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Otmar Suitner, real existierender Dirigent

Gut drei Jahrzehnte lang bekleidete Otmar Suitner höchste musikalische Ämter in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: erst als Chefdirigent von Wagners „Wunderharfe“ in Dresden und ab 1964 als Generalmusikdirektor der Staatskapelle an der Berliner Lindenoper, wo er mit insgesamt 26 Dienstjahren einen absoluten Rekord aufgestellt hat. Was führte den gebürtigen Tiroler in die DDR? Wieso begibt sich ein bekennender Katholik freiwillig ins wohl religionsfeindlichste aller Systeme? Wie lebte es sich als Vollblutmusiker im real existierenden Sozialismus, wo die Kunst einzig als ideologische Waffe im Klassenkampf galt? Von Michaela Nolte

Otmar Suitner ist eine Ausnahmeerscheinung. Als Wanderer zwischen den einstigen Machtblöcken, vor allem aber am Dirigentenhimmel. Die Bandbreite seiner Konzert- und Opern-Interpretationen passt in keine Schublade, kaum eine Epoche vom Barock bis in die jüngere Zeit, die Suitner in den rund 50 Jahren, in denen er am Pult stand, nicht durchschritten hätte. So resümiert das Magazin klassik.com, „dass es in der Vergangenheit kaum einen, in der Gegenwart keinen Dirigenten gegeben hat oder gibt, der über ein annährend großes Repertoire bei solch hoher künstlerischer und stilistischer Qualität verfügt. Es muss als überaus bedauerlich gelten, dass seine musikalischen Fähigkeiten, auch aus politischen Gründen, einer breiten Öffentlichkeit im westlichen Teil Deutschlands so lange verborgen geblieben sind.“

Dabei hat Suitner weltweit die berühmten Konzertpodien bespielt: von Mailand bis Moskau, von Buenos Aires bis Paris, bei den Philharmonikern in Wien, Berlin und München hat er ebenso gastiert wie an der Oper in San Francisco oder beim japanischen Rundfunk-Symphonie-Orchester. Während der San Francisco Chronicle anlässlich seiner Wagner-Zyklen in den 70er-Jahren über den „neuen Superstar“ jubelt, das renommierte Tokioter Orchester, mit dem er 20 Jahre lang zusammengearbeitet hat, ihn zum Ehrendirigenten ernannte, stand Suitner hierzulande im Schatten der Mauer. Auch Dirk Stöve, dem das Verdienst zukommt, vor drei Jahren die erste Suitner-Monographie geschrieben zu haben, bemerkt: „Österreich und vor allem die BRD lagen eher an der Peripherie seiner Reiserouten.“

Otmar Suitner hat seine eigenen Schwerpunkte gesetzt, mit der Musik als Generalbass. Die Klaviatur der „Geldscheinsonate“ war sein Metier nicht. In Klaus Umbachs gleichnamiger Polemik, die mit den Gold-Kehlchen und Pult-Diven des Klassik-Betriebs abrechnet, sucht man ihn darum auch vergebens. „Suitner ist völlig unterbewertet, der ist beim falschen Label“, bringt es ein Branchenkenner auf den Business-Punkt. Unweigerlich denkt man an den Salzburger Herbert von Karajan, der ja quasi parallel zu Suitners Ost-Berliner Jahren auf der anderen Seite der Mauer mit den Philharmonikern seinen Feldzug als erster Pult-Star des Medienzeitalters antrat – was der Hightech-Maestro nicht zuletzt seinem Geschick als Vermarkter seiner Selbst und seiner Tonaufnahmen verdankte. Aus Noten Banknoten zu machen, verstand Karajan wie kein E-Musiker vor ihm; und Salzburg munkelte, dass ihm Sony wichtiger sei als Mozart.

