leidenschaft entwickeln kann, bekommt immer dieselbe Antwort. Sie besteht nur aus einem einzigen Satz: „Ich bin einmal mit der Semmering-Bahn gefahren!“ Mehr sagt der Prinz dazu niemals. Danach führt er einen gerne durch seine Sammlung.

Er hat den Raub des Denkmals in Auftrag gegeben, weil er ein großer Bewunderer des dargestellten Mannes ist: Alois Negrelli, 1799 in Primör/Primiero, Trentino, geboren. Eine Wasser- und Straßenbauingenieur und vor allem Eisenbahnpionier. Der Fachmann seiner Zeit. Negrelli hat sich aber deshalb unsterblich gemacht, weil er der Planer des Suezkanals war. Ja, genau. Suezkanal. Nicht der Franzose Lesseps hat den Kanal entworfen, wie bis heute fälschlicherweise immer noch behauptet wird. Es war dieser Österreicher Alois Negrelli. Der Kaiser verlieh ihm wegen seiner Verdienste um das Transportwesen den Titel Alois Negrelli von Moldelbe.

„Lesseps, dieser Franzose“, sagt der sammelwütige arabische Prinz mit verächtlichem Ton, „war nicht nur ein Bankrotteur, sondern eine eitle Persönlichkeit. Er wollte, dass die Welt ihn für den Planer des Suezkanals hielte! Aber da hat er sich getäuscht“, sagt der Prinz mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, „die Wahrheit kommt immer raus!“

Negrellis Tochter, Josefine, führte nach dem Tode ihres Vaters in Paris einen Prozess gegen Lesseps. Sie gewann, und seitdem ist Negrelli als alleiniger Urheber des Suezkanals gerichtlich anerkannt. „Ja, die Wahrheit findet immer einen Weg“, wiederholt der Prinz. Fast immer müsste er sagen. Er selbst nämlich befürchtet keineswegs, irgendjemand könnte entdecken, dass er während des Sechs-Tage-Krieges den Denkmalraub in Auftrag gegeben hatte. Der Prinz hält es für ausgeschlossen, dass diese Missetat je ans Licht kommen sollte.

Wie das alles mit Graun zusammenhängt? Das ist einfach. Der arabische Prinz hätte niemals sein Negrelli- Denkmal im Garten stehen, wenn in einer kalten Märznacht des Jahres 1776 in Graun nicht der Josef Duile geboren worden wäre. Ein kluges Kind war dieser Josef. Das fiel bald schon auf. Der Pfarrer rechnete damit, dass der kleine Duile eine blendende Karriere innerhalb der Kirche einschlagen würde. Das waren allerdings Hoffnungen ohne jede Grundlage, jedenfalls soweit es das Kind selbst betraf. Denn Josef interessierte sich nicht über die Maßen für die Bibel. Auch Gott und die Erforschung seines Willens weckten in ihm keine besondere Lust. Er hatte ganz andere Leidenschaften. Er war vom Wasser in all seinen Formen besessen, ganz gleich ob Fluss oder Wildbach, ob See oder Quelle, ob Regen oder Sumpf; er war davon fasziniert. Als Knabe streunte er viel in den Grauner Angern herum, auf den Äckern rund um das Dorf. Das Moor des Oberlandes verfolgte ihn in seinen Träumen, der durchdringende Geruch und der Nebel, der lautlos aufstieg. Für ihn war es wie der Atem des Teufels. Er ging zum Reschensee und zum Mittersee, er näherte sich mit Ehrfurcht der wuchtigen Etsch und er fürchtete sich vor dem wilden, unberechenbaren Karlinbach. Josef Duile aus Graun machte das Wasser zu seinem Schicksal.

Selbstverständlich war das freilich nicht. Der Pfarrer nämlich ließ nicht locker und die Familie Duile war geradezu darauf erpicht, die Schar der Grauner Priester um die schmächtige Gestalt des jungen Josef zu erweitern.

„Du bist doch so ein aufgeweckter Bub!“, sagte der Pfarrer und tätschelte ihm freundschaftlich den Hinterkopf. Der Vater Josefs war da schon etwas derber: „Jetzt werd halt endlich Pfarrer!“, sagte der und schlug Josef auf den Rücken, dass es ihm fast den Atem nahm.

Das Ansinnen des Vaters war für Grauner Väter völlig normal, es war sogar die Regel. Die Gemeinde hatte nämlich im Laufe seiner gesamten Geschichte einen beträchtlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt, so viele Pfarrer wie möglich hervorzubringen. Der örtlichen Kirche war es gelungen, zwischen den Familien des Dorfes regelrechte Konkurrenz zu entfachen. Welche Familie mehr Pfarrer hervorbrachte, dies war zu einem beliebten Wettbewerb geworden so wie anderswo Diskuswerfen oder Ringen. Tatsächlich war Graun bei seinem Untergang im Jahr 1950 die Gemeinde Tirols, die am meisten Pfarrer von allen hervorgebracht hatte. Über 90 waren es im Laufe von 200 Jahren gewesen – bei einer Einwohnerzahl, die 1950 mit 2400 Menschen ihren Höhepunkt erreicht haben dürfte. Statistisch gesehen brachte Graun alle zwei Jahre einen Pfarrer hervor, und das über 200 Jahre lang.