Wie das personifizierte Kontrastprogramm erscheint Otmar Suitner dagegen. Wenn Suitner im globalen Klassik-Rummel ein großer Unbekannter blieb, so sieht er das gelassen: „In der Kunst zu arbeiten, das meint, meiner Meinung nach, auch die Kunst des Sich-Zurück-Ziehens, gleichsam den Weg in die Einsiedelei einzuschlagen. Wenn man den Luxusgütern zu sehr nachjagt und versucht, alles zu bekommen, bewirkt das zunächst eine gewisse Unkonzentration in künstlerischer Hinsicht. Dann geigt man besessen für den neuen Wagen, auf den man hier beispielsweise zwanzig Jahre warten musste. Hier geigte man aber trotzdem, und das wirkte sich auf den Charakter aus.“

So mag das Insel-Dasein seinem Wesen entgegen gekommen sein, sich eben durch nichts von der Berufung ablenken zu lassen. Seine Leidenschaft galt dem Schachspiel und vor allem der Literatur der Romantik, an der Suitner „das Ganzheitliche, den Einbezug von emotionalen Erschütterungen in die Sphäre des Vernünftigen“ schätzt.

Suitner, der als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper zwar stets den Ensemble-Geist hochhielt, war ebenso darauf bedacht, das Haus, so weit es die Finanzen erlaubten, mit internationalen Gästen auf hohem Niveau zu halten. In San Francisco hatte er Luciano Pavarotti getroffen und um einen Auftritt an der Lindenoper angefragt. Die 20 000 Dollar, die der Star-Tenor damals nur kostete, hätten das Budget jedoch gesprengt. Als das Belcanto-Wunder einen Naturalientausch in Form eines Rennpferds anstelle der Gage vorschlug, wollte Suitner schon einwilligen. Denn dass ein solches Edelross das Vielfache selbst einer Pavarotti-Gage kosten würde, lag außerhalb seines Bewusstseins.
Auch das nimmt für diese markante, eigenwillige und immer etwas geheimnisvolle Persönlichkeit ein. „Er hat etwas Nestroyartiges, diesen scharfen, doppelbödigen Humor“, sagt der Berliner Musikkritiker Karl Klebe über Otmar Suitner. „Typisch österreichisch“, findet ihn ein Exil-Tiroler: „Er hat einen Orden vom Papst genommen und zugleich vom Stalin.“ Der Orden für den Nationalpreis der DDR kam natürlich nicht von Stalin, sondern vom Staatsratsvorsitzenden Ulbricht und wurde ihm vorsichtshalber auch nur 2. Klasse verliehen; denn den Segen der politischen Führung hatte der Dirigent aus dem westlichen Ausland mitnichten.

Mit dem Geld für den Nationalpreis der DDR hat Suitner die katholische Kirche unterstützt. „Das war ja Teufelsgeld, das hab ich für den Wiederaufbau der Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche gestiftet und später hab ich eisn weiteres Preisgeld den Sängerknaben der Hofkapelle vermacht.“ Derart geweiht, kam das Teufelsgeld auch bei Papst Paul VI. gut an, der ihn in den Stand eines „Komturs des Gregorius-Ordens“ erhob. Bei der Audienz hat ihn der Heilige Vater allerdings als Otmar Suitner aus Polen vorgestellt. „Die DDR war für ihn einfach nicht existent. Aber dann hat er mich beiseite genommen, und sich in lupenreinem Deutsch erkundigt, ob die Hörner der Dresdener immer noch so phantastisch seien.“ Derlei beeindruckt Suitner bis heute; aber insgesamt trägt er auch den päpstlichen Ritterschlag mit Humor. Auf eine Uniform, mit der die Ordensträger einmal jährlich zu Feierlichkeiten einreiten dürfen, verzichtete er: „Die sollte mehrere Tausend kosten, und reiten konnte ich eh nicht.“

Suitners Aufstieg als Musiker verlief eher ungewöhnlich; denn auf eine künstlerische Laufbahn wies 1922, als er in Innsbruck das Licht der Welt erblickte, nichts zwingend hin. Der Vater stammte aus einem Oberinntaler Bauerndorf, die Mutter aus einer italienischen Eisenbahnerfamilie. Kein großbürgerliches Ambiente, wo der Flügel zum angestammten Inventar gehörte. Auf der Hohenburg in Igls spielte Eugen d’Albert in der Villa von Rudolf Fischer. Vater und Sohn lauschten von draußen. Man gehörte nicht zu diesen Kreisen, aber am geöffneten Fenster wurden die Liszt-Rhapsodien für den Knaben zum eindringlichen Hörerlebnis. Mit sieben Jahren begegnete er Wilhelm Backhaus, und der Berufswunsch stand fortan fest: Suitner wollte Pianist werden. Die Eltern förderten ihn nach ihren Möglichkeiten, aber ohne hehre Ambitionen. „Dann hab ich das Klavierspielen angefangen und mein Vater sagte: Mein Ziel wäre es, dass du mir einmal im Leben meinen Lieblingswalzer Rosen aus dem Süden von Johann Strauß vorspielen könntest. Dann wär’ ich schon zufrieden.“ Bescheiden ging es bei den Suitners zu.

Bescheidenheit, Klarheit, Leuchtkraft sind denn auch Worte, die im Zusammenhang mit Otmar Suitner immer wieder fallen. Attribute, die den Dirigenten wie auch den Menschen konturieren. Leitfaden durch ein Leben, in dem „das sanfte Gesetz“ den Takt vorgibt. Adalbert Stifter hat es in seiner Vorrede zu „Bunte Steine“ beschrieben, Suitner hat es sich zur persönlichen Maxime gemacht, die Kraft des Kleinen zu würdigen. Seinen Stifter liest und zitiert er mit Vorliebe – gleich ob es um den Zusammenhang von Piano und Fortissimo geht oder um Anton von Webern, über den er sagt: „Dieser Mann hat Gräser gesammelt. Das ist für mich die Quintessenz zeitgenössischer Musik“. Wenn man Weberns Konzertstücke für Orchester hört, wird deutlich, was Suitner meint. Erklingt doch hier die Musik so überaus sacht, dass sie gleichsam am Rande der Stille zu entstehen scheint. Das Stiftersche Naturidyll und dessen Bergwelt, mit all ihren Höhen und Abgründen, hallen in Suitner nach; als steter Begleiter durch sein Leben und als unsichtbare Verbindung zu seinem Herkunftsland.

In Tirol allerdings glaubte man den verlorenen Sohn mit dem Teufel im Bunde. Warum lässt sich einer, der im Westen auf eine sichere Karriere blickt, weder vom Kalten Krieg noch vom Mauerbau schrecken? Im August 1961 gastierte Suitner mit der Staatskapelle Dresden bei den Salzburger Festspielen. Ganz selbstverständlich ging er in die DDR zurück und forderte das auch von seinen Musikern. Noch 40 Jahre danach spricht Suitner von dem Orchester als „hervorragendem Kollektiv“, das er einfach zusammenhalten wollte. Rückblickend kürte ihn die Welt dafür 2002 zum „Wächter mit Taktstock mitten im Kalten Krieg: ein dirigierender Treuhänder am Pult“. Während im gleichen Jahr die Frankfurter Allgemeine Zeitung monierte, dass er die Vorzüge des Musiklebens „unter der sozialistischen Käseglocke“ noch gepriesen habe, als es rundum tauwetterte. Und die Verwandten daheim fragten schon mal: „Ham die Russen dich gefoltert? Da gab es ja eine ablehnende Einstellung gegen die DDR. In dem heiligen Land Tirol speziell.“