Josef aber ließ sich nicht überzeugen. Er war stur, aber Sturheit allein hätte diesem Zwölfjährigen nicht geholfen, um dem gemeinsamen Druck des Pfarrers und des Vaters zu widerstehen. Er bekam Hilfe von außen. Sie kam von unerwarteter Seite, vom Wirt des Gasthauses zur Post. Dieser Wirt war ein sonderbarer Mensch. Er war im Dorfe sehr beliebt, daran besteht kein Zweifel, aber doch umgab ihn eine Aura der Wunderlichkeit, die manche Dorfbewohner von ihm fernhielt. Er hatte nämlich allerlei wirre Ideen im Kopf, über die Welt und den Kosmos, über Gott und die Menschen. Der Priester hielt den Wirt unter strenger Beobachtung. Er hatte ihn im Verdacht, ein Ketzer zu sein. Einen Beweis dafür konnte er aber nie finden. Im Gegenteil, der Wirt besuchte wie alle anderen die Kirche. Er betete fromm und spendete reichlich. Zu Ostern nahm er mit Begeisterung am Teatrum Sacrum teil. Das ganze Dorf strömte an diesem Tag in die Kirche und verfolgte mit großen Augen das Schauspiel von der Wiederauferstehung Jesu Christi, die mit Hilfe einer Kulissenschieberei nachgestellt wurde. Die vielen hellen Lämpchen, die bewegten Fassaden, der Tod und die Auferstehung. Das war für Graun eine der wenigen Vergnügungen des Jahres, ein Schauspiel, das Geist, Körper und Seele erfrischte. Der Wirt war immer dabei, er kam sogar früher als die anderen in die Kirche, nur um einen der vorderen Plätze einzunehmen und das Teatrum Sacrum aus nächster Nähe beobachten zu können. Nein, er war kein Ungläubiger.

Der Wirt verschlang jedes Buch, dessen er habhaft werden konnte. Eines Tages fielen ihm zufällig Schriften der Vorsokratiker Heraklit und Demokrit in die Hände. Ein durchreisender Pilger hatte sie zurückgelassen, im Tausch für das Essen, das er nicht mit Bargeld hatte bezahlen können. Der Wirt nahm sie nur zu gerne an. Noch am selben Abend begann er zu lesen, manches verstand er, vieles begriff er nicht. Aber was er da las, gefiel ihm. Er begeisterte sich sogar so sehr darüber, dass er bald den Dorfmaler kommen ließ und Demokrit und Heraklit, so wie sie in den Büchern abgebildet waren, an die Holzwand der Gasthausstube malen ließ. Es waren seine neuen Heiligen.

Wenn es regnete, dann flüchtete der kleine Josef zum Wirt. Er mochte diesen Mann, der so freundlich und anders war als die anderen. Während Josef in der Stube saß, gab der Wirt seine neuesten Erkenntnisse preis. „Demokrit sagt, dass wir alle aus Atomen bestehen. Wir sind Seelenatome, und wenn wir sterben, dann kommen die Seelenatome mit dem letzten Atemzug aus uns heraus!“ So etwas mochte weder der Wirt noch Josef verstehen können, aber darum ging es auch gar nicht, sie spürten und verstanden, dass es noch eine große weite Welt gab, die mit der Kirche nichts zu tun haben musste, die Welt des Geistes. „Pantha rei, pantha rei! – Alles fließt, alles fließt!“, wiederholte der Wirt immer wieder, wenn er Josef berichtete, was er von Heraklit verstanden hatte. „Pantha rei, pantha rei!“ entgegnete er mit einem verschmitzten Lächeln allen, die ihn auf die Vorsokratiker in seiner Stube ansprachen. Viele fragten danach, denn es war durchaus ein befremdlicher Anblick, Heraklit und Demokrit in einer Obervinschgauer Wirtshausstube zu sehen, inmitten von Bauern, Pferdehändlern, Handwerkern, Pilgern und Handelsreisenden.

Nun gut. Der Wirt der Post bestärkte Josef darin, nicht Priester zu werden, sondern seiner Leidenschaft nachzugehen, dem Wasser. Er schärfte ihm dabei ein: „Heraklit hat gelehrt, dass die Welt aus Gegensätzen besteht. Sie bewegt sich nur fort, wenn diese Gegensätze aufeinander prallen. Sonst gibt es Stillstand. Tod! Verstehst du?“