Argumente für Vorurteile jeglicher Art hatte die Presse westlicher Provenienz seit jeher kolportiert. Der Spiegel verpflanzte Suitner 1967 kurzerhand in das „DDR-Fürstentum“ Wandlitz, das geheime Villenviertel Walter Ulbrichts. Ein „Monatseinkommen von etwa 30 000 Ostmark“ des Generalmusikdirektors wird als Beispiel für die Klassen-Unterschiede angeführt, demgegenüber eine Ost-Rentnerin mit weniger als 300 Mark auskommen müsse. Andere Quellen meinen gar zu wissen, dass Suitner sein Salär in harter West-Währung erhalten habe. Wie weit Dichtung und Wahrheit auseinander klaffen, ahnt man beim Blick auf Suitners Wohnhaus. Das ist immer noch dasselbe wie damals und auch nicht in Wandlitz; überdies nimmt es sich nicht besonders protzig aus. Die Privilegien im sozialistischen Deutschland werden Suitner kaum gelockt haben.

Der Geist Richard Strauss’ war es, der ihn 1960 nach Dresden zog. Nach Stationen als Musikdirektor der Oper in Remscheid und beim Pfalzorchester Ludwigshafen kam das Angebot, der Dresdner Staatskapelle als Chefdirigent vorzustehen, dem 38-Jährigen wie ein Quantensprung vor. Unter Ernst von Schuch und Karl Böhm war der Klangkörper der einstigen Dresdner Hofoper zum Strauss-Orchester par excellence avanciert. Und noch heute schwärmt Suitner vom idealen Klangbild des traditionsreichen Orchesters. Da pocht das italienische Blut, das er von der Mutter geerbt hat: „Die haben einen südlichen Klang. Dresden war immer schon südlich orientiert. Elb-Florenz eben. Auch die Baumeister waren ja vor allem Italiener. Es wurde aber alles nach Berlin gezogen. Kaum hab ich einen Sänger entdeckt, ging er nach Berlin. Die Annelies Burmeister zum Beispiel, der Theo Adam, auch der Peter Schreier ging … Wenn das alles normal gewesen wäre, dann wär’ ich wie mein wohl auch 40 Jahre in Dresden geblieben.“ Als 1964 auch an Suitner der Ruf an die Staatsoper Unter den Linden herangetragen wurde, schien zudem ein weiteres Lebensziel erreicht. Denn hier hatte Richard Strauss als Kapellmeister und Generalmusikdirektor gewirkt. Da verstand es sich von selbst, dass eine solide Stellung in Hannover und eine lukrative Offerte aus Hamburg, die zeitgleich winkten, die künstlerische Ehre nicht aufwiegen konnten.

Bis heute gehört Suitner, neben seinen weltweit gerühmten Wagner-Interpretationen, zu den kongenialen Strauss-Exegeten. Und wenn Ernst Krause, der Doyen der DDR-Musikkritik, über den Grandseigneur am Pult schrieb: „Hier schwimmt nicht einer im uferlosen Strom des Orchesters; und erst recht rudert hier keiner mit Armen und Händen“, so scheint dies unter anderem auf Strauss zurückführbar zu sein. Dessen Dirigat war bisweilen kaum sichtbar und in den letzten Jahren so minimalistisch, dass er die Linke höchstens eingesetzt haben soll, um auf seine Taschenuhr zu blicken.
Tonangebend für Suitners sparsame und präzise Schlagtechnik war jedoch Clemens Krauss. Zwar schickte das mächtige Takt-Genie den Eleven am Mozarteum nach dem ersten Vorspiel mit den Worten: „Warum dirigieren’s denn Schlangenlinien?“ zu seinem Stellvertreter. Doch der zweite Anlauf glückte, und Krauss wurde nicht nur Suitners Lehrer, sondern auch sein Protegé; vermittelte ihn 1941 ans Tiroler Landestheater und gab ihm Gelegenheit, den Proben zu seinen Richard Strauss-Aufführungen beizuwohnen. Zumal in Anwesenheit des Komponisten, der dem jungen Dirigenten und Korrepetitor einen außergewöhnlichen Auftrag anvertraute: In Innsbruck konnte Suitner den „Rosenkavalier“ nicht nur einstudieren; auf Grund des knapp besetzten Ensembles durfte er eine abgespeckte Variation schreiben. Nicht zuletzt diese Begebenheit erklärt Suitners Pflege und Weiterführung der Traditionslinie Mozart-Wagner-Strauss.

Die Weihen Bayreuths wurden Suitner in den Jahren 1964 bis 1967 zuteil. Auf dem Grünen Hügel dirigierte er Tannhäuser, den Fliegenden Holländer und den Ring des Nibelungen. Inszeniert hatte jeweils Wieland Wagner, dessen Neuerungen in puncto Regie, Suitner aus dem Orchestergraben kongenial spiegelte. Seine „Auflichtung der Wagnerschen Tonmassen“ bedachten Rezensenten und Publikum gleichermaßen mit Ovationen. Und die Fachzeitschrift Opernwelt betonte Suitners exemplarische Erneuerung der Oper aus dem Geiste der Musik.
„Mein Ring war ja der schnellste. Richard Wagner hat einmal geschrieben, dass ein guter Kapellmeister das ‚Rheingold’ in zwei Stunden spielen muss. Das hab ich nicht geschafft. Zwei Stunden und fünf Minuten hat’s gedauert.“ Eigentlich war das Bayreuther Engagement langfristig angelegt. „Aber der Wolfgang hat nach Wielands Tod ja alle rauskatapultiert, die vom Wieland waren. Die waren ja spinnefeind“, sagt Suitner rückblickend und untermauert das mit einer Anekdote vom Kollegen Hans Knappertsbusch, dem das Herz scheint’s sehr weit vorn auf der Zunge lag. „Der Knappertsbusch hat den Wieland und den Wolfgang genommen und hat denen gesagt: Wenn man Euch beide so sieht, dann kann man ahnen, was Euer Großvater für ein Arschloch war.“ Suitners eigene Diktion ist wahrlich feiner und geschliffener. Aber wenn’s passt, zitiert er eben gern einmal ein zünftiges Bonmot des geschätzten Kollegen. Hohe Kunst und Menschliches, Allzumenschliches schließen sich für den Maestro eben nicht aus. Unprätentiös und mit Sinn für Selbstironie gesteht er bei einer Orchesterprobe: „Jetzt gefällt mir dieses Forte wieder nicht. Mir passieren auch oft Sachen, das ist unglaublich.“ Seine Musiker reagieren mit spontaner Heiterkeit, um im nächsten Moment sogleich wieder konzentriert seinem Taktschlag zu Wolfgang Amadeus Mozarts Es-Dur Symphonie zu folgen.

Suitner gibt nicht den allwissenden Maestro. Eine natürliche Autorität, die ohne autoritäres Gebaren auskommt und taktvoll ans Pult und durchs Leben geht. Ein Professor, der von seinen mehr als 1000 Studenten, die er an der Wiener Musikhochschule begleitet hat, immer auch lernen wollte. Gleich ob sozialistische Musikkritik oder bürgerliches Feuilleton, über den Dirigenten Otmar Suitner erklingt ein selten einstimmiger Chor: nicht selbstisch, keinerlei Allüren, erfrischende Ursprünglichkeit und Herzlichkeit. Über ein Konzert mit den Münchener Philharmonikern schrieb der Münchner Merkur 1982: „Die Philharmoniker waren denn auch frei von jenen kleinen Nervositäten, von denen sie in Celibidache-Konzerten gelegentlich mal geplagt werden.“