Josef leitete für sich daraus ab, dass er gegenüber dem Vorhaben des Pfarrers und seines Vaters stur bleiben müsse. „Davon hängt das Schicksal der Welt ab!“, das glaubte er mit dem Ernst, zu dem nur ein Zwölfjähriger fähig sein kann. Diese neu gefundene Überzeugung schleuderte er dem Pfarrer und Vater entgegen: „Es hängt die Welt davon ab! Es hängt die Welt davon ab!“, rief er so lange, bis beide kopfschüttelnd aufgaben. Da sie weiter an sein Talent glaubten, schickten sie ihn zum Studieren des Ingenieurwesens nach Innsbruck. Bald wurde er, wie es im „Österreichischen Biographischen Lexikon“ vermerkt wird, „zum theoretischen Begründer und praktischen Bahnbrecher der Wildbachverbauung“. Josef Duile hatte seine Bestimmung gefunden. Er war zum Wasserbändiger geworden. In Innsbruck lehrte Duile auch, und unter seinen Schülern befand sich jener Alois Negrelli, der später den Suezkanal entwerfen sollte. Begierig nahm er alles auf, was Duile über das Wasser wusste. Er war einer seiner besten Schüler. Ist das verrückt oder alles nur Lüge?

Es empfiehlt sich ein Besuch im Museum Neu-Grauns, um das zu prüfen. „Naja, Museum, das wird es vielleicht mal“, sagt der Lehrer Peter Pircher, der jeden Gast durch die Räume führt und kenntnisreich und mit großer Wärme berichten kann. Alles, was in dieser Geschichte erzählt worden ist, lässt sich in dem Museum finden: Demokrit und Heraklit in der Stube, das Teatrum Sacrum, die Priester in so großer Zahl, Josef Duile, Alois Negrelli, selbst die Geschichte vom Verschwinden seines Denkmals ist wahr – nur der arabische Prinz, vom dem hört man nichts in dem Museum. Das ist allerdings ein Detail, und es muss hier jetzt nicht unbedingt erforscht werden muss.

Diese eine Geschichte über Graun ist jetzt erzählt. Lässt sich behaupten, dass ein Betrachter des Turms im Stausee nun etwas mehr Freiheit genießt?

Das könnte man behaupten. Zumindest war nicht schon wieder die Rede vom Leid, welches das Dorf erfahren musste. Es wird allerdings jedem einzelnen überlassen, es letztgültig für sich zu entscheiden, ob er diese Geschichte annehmen will.

Sicher ist, dass Graun etwas weniger düster wirkt, weniger schwer, dass es auf einem nicht lasten muss wie ein träger, fetter, uralter Alb. Wer jetzt an Graun denkt, darf an den Orient denken. Wer jetzt an Graun denkt, kann den Suezkanal sehen, Demokrit, Heraklit und ihre weit und hoch fliegenden Gedanken. Ist das nicht erleichternd?

Wer sich überhaupt nicht überzeugen lassen will, sollte ein wahrlich erschütterndes Bild betrachten. Es zeigt die Bürger Grauns am 26. Juli 1949. In einer langen Prozession zieht die gesamte Gemeinde noch einmal über die Äcker, durchquert die rund 500 Hektar, die bald unter Wasser gesetzt werden, sie zieht vorbei an der Kirche, die gesprengt werden wird, an den Häusern, die geflutet werden. Die Menschen tragen ihr eigenes Dorf zu Grabe. Die Trauer ist auf dieses Foto gebannt, ganz gegenwärtig ist sie. Wuchtig stellt sie sich dem Betrachter in den Weg. Der Zug der Menschen ist so lange, dass der Fotograf ihn nicht auf einem einzigen Bild unterbringen kann. Das verstärkt nur die Vorstellung, dass hier unendlicher Schmerz sich zeigt. Leicht könnte man erstarren bei der Betrachtung dieses Bildes.

Es ist gesünder auszubrechen, zum Beispiel mit einer weiteren, ganz und gar wahren Geschichte. Nämlich die, wie es dem Josef Duile im Vinschgau gelang, sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere doch noch unbeliebt zu machen. 1855 ging er daran, einen alten Traum zu verwirklichen, indem er einen Teil des Gebietes zwischen Reschensee und Mittersee entwässerte. Er wollte sich wahrscheinlich am Moor rächen, weil es ihm, als er noch ein Kind war, solchen Schrecken eingejagt hatte. Das gelang ihm auch. Er legte das Moor trocken. Aber völlig unerwartet brach der Mittersee aus seinem Wasserbett. Er ergoss sich ins untere Vinschgau. Die Flut richtete weiträumige Zerstörung an. Noch heute ist an der Stadtmauer von Glurns ein blauer Strich zu sehen, als Zeichen dafür, wie hoch das Wasser stand – höher als jeder Mensch wachsen kann. Natürlich haben die Leute geschimpft über diesen Duile, diesen ehrgeizigen, hochnäsigen Ingenieur, der glaubte, die Natur herausfordern zu können. Manche sagten: „Er hätte doch besser Pfarrer werden sollen. Die in Graun werden doch alle Pfarrer. Warum nicht auch der Duile?“

Darauf könnte man nur antworten: Dann gäbe es sehr wahrscheinlich keinen Suezkanal.

1   In: Erinnerungen an die alte Heimat, Gemeinde Graun, 2000
2   Josef Mall, ebenda, S. 72
3   Christian Lutz, ebenda, S. 107

 

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