Bei aller Wahrung der Tradition hat Suitner nie den Bezug zur Gegenwart verloren. Legendär war seine Zusammenarbeit mit Paul Dessau, dessen Opern „Puntila“, „Einstein“ sowie „Leonce und Lena“ zwischen 1966 und 1979 unter Suitner zur Uraufführung gelangten. Kein leichtes Unterfangen. Denn neben der musikalischen Herausforderung, welche die Kompositionen für die Hörgewohnheiten des Publikums darstellten, war selbst der Sozialist Dessau den SED-Hardlinern suspekt.
Doch Suitner trat für den hochgeschätzten Paul Dessau ebenso beharrlich ein wie für Hans Pfitzner; mithin zwei Komponisten, deren politische Weltsicht konträrer kaum sein könnte. Pfitzner war aufgrund seines Konservatismus und seiner deutschnationalen Haltung nicht nur in der DDR umstritten. Schon Richard Strauss und Pfitzner bildeten ein Kapitel für sich: Letzterer polemisierte gegen die „Futuristengefahr“, und Strauss konterte mit einer abschätzigen Glosse auf Pfitzners „Palestrina“. Derartiger Fehden ungeachtet, führte Suitner die kunstphilosophische Legende „Palestrina“ an der Staatsoper auf. Die Beharrlichkeit des Dirigenten in solchen Dingen wird an dem Fakt augenscheinlich, dass Suitner bereits 1979 die konzertante Aufführung leitete, die szenische Premiere hingegen bis 1983 warten musste.

Nachhaltig ebenfalls Suitners Engagement für Ruth Berghaus. Zunächst hatten ihn konzeptionelle Überlegungen auf die Theater-Regisseurin aufmerksam gemacht. Die Staatskapelle war unter Suitner zwar gleichsam aus Ruinen auferstanden, denn fast 200 Musiker der Lindenoper waren im Zuge des Mauerbaus in den Westen gegangen; doch dem wiedererlangten Klang und Glanz des Orchesters standen hauseigene Regisseure gegenüber, die sich bestenfalls im blassen Mittelfeld bewegten. Außerdem reüssierte die nahe gelegene Komische Oper mit Walter Felsensteins realistischem Musiktheater.
„Der Felsenstein war schon eine enorme Konkurrenz. Darum habe ich überlegt, wen man als Regisseur holen kann, um dem etwas entgegenzusetzen. Ich hatte damals eine Inszenierung von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble gesehen, Berthold Brechts Coriolan. Das war großartig! Die Berghaus hatte ja ursprünglich Tanz bei Gret Palucca studiert, das hat man der Inszenierung angemerkt. Das war sehr musikalisch. Da bin ich zur Helene Weigel gegangen und habe gefragt, ob die Ruth Berghaus einmal bei mir an der Staatsoper etwas inszenieren darf. Und die Weigel hat gesagt: Natürlich, wenn sie will.

Ruth Berghaus wollte. Insgesamt neun Opern brachten sie gemeinsam auf die Bühne, darunter Dessaus „Puntila“, den Felsenstein zuvor als unspielbar abgelehnt hatte, sowie „Einstein“ und „Leonce und Lena“. Waren die zeitgenössischen Opern noch leidlich geduldet, so polarisierten gerade die Repertoire-Stücke Publikum wie Rezensenten. „Beim Freischütz mussten wir die Premiere fast abbrechen. Und ein bisschen war das auch meine Schuld. Die Berghaus war unzufrieden mit den Brautjungfern und hatte mich gefragt, was sie mit denen machen könne. Da hab ich ihr vorgeschlagen, sie mit kleinen Marotten zu versehen. In der Szene mit dem Jungfernkranz hat dann eine geschielt, die andere hatte Zuckungen. Das Publikum nahm das sehr übel. Das war ja deutsches Volksliedgut. Und noch später in der Kantine kam es zu Prügeleien.“

Rossinis Barbier von Sevilla, eine Berghaus-Suitner-Produktion von 1968, steht bis heute auf dem Spielplan der Staatsoper. Otmar Suitner musste sein Amt 1990 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aufgeben. Als ich ihn im Krankenhaus besuche, erkundigt er sich, ob der Barbier immer noch gut sei. Er leidet an der parkinsonschen Krankheit. Das Schicksal kann sehr ungerecht sein, finde ich, und Toscas Arie „Vissi d’arte“ kommt mir in den Sinn: „Warum mein Gott und Herr / warum / suchst du mich heim so schwer.“ Ich sage das nicht, und Otmar Suitner verabschiedet mich mit einem Handkuss.

 

